Читать книгу Die Zeit, in der die Welt aussetzte - Andreas M. Riegler - Страница 11
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Die Sonne schleicht sich langsam in die Dunkelheit ein und lässt einen neuen Tag anbrechen. Der Nebel wird vom Winde vertragen und der eiskalte Tau rollt den Blättern hinab. Ein neuer Tag für uns zwei. Die Sonnenstrahlen scheinen durch die Äste auf uns herab. Sie sehen aus wie Engelsstrahlen. Als würde Gott mir sich offenbaren. Als würde er mir zeigen, dass meine Gebete erhört wurden. Sie scheinen hell in ihr Gesicht, auf ihre Lider. Sie sieht aus wie ein Engel mit goldenem Haar, der von ihrem Vater geweckt wird.
Die warme Sonne holt sie sanft aus ihrem Schlaf. Langsam bewegen sich ihre Augenlider, nach Stunden. Sie öffnet ihre Augen und sie sehen mich erschrocken an. Als wäre das Geschehene alles nur ein Traum gewesen. Sie hebt ihren Kopf an und blickt sich um. Ihre Haare legt sie mit ihrem Finger hinter ihr Ohr.
Ich merke, wie sich meine Beine langsam wieder durchbluten und das taube Gefühl verschwindet. Die Müdigkeit macht sich bemerkbar.
Jetzt wäre doch der richtige Zeitpunkt, noch einmal in das Dorf zurückzukehren. Auf der anderen Seite scheint es ruhig zu sein. Doch soll ich sie alleine lassen? Ratlos blicke ich um mich. Wie sollte ich es ihr nur erklären. Nach kurzem Überlegen greife ich in meine Brusttasche. Der Block, der für Funksprüche gedacht war. Ich zeichne für sie. Ich zeichne ihr meinen Plan.
Ich zeige es ihr und sie sieht mich schon wieder mit ihren erschrockenen, großen und nassen Augen an. Ihr scheint der Plan wohl nicht bekommen zu sein. Ich greife nach dem Stahlhelm. Ich spüre ihre Blicke. Sie hat Angst. Sie will nicht alleine gelassen werden. „No!“, sagt sie mit befehlendem Ton und greift zu meinem Helm. Ich sollte ihn wohl wieder auf den Waldboden legen und ihn für immer liegen lassen. Doch ich muss mich umsehen, dort. Ich lege meine Arme über ihre und drücke zu. Ich drücke sie an mich.
Noch einmal höre ich sie mit piepsender Stimme sagen: „No!“ Nun war es eher eine Bitte. Ein Wunsch. Doch ich muss noch einmal in das Dorf. Ich löse mich von ihr und gehe. Noch vor der ersten Baumreihe, drehe ich mich um und blicke zu ihr zurück. Sie steht so hilflos im Wald. Wie sie mich ansieht, zwischen den Bäumen und dem Laub. Wie sie dort steht, wartend auf mich, ein zartes Leben. Besorgt ist ihr Blick. Ihre Brüste lassen sich durch das dünne Nachthemd erkennen, doch beschämt hält sie sich die grüngraue Uniformjacke vor. Hartherzig wende ich meinen Blick von ihr und hetze in Richtung des Dorfes, ohne mich noch einmal zu ihr umzudrehen. Selbst wenn ich sterbe, weiß ich nun, ich kann mein Herz niemals verlieren, denn ich hab es ihr gegeben.
Hin und wieder lege ich mich auf den Bauch und beobachte. Doch ich erkenne keine Seele dort. Als wäre alles ausgestorben. Vorsichtig nähere ich mich ihrem Haus. Obwohl niemand am Wege geht und alles den Anschein einer Geisterstadt macht, verstecke ich mich dennoch. Am nebelfeuchten Wege kann man noch die Reifenspuren und die vielen Abdrücke der Stiefel erkennen. Sie müssen weitergezogen sein. Schnell husche ich zu ihrer Türe. Sie steht offen. Langsam setze ich den linken Stiefel auf die knarrende Stufe und lausche. Ich höre mein eigenes Blut pumpen und den Wind in das Haus fahren. Alles still. Nun gehe ich angespannt die Treppe empor. Bei jeder Stufe lassen meine schweren Stiefel ein dumpfes Geräusch und hin und wieder ein Knarren des Holzes ertönen. Wird er noch da liegen, der Mann mit seiner gräulichen Uniform? Schon sehe ich einen Stiefel. Ganz entstellt liegt er da, der Herr Offizier. Wie war er wohl als Mensch? Ich würde gerne wissen, was ich angerichtet habe. Welche Kinderaugen habe ich zum Weinen gebracht und wer sehnt sich nun vergebens nach seinen Augen, die mich so leer ansehen. Ich knie mich neben ihn und entdecke das lange Messer in seiner Nähe. Was war seine Absicht? Die Starre hat ihn schon ergriffen. Doch ich will seinen Namen kennen, so drehe ich ihn um. Seinen Orden trägt er noch immer stolz an seiner Brust. Für ihn hat das Leid ein Ende. Er ist nur eines von vielen Opfern, die den Krieg erst zum Kriege machen. Nur einer von vielen Blicken, die mich leer ansehen. Nur eine von vielen Narben, die sich in mein Herz einbrennen und mich langsam verfallen lassen. Nur einer von vielen Namen.
Mit schwerem Herzen erhebe ich mich wieder und gehe in Richtung des Zimmers mit dem Bett. Ich stehe in der Türe und lausche dem leisen Rauschen des Windes und der Totenstille. Nur noch ein kurzer Blick nach hinten. Er sieht mit seiner Hand, die in meine Richtung zeigt, so aus, als wolle er mich in alle Ewigkeit verfluchen. Doch nun suche ich das Kleid. Hier hängt es, über dem Sessel. Ganz geschlichtet und brav hängt es wartend. Dieses zierliche Kleid, für sie. Sicher wartet sie jetzt auf mich im Wald und hat große Angst.
Schnell blicke ich aus dem Fenster. Ich sehe keinen. Doch zur Tarnung werde ich eines tun müssen. Ich werde seine Uniform anziehen. Nur wohin mit meinem Hab und Gut? Wohin mit meiner? Hektisch kleide ich ihn aus. Ihm ist es nun nicht mehr kalt. Er ist jetzt woanders. Dort, wo Frieden herrscht. Den gönne ich ihm. Geschwind schlüpfe ich in die Socken und in die Uniform. Noch schnell den Gürtel mit der Pistole und der Flasche angelegt. Die Stiefel nehme ich für sie mit. Ich schäme mich, diese Kleider zu tragen. Ich bin ihnen doch nicht würdig. Hier liegt er nackt vor mir. Ordentlich falte ich meine Kleider und lege sie nieder. Jetzt heißt es Abschied nehmen.
Lebe wohl mein treuer Adler, sei verdammt! Dein Leuchten und dein Stolz werden mit der Zeit vergehen, doch bewahre immer unsere Geschichte in dir. Das Kreuz wird sündhaft bleiben, auch noch nach einer Ewigkeit. So überzeugend sollst du bleiben, in Ewigkeit verdammt. Erzähle meine Geschichte. Hier trennen sich unsere Wege. Jetzt bist du frei! Fliege fort, doch nicht empor, dort hast du’s nicht verdient. Ein letztes Mal salutiere ich vor meiner Uniform. Der Schmutz des Grabens klebt noch daran. Auch das schwarzgefärbte Blut ist noch zu sehen, auch wenn ich nicht weiß, ob es meines oder das des Kameraden ist. So ist es aus mit dieser Seite.
Der Flur wurde zur Ruhestätte. Ich gehe nun. Die Treppen steige ich mit meinen Stiefeln hinab. Wieder stehe ich am Wege. Ich bin alleine. Wo sind nur alle Menschen hin? Etwas muss ich noch erledigen, bevor ich gehe. Etwas bin ich ihnen noch schuldig. Ich gehe achtsam zum Heuhaufen. Sie liegen noch dort. Meine tapferen Kameraden. Schützengraben und Granaten haben sie überstanden. Und dann wurden sie im Halbschlaf erschossen. Sie hatten keine Chance. Hat das denn auch Gott so gewollt? War das die Rache für ihre Taten? Sie sehen mit leerem Blick in den Himmel. Als ob sie mir zeigen möchten, wo sie aufgefahren sind und sie ihren Frieden fanden. Das Blut hat das Heu gefärbt. Wie soll ich ihnen denn die letzte Ehre erweisen? Die Briefe nehme ich aus ihren Brusttaschen. Sie werden ihre Eltern erreichen. Das ist wohl der letzte Wunsch jedes Soldaten. Sie sollen in Frieden ruhen. Ein letztes Salutieren vor den Toten. Doch jetzt fort von diesem Schreckensort. Unser Panzer steht noch da und die Fahne tanzt im Winde, als wollte sie zur Schlacht ausrufen, ohne einen einzigen, sie wurden Opfer ihrer Rufe. Wie lange er noch hier stehen wird? Soll er über die Toten wachen, doch ich muss hier fort.
Viel zu lange habe ich mich jetzt hier aufgehalten. Ich spüre das Rufen meiner Luna. Es ist die Seele, die nach meiner ruft. Schnell eile ich zu ihr. Geschwind über das Feld. Ich sehe die Baumreihe schon. Da steht sie zwischen den Bäumen mit ihrem weißen Kleid. Sie blickt mich still und wartend an. Als wäre sie ein Geist. Als wolle sie mich holen für die Ewigkeit. Als gäbe es keine Furcht und Grausamkeit auf dieser Welt. Ich laufe zu ihr. Ein paar Schritte vor mir steht sie wie angewurzelt, den Blick zu mir, voll Furcht, als wär ich blutüberströmt. Die Uniform ist es doch. Ich bin bei ihr. Ihr Schrecken legt sich, als sie mein Gesicht erkennt und ihre ängstlichen Augen werden groß. Sie hat mich doch vermisst und sich um mich gesorgt, das spüre ich. Sie hatte wohl einen kurzen Moment an das Schlimmste gedacht. Doch ich bin es, meine Liebste!
Ungläubig greift sie mir auf die Wange mit ihrer zarten Hand. Ich fühle die Zärtlichkeit an meiner Haut. Schweigend weiß ich nun, dass der Moment gekommen ist. Ich komme näher. Das Rot ihrer Lippen hat mich eingeladen und verführt. Einen Spalt öffnet sie ihren Mund. Meine rauen berühren ihre zärtlichen. Sie dankt mir. Wild umarme ich sie, sodass sich ein Stiefel aus meiner Hand löst und auf den Waldboden fällt. Voller Hingabe legt sie ihre Arme über meinen Hals. Wir machen es mit Zärtlichkeit. Zur gleichen Zeit haben wir beide genug und blicken uns nur erregt an. Aus Schüchternheit und Ratlosigkeit zeige ich ihr das Kleid. Sie sagt zu mir mit nickendem Kopf: „Grazie!“
Schnell hebe ich den einen schwarzen Stiefel auf und reiche ihr beide. Sie löst einen Träger ihres Nachthemdes von ihrer Schulter und sieht mich erwartungsvoll und doch fordernd an.
Höflich drehe ich mich um, stütze meine Hände in die Hüfte und blicke in die Ferne zu den Dächern, wachend über uns.
Ruht, meine Kameraden! Ruhet in Frieden!
Sollen sie mich nicht als Versager sehen, wenn sie herabblicken. Ich lasse sie doch nicht im Stich, doch Gott hat mir die Chance gegeben. Bitte versteht mich!
Leise werde ich von hinten gerufen. Ich beuge meinen Kopf zur Seite und drehe mich um. Da steht sie. Wunderschön! Das Kleid stimmt mit ihrer zurückhaltenden, zierlichen Seele überein. Das ist sie.
Dieses Blau und Weiß sieht aus wie eine weiße Taube, die den Frieden uns bringen soll. Lächeln muss ich, denn die großen Soldatenstiefel sehen an ihr ergötzlich aus.
Doch warum ist sie so zurückhaltend? Habe ich ihr denn etwas getan? War das denn etwas zu voreilig?
„Miei genitori! Papà? Mamma?“, ertönt ihre Stimme mit schwerem Herzen.
Ich zucke unwissend mit der Achsel. Enttäuscht ist sie, mein Herz wird schwer. Hat sie denn etwa nicht auf mich, sondern auf ihre Eltern gehofft?
Hier können wir nicht länger bleiben. Gehen wir! Langsam marschiere ich in Richtung des Waldes, doch sie bleibt stehen. Ich blicke über meine linke Schulter zu ihr. Sie hat verstanden, doch sehr recht ist es ihr nicht. Sie will ihr Elternhaus nicht zurücklassen. Doch wir alle müssen Opfer bringen in diesem Krieg. Ohne es zu versuchen, sich dem Soldaten in der Offiziersuniform zu widersetzen, geht sie schließlich mit mir. Mit ihren Stiefeln, die auf ihren Füßen viel zu schwer sind, stapft sie trotzig durch das Laub. Doch traurig ist sie allemal.