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2. Schreibsituationen
ОглавлениеReisen und Schreiben
Reisen und Schreiben haben zunächst nichts miteinander zu tun: man kann reisen ohne zu schreiben und umgekehrt. Allerdings wird kaum eine Reise wort- oder sprachlos unternommen, von den Plänen, Hoffnungen und Befürchtungen vor der Abfahrt über die verschiedenen Kommunikationsformen unterwegs bis hin zur Reflexion des Erlebten nach der Rückkehr kann eine Bewegung im Raum vielfältige verbale Entsprechungen annehmen, die – zum Glück für die historische Forschung – dann auch medial fixiert bzw. tradiert werden. In der unüberschaubaren Fülle der Überlieferung muss die Wissenschaft dann aber im Blick auf ihre praktische Arbeit für eine systematische Orientierung sorgen und unter dem weitem Oberbegriff der Reiseliteratur definitorische Klärungen vornehmen, um sich über das heterogene Material verständigen zu können.
Stichwort
Reiseliteratur
Reiseliteratur darf zunächst als der größtmögliche Sammelbegriff für eine Gruppe von durchaus heterogenen Texten gelten. Diese jedoch weisen zumindest ein gemeinsames Merkmal auf: sie stehen jeweils in Verbindung mit der faktisch erlebten bzw. potentiell noch zu erlebenden Bewegung eines Subjekts im realen Raum, sei es als deren Vorwegnahme (= Reise-Instruktion), sei es als deren nachträgliche Repräsentanz (= Reisebericht). Damit sind diese Texte immer ein Resultat aus der Verknüpfung zweier Sphären: der empirisch wahrzunehmenden außertextlichen Realität und deren intentionaler Vor- bzw. subjektiver Nach-Formung in einem verbalen (oder teilweise visuell veranschaulichenden) Konstrukt.
Fiktive oder fingierte Reisen (etwa Abenteurer- oder Bildungsroman, Lügengeschichten, Utopien, Visionen, Selbsterfahrungen als „Reise ins Ich“, Lehnstuhlreisen, Couchsurfing und Reisen nach „Balkonien“ etc.) entziehen sich daher unserem Gegenstandsbereich. Konstitutiv bleibt die physische Relation zur real erfahrbaren und tatsächlich erfahrenen Welt. Das gilt auch umgekehrt: die authentischen Räume werden durch die Texte „erfahrbar“, also in ihrer Substanz und Ausdehnung für die Sinne wie für den Intellekt erst erkennbar.
Weltbezug
Reiseliteratur umfasst damit nicht nur weit mehr als etwa den nachträglichen „Reisebericht“ (über eine bestimmte Reise), sondern steht in bestimmter Weise sogar prototypisch für die Funktion von Literatur überhaupt: für das Vermögen, eine reflexive Wechselbeziehung zwischen Welt und Wort herzustellen, zwischen Erfahrung und Sprache, zwischen Autopsie und begrifflichem Substitut (Vertextung der Welt, Görbert 2014). Umgekehrt avanciert dann jeder Rezeptionsakt eines Reiseberichts auch zum interpretatorischen Nachvollzug einer Welt in Worten, der den Leser befähigt, eine eigene Interpretation des objektiven Raumes zu unternehmen.
Schreibsituationen
Eine solche, zunächst durchaus abstrakt anmutende, da ganz auf das Wesentliche beschränkte Definition gilt es nun zu veranschaulichen. Dies soll anhand einer ganz praktischen Frage geschehen: Wo liegt der Umschlagpunkt zwischen Welt und Text, d.h. zu welchem Zeitpunkt führt ein Autor diese Transformation durch, wann bildet er die konkrete Reise prospektiv oder retrospektiv in verbaler Entsprechung ab? Damit richtet sich das Augenmerk zunächst auf die besondere Schreibsituation als dem jeweiligen Bedingungsfaktor für die Textentstehung bzw. Textgestalt. Mit der variierenden Textgestalt aber bieten sich dann gleichzeitig auch bereits erste Möglichkeiten einer Klassifizierung der anstehenden Textmassen. Die aus der Praxis gewonnenen Kriterien können schon für eine Bestimmung verschiedener Untergruppen der Großgattung „Reiseliteratur“ dienen. Schreib- bzw. Reflexionssituationen können im lange ausgedehnten Vorfeld einer Reise mit einem auf Zukünftigkeit gerichteten Charakter liegen, dann aber auch beim unmittelbaren Antritt oder Aufbruch mit deutlich gegenwärtigem Charakter, zudem natürlich während der tatsächlichen Durchführung einer Unternehmung. Schließlich aber vollzieht sich der Schreib- bzw. Reflexionsvorgang im Modus der Rückschau bei der Ankunft bzw. Rückkehr und damit definitiv nach dem Abschluss einer Reise.