Читать книгу Die Zeit, in der die Welt aussetzte - Andreas M. Riegler - Страница 9

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4.

Plötzlich werde ich schreckhaft wach. Irgendetwas scheint ganz und gar nicht in Ordnung zu sein. Oder liege ich etwa falsch? Wer geht denn da? Wer redet denn da? Ich habe das Gefühl, dass es nicht unsere sind. Die Stimmen und Wörter hören sich fremd an.

Wollen wir jetzt etwa früher aufbrechen?

Anscheinend wurde uns eine andere Kompanie geschickt. Verwirrt und noch halb im Traumland versunken, blicke ich durch die Laufrollen, die die schweren Ketten halten und sehe Schatten im dichten Nebel.

Mit schlechtem Italienisch höre ich Rudolf aus meiner Kompanie sagen: „Ah Kameraden! I nostri compagni!“ Doch der fremde Schatten legt sein Gewehr an und sagt: „We are not your companions!” Es sind nicht die Italiener. Es sind unsere Feinde, unser schlimmster Albtraum.

Rudolf ruft laut auf und dann kommt auch schon der Schuss. Und der zweite. Und der dritte. Ich schrecke bei jedem auf. Mein Herz fängt an fest zu schlagen.

Einer nach dem anderen. Sie hallen nach, so laut sind sie. Sie klingen, wie das Verderben selbst. Sie haben alle ein Echo. Es ist ein Massaker. Nun sind wir alle verloren. Nun haben sie uns überrascht. Jeder, der kommt, wird erschossen. Alle liegen wehrlos am Rücken und zeigen ihnen die Handflächen und ergeben sich. Doch es gibt für sie kein Erbarmen. Nun werden unsere Taten bestraft.

Noch nie habe ich um mein Leben mehr gefürchtet. Ich zittere am ganzen Leibe. Ich friere. So wehrlos liege ich da und sehe meinen Kameraden beim Sterben zu. Ganz ohne Wehr, als wäre es ein böser Traum.

Ich muss hier weg! Schnell springe ich auf, doch dann ist es schon geschehen. Der Stahlhelm und der Panzer stießen zusammen und so werde ich nun auch verenden. Schnell krieche ich unter dem Panzer hervor und versuche mich im dichten Nebel zu verstecken. Kriechend versuche ich zu flüchten, doch sie haben mich entdeckt. Ich höre die Schüsse und sehe die Gewehre aufblitzen. Jeden Moment müssen sie mich treffen. Doch ich bin noch ganz. Jede Sekunde ist es so weit. Wann prallt die Kugel in mein Fleisch? Plötzlich sehe ich das schöne Mädchen in meinen Gedanken. Ich muss sie holen! Für sie bin ich da. Sie kann ich noch retten. Ich muss sie warnen! Nun laufe ich so schnell ich kann. Ich muss sie retten! Ich muss hier weg!

Ich habe in der Hektik der Flucht die Orientierung verloren. Meine Hand zittert und der Herzschlag pocht mir in den Ohren. Wo bin ich nur? Alles sieht so anders aus. Ich höre sie, die anderen. Sie kommen und durchsuchen alle Häuser. Doch wo ist das der Schönen? Ich laufe zur Türe des ersten, zur Fassade des zweiten, ich finde es nicht. Doch jetzt! Dieses Haus kommt mir bekannt vor. Noch eines oder nein, zwei weitere und dann bin ich bei ihr.

Wie viele sind es? Sie hasten zu mir. Sie sind dicht hinter mir. Es muss eine ganze Armee sein. Ich höre Pferde traben und das Zaumzeug klirren. Ich höre den Klang von Kutschen und das Bellen von Hunden.

Ich sehe ein. Sie sind nur ein paar Meter hinter mir. Ich muss mich verstecken. Hier, bei dem Busch. Schnell hüpfe ich dahinter. Nein, hier sieht man mich. Bleibt mir noch Zeit? Ich hüpfe über einen Zaun und lege mich auf den kleinen Acker, zwischen Kürbissen und Salat und warte ab. Ich habe kaum noch Hoffnung. Ich höre nur mehr das Aufbrechen der Türen und das Rufen der Soldaten. Sie eilen an mir vorbei. Alle hetzen sie. Es sind unsere Feinde. Die, denen man nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen gegenüberstehen möchte. Was war geschehen? Wie konnten sie uns so überstürzen?

Jetzt ist es Zeit. Ich hüpfe wieder auf den Weg und gehe wie einer von ihnen auf das Haus des Mädchens zu. Immer wieder blicke ich zurück, doch meine Uniform erscheint unter dem Mondlicht wie eine der ihren. Mit hastigem Schritt trete ich voran. Die Türe steht offen. Ich höre jemanden auf der Treppe laut aufrufen. So schnell ich kann, laufe ich die Stiegen hoch. Dann sehe ich ihn vor mir. Es ist ein Soldat. Groß ist er. Ich stürme zu ihm die Stiege hinauf, lege meinen Arm um seinen Hals und drücke zu, so fest ich kann. Er soll sterben. Hat er ihr etwas angetan? Schreckliche Geräusche sind es, die er von sich gibt. Sollte ich etwa loslassen? Doch ich bleibe stark. Ich spüre, dass er aufgibt. Ich spüre, dass er schwächer wird und dann fühle ich die Leere in meinem Arm. Es ist leise. Er macht nichts mehr. Er ist tot. In der Stille des Todes erhebe ich mich. Nur die Rufe der Soldaten, die an dem Haus vorbeilaufen, nur ihre schweren Schritte und der kalte Hauch des Todes. Es scheint mir, wie ein Traum zu sein. Wie ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachen kann. So verschlafen und unwirklich. So dunkel und düster. Langsam schreite ich den langen Flur entlang, der mit schönem Kirschholz ausgekleidet ist. Ich öffne die erste Türe und blicke hinein, doch da ist sie nicht. Auch nach der dritten habe ich sie nicht gefunden. Wo ist sie denn? Ein leeres Himmelbett steht im letzten Zimmer und plötzlich ist ein leises Schluchzen zu hören. So hilflos und verzagt. Sie muss sich darunter verstecken, das arme Mädchen. Ich muss zu ihr.

Mit ruhigem Schritt nähere ich mich dem Bett. Ein schönes Bett ist es, worin dieses wunderschöne Mädchen ruht.

Ich lege mich auf den Boden. Es ist dunkel da unten, doch ich kann sie weinen hören. Ich spüre sie in mir. Ich spüre ihre Nähe in meinem Herzen. Bei jedem Schluchzer schluchzt mein Herz mit.

Ich strecke meine Hand aus, doch sie versteckt sich und fürchtet das Schlimmste. Leise sage ich: „Hallo, Luna! Luna! Keine Angst!“

Sie versteht wahrscheinlich nur ihren Namen. Langsam schiebt sich ihre Hand von ihrem Gesicht und ich sehe ihre Augen wieder. Sie weint. Eine einsame Träne rinnt ihre Wange hinab, bis sie am Boden zerschellt. Ich sehe sie an.

Da verstummt ihr Schluchzen. Ganz aufmerksam ist sie, aus Angst und wohl aus Hoffnung. Ihre Augen und ihre Lider sind rot angelaufen. Ihre Haare zerzaust. Wie schön sie doch ist. Ich muss sie retten. Ratlos liege ich nun da und sehe ihrer Verzweiflung zu, die mich erstarren lässt. Langsam schiebe ich mich unter das Bett, zu ihr. Nun liege ich an ihrer Seite. Ich spüre die Wärme und ihren Atem. Ich fühle sie und rieche sie. Doch ich spüre auch ihre Ratlosigkeit und Verwirrung. Ich spüre, dass ihr kalt ist. Schnell ziehe ich meine Jacke aus und versuche ihr diese unter dem Bettrost überzulegen. Ich sehe das Hakenkreuz mit dem Adler, das am Ärmel aufgenäht ist. Immer stärker kann ich sie riechen.

Ich fühle nach ihrer Hand. Sie ist warm, so warm. Fast schäme ich mich für die Kälte meiner. Sie sieht mich an. Das Wasser in den Augen glänzt. Am liebsten würde ich sie küssen. Doch die Trauer in mir und die Hilflosigkeit ist zu groß. Ich flüstere zu ihr: „Du musst mir vertrauen!“, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht verstehen kann. Sie flüstert auch etwas, doch ich verstehe nicht. Es hört sich verzweifelt an, fast wie ein Betteln. Ich spüre wieder ihren warmen Atem an meiner Wange. Fester drücke ich ihre Hand. Sie fühlt mich an ihr. Doch wir müssen hier schnell fort. Wir müssen fort von hier!

Langsam schiebe ich mich wieder unter dem Bett hervor. Zuerst ich. Sollen sie mich doch zuerst erwischen. Dann reiche ich ihr meine Hand. Auch sie kommt nun unter dem Bett hervor. Mein Herzschlag fängt nun wieder an, wie wild zu pochen. Nicht nur aus Angst und Ratlosigkeit, sondern auch aus Liebe zu ihr. Wie sie nun steht vor mir, so ganz in weiß, sich aufbäumt zur zarten Gestalt und in Dunkelheit zu leuchten scheint, wie ein Engel, der verloren weint, im Kriege dieser Zeit.

Wir müssen fort von hier! Komm, lass uns gehen! Ich bringe dich in Sicherheit und sei es meine letzte Tat. Langsam und mit zittrigen Beinen richtet sie sich auf. Ich ziehe sie an der Hand und sage: „Komm!“ Schnell läuft sie mir hinterher und lässt sich von mir führen. Sie erschrickt, als wir über den toten Soldaten hinwegspringen. Er liegt so dar, seine Augen geöffnet und sein Mund so hilflos aufgerissen, als wollte er einen Schrei ausstoßen. Seine Hände sind erbarmend und voller Ergebung und Hingabe ausgestreckt.

Wie dieses schöne Mädchen über ihn hinwegspringt, so gefasst und so voller Eile. Wie ihr weißes Nachthemd über ihm erbarmend schwebt. Geschwind die Treppen hinuntergelaufen und dann schnell weg. Alles voller Soldaten. Wie sollen wir nur fort von hier? Ich lehne neben der Türe und warte ab. Unsere Hände sind verschwitzt. Sie sieht so schön aus. So ratlos. Mit ihrem Dunkelblond und dem Nachthemd.

Ruckartig ziehe ich ihre Hand. Es ist Zeit. Schnell laufen wir in Richtung des Ackers, an dessen Ende ein Wald liegt. Vor dem Weg machen wir halt. Es sind zu viele. Suchend blicke ich um mich und mache eine Pferdekutsche aus, hinter der wir uns verstecken. Die zweite Hand lege ich auf das Rad des Wagens und spähe an ihm vorbei. Das Feld sehe ich schon, doch es ist zu gefährlich. Wie soll ich sie nur retten?

Wenn sie eine Kugel trifft, möchte auch ich getroffen werden. Ich möchte sie in den Himmel begleiten. Sie würde mir das Fliegen lehren. Da bemerke ich, dass ich ihre Hand vor lauter Aufregung viel zu fest halte. Mein Blick wandert von den Händen in ihr Gesicht. Ängstlich und schmerzerfüllt sieht sie mich an. Sie sieht mir tief in die Augen. Ich lasse ihre Hand los und wende meinen Blick in Richtung des Ackers. Nun liegt es in meiner Hand. Nur noch auf den richtigen Zeitpunkt abwarten. Und da ist er gekommen. Wir legen unser Leben in die Hände des Schicksals und laufen los. Mit einem Ruck führe ich sie im Laufschritt in Richtung des Feldes. „Schnell! Lauf schon!“ Schützend laufe ich hinter ihr. Ohne Schuhe eilt sie über die Wiese in den gepflügten Acker. Doch sie haben uns entdeckt. Sie kommen und laufen uns hinterher. Schüsse sind zu hören. Sie stolpert und stützt sich an mir ab. Ihre Hand klammert sich an meiner Schulter fest. Sie kann nicht mehr. In ihrem Haar hat sich ein verwelktes Blatt verfangen. Sie sieht mich hilflos und erbarmungsvoll an, als wäre alles aus. Als könnte ich etwas dafür. Schnell hebe ich sie auf und trage sie über den unebenen Acker.

Warum schießen sie denn noch? Reicht es ihnen denn nicht schon? Die Munition, die ihr verschwendet, ist doch viel kostbarer, als wir es sind! Lasst uns doch gehen! Warum wollt ihr denn unseren Tod, wenn wir euch doch fürchten und fliehen? Wir sind doch keine Gefahr mehr.

Jetzt sieht uns auch schon keiner mehr. Wir sind im Nebel verschwunden. Ich danke Gott für unser Leben, für sie und für den dichten Nebel, der uns umhüllt und verbirgt und all die Kugeln für uns fing.

Sie stöhnt vor Erschöpfung. Ihre Hand ist kalt. Die Jacke halte ich in der Hand und lege sie ihr wieder um. Mit einer Hand fasse ich ihr an den Rücken, mit der anderen an ihre Beine. Nun trage ich sie wieder. Bleibe tapfer Soldat! Der Wald ist nicht mehr weit.

Erschöpft erreichen wir das Ende des weiten Feldes. Ich setze sie auf einen umgefallenen Baumstamm. Ihre Füße sind blau gefroren und ihre Knie aufgeschürft. Erschöpft und blass blickt sie mich an. Ihre roten Lippen beben. Ratlos sehe ich zu ihr. Ich muss sie wärmen. Ich ziehe meine Socken aus und ziehe sie über ihren bleichen Fuß. Auch mein Hemd lege ich über ihre schönen Beine.

Mit blauen Lippen sieht sie mich an, ohne einmal wegzusehen. Immer in meine Augen hinein. Ihr Haar ist so zerzaust. Ich streiche mit meiner Hand über das Hemd, unter der sich ihre Beine aufwärmen.

Mit zitternder Stimme und stotterndem Ton knie ich vor ihr nieder. Sie sieht zu mir herab. „Luna! Ich heiße …“, gleichzeitig hole ich meine Erkennungsmarke heraus und wiederhole den Satz nochmals: „Ich heiße Theodor!“

Sie sieht mich nur an. Verliebt bin ich in sie. Hat sie denn auch Platz für mich in ihrem Engelsherzen?

Ich setze mich neben sie auf den feuchten, moosbesetzten Baumstamm. Wir beide blicken durch die erste Baumreihe hindurch, in den grauen Nebel, wo die Geräusche herkommen und sich all das Grauen abspielt. Wo das Wiehern der Pferde und das Rufen der Männer zu hören ist.

Was ist geschehen?

Die Zeit, in der die Welt aussetzte

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