Читать книгу Gliss. Tödliche Weite - Andreas Eschbach - Страница 4

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Es war meine Großmutter, die mir das Gliss gezeigt hat. Ich war noch klein, in einem Alter, in dem man Kinder vom Gliss fernhält, trotzdem nahm sie mich eines Tages mit hinab zur Anlegestelle.

Wie aufregend! Vom Fenster aus hatte ich schon oft gesehen, wie die Glisser anlegten, um etwas abzuladen oder mitzunehmen, aber dies war das erste Mal, dass ich das Gliss aus der Nähe sah. Staunend stand ich vor dem Band, das mir ungeheuer breit vorkam, ein Band aus milchig weißem Grau, wie fest gewordener Rauch.

Wir waren allein, die anderen waren alle bei der Arbeit am Wasserloch. Auch der Glisspfad lag leer und verlassen da. Großmutter ließ sich an seinem Rand nieder, mühsam, denn sie war eine alte Frau, und ich hockte mich erwartungsvoll neben sie. »Fass es an!«, sagte sie, während sie es selbst berührte, und so beugte ich mich vor und patschte mit beiden Händen darauf.

Ich weiß noch, dass ich erschrak, weil es sich so glatt anfühlte. Es war, als könnten meine Hände davonsausen, wenn ich nicht aufpasste. Das Gliss war rutschiger als die Steinplatte in unserer Küche, wenn Mutter sie einölte, um Ölkuchen zu machen, und irgendwann rief: »Ajit, bei allen Sternen, nimm die Hände da weg, das wollen wir essen!« Ja, das Gliss war sogar rutschiger als die Seife, die ich manchmal durch die nasse Waschwanne sausen ließ, sobald das Wasser abgelassen war.

Bis auf den heutigen Tag gruselt es mich, Gliss anzufassen. Berührt man es überhaupt je wirklich? Die Hand scheint immer eine Winzigkeit darüber zu bleiben, egal, wie stark man drückt. Vielleicht kann man deshalb auch nicht sagen, ob es kalt oder warm ist; irgendwie ist es keins von beidem.

»Das Gliss bedeckt fast unseren gesamten Planeten, und es ist rutschiger als alles, was wir kennen«, erklärte mir Großmutter. »Daher der Name. Tatsächlich gibt es auf Gliss überhaupt keine Reibung. Wir wissen nicht, wie so etwas möglich ist, aber wir wissen, dass es so ist. Man kann es messen.«

Ich verstand damals nicht, was sie damit meinte und wieso sie es so nachdenklich sagte. Dass das Gliss das große Wunder unserer Welt ist, habe ich erst später begriffen.

»Pass auf, Ajit.« Sie setzte einen Stein auf das Gliss und gab ihm einen Schubs in Richtung der Brücke. Die Brücke ist eigentlich eine Barriere, weil wir die letzte Siedlung im Feuchten Land sind; sie verhindert, dass ein Glisser versehentlich hinaus in die Weite gerät. Aber unter ihr ist freier Raum, und dort rutschte der Stein hindurch, ohne langsamer zu werden.

Ich sprang auf, weil ich sehen wollte, was weiter geschah. Großmutter folgte mir, bedächtig, denn sie lebte damals schon in ihrem neunten Quart. Als wir von der Brücke aus dem davongleitenden Stein nachsahen, sagte sie: »Er wird weiterrutschen, bis er auf ein Hindernis trifft. Und wer weiß, wann das passiert? Dort hinten beginnt die Weite, und wir wissen nicht, ob es da draußen noch einmal Land wie das unsere gibt. Gut möglich, dass der Stein den ganzen Planeten umrundet und am Ende auf der anderen Seite ankommt, in Ostheim womöglich.« Sie deutete dabei hinter sich, in die Richtung, der wir den Rücken zukehrten.

»Auch!«, rief ich und wollte ebenfalls einen Stein auf die Reise schicken.

Aber Großmutter hatte anderes mit mir vor.

»Ich zeig dir was«, sagte sie. Wir gingen zurück zur Anlegestelle. Dort steckte sie mir einen dicken Stein in die Tasche, holte von irgendwoher eine lange Stange – dort liegen immer einige Stakstangen, falls die Glisseure Ersatz brauchen –, hielt mir ein Ende hin und befahl: »Halt dich fest.«

Gewohnt, ihr zu gehorchen, tat ich es, und im nächsten Moment schob sie mich hinaus auf das Gliss. Nicht weit, drei, vier Schritte, die halbe Länge einer Stakstange, aber mir kam es schrecklich weit vor. »Jetzt lass los«, sagte sie, und als ich das trotz meiner Angst tat, war das Erste, dass ich ausrutschte und hinfiel.

»Jetzt komm zu mir!« Großmutter breitete lockend die Arme aus, aber an Laufen war nicht zu denken. Ich schaffte es nicht einmal, mich aufzusetzen. Also versuchte ich zu krabbeln, doch auch das klappte nicht. Immer wieder rutschte ich aus und fiel hin. Schließlich verlegte ich mich aufs Robben, aber ganz gleich, was ich machte, ich kam nicht vom Fleck. Ich strampelte, ruderte, versuchte, die Finger ins Gliss zu krallen, doch ich bewegte mich kein bisschen. Panische Angst erfüllte mich, hier draußen bleiben zu müssen, kaum vier Schritte von meiner Großmutter entfernt, und Tränen liefen mir über die Wangen.

»Ajit!«, rief Großmutter.

Ich strampelte und schluchzte, und hätte ich einen Ton herausgebracht, ich hätte um Hilfe geschrien. So klein ich auch war, verstand ich doch, dass ich nicht von der Stelle kam, weil das Gliss so rutschig war. Und ich verstand nicht, warum Großmutter mir nicht einfach wieder den Stock hinhielt, mit dem sie mich ins Verderben geschoben hatte.

»Ajit«, rief sie wieder. »Hör mir zu. Ich hab dir einen Stein in die Tasche gesteckt, erinnerst du dich?«

Meine Hand schlug wie von selbst auf die Hose, dorthin, wo ich den Stein spürte. »Ja-ha-ha«, schluchzte ich.

»Hol ihn heraus, und wirf ihn dort hinüber!« Sie deutete auf die gegenüberliegende Seite des Glisspfads, wo das Braungras hochstand.

Ich verstand nicht, was das sollte, folgte aber Großmutters Anweisung. Ich warf den Stein mit all meiner verzweifelten Kraft – und etwas Wundersames geschah: Ich bewegte mich! Ohne jede weitere Anstrengung glitt ich in die entgegengesetzte Richtung davon, auf Großmutter zu und vor allem zum Rand des entsetzlichen Glisspfads.

Ich hielt den Atem an, wagte nicht, mich zu rühren, bis ich endlich den Boden erreichte, auf dem man laufen konnte. Großmutter nahm mich hoch und trocknete meine Tränen ab.

Jeder andere Erwachsene hätte mir wahrscheinlich einen Vortrag gehalten, dass ich nun gesehen hätte, wie gefährlich das Gliss sei und dass ich mich davon fernhalten solle, bis ich groß genug war, um den Umgang damit zu erlernen. Doch Großmutter tat nichts dergleichen. Sie kannte mich und wusste, dass ich das alles längst verstanden hatte.

Stattdessen erklärte sie mir: »Als du den Stein mit aller Kraft von dir weggeschleudert hast, hat dieselbe Kraft auch auf dich eingewirkt. In der Physik sagt man, dass du damit einen Impuls auf dich ausgeübt hast, der genauso groß war wie der Impuls, den du auf den Stein ausgeübt hast. Das nennt man das Raketenprinzip. Mit seiner Hilfe sind unsere Vorfahren einst auf diese Welt gelangt.«

Gliss. Tödliche Weite

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