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Wie konnte der digital-finanzielle Komplex so mächtig werden?
ОглавлениеEs gibt drei Prozesse, die dem digital-finanziellen Komplex zu seiner historisch einmaligen Sonderstellung verholfen haben: die Finanzialisierung, die Digitalisierung der Wirtschaft und die »Vierte Industrielle Revolution«.
1. Die Finanzialisierung
Die Finanzialisierung hat Mitte der 1970er-Jahre begonnen. Nach dem 25-jährigen Nachkriegsboom geriet das wirtschaftliche Wachstum ins Stocken. Das störte vor allem die Banken, die zuvor etwa ein Vierteljahrhundert lang durch die Vergabe von Krediten immer mächtiger geworden waren. Deshalb drängten sie die Politik, ihnen neue Möglichkeiten des Geldverdienens zu eröffnen. Die Politik gab dem Druck nach und begann, den Finanzsektor durch die fortschreitende Beseitigung einengender Vorschriften zu deregulieren. Wichtigste Meilensteine der Entwicklung waren die Abschaffung des Trennbankensystems61 zunächst in Großbritannien und später in den USA, die Zulassung von Hedgefonds und die Einführung immer großzügigerer Regelungen bei der Zulassung neuer Finanzprodukte.
Die Abschaffung des Trennbankensystems führte dazu, dass das Geschäft der Investmentbanken, die erheblich höhere Risiken als normale Geschäftsbanken eingehen dürfen, explodierte. Außerdem eröffnete die Zulassung von Hedgefonds eine völlig neue Ära des Finanzwesens, denn sie dürfen wie Banken arbeiten, ohne deren Regulierungen zu unterliegen. Da niemand normale Banken daran hindern konnte, eigene Hedgefonds zu gründen und so genau die Geschäfte zu betreiben, die ihnen zuvor untersagt waren, explodierte auch dieser Bereich.
Das Auflegen immer neuer Finanzprodukte erzeugte im Bereich der Derivate wahren Wildwuchs. Derivate sind nichts anderes als Wetten auf steigende oder fallende Kurse, Preise oder Zinssätze. Ihre Ausuferung führte schon bald dazu, dass der Finanzsektor zunehmend einem Casino glich. Zudem wurden die Einsätze der großen Spieler immer stärker »gehebelt«, das heißt: Es wurde immer häufiger mit geliehenem Geld spekuliert. Als Folge dieser Entwicklung wurde das System immer zerbrechlicher, stand schließlich 1998 kurz vor dem Zusammenbruch und wurde nur durch die Intervention mehrerer Großbanken, die zusammen vier Milliarden US-Dollar aufbringen mussten, gerettet.
Da Investmentbanken und Hedgefonds in den 1990er-Jahren so mächtig geworden waren, dass die Politik nichts mehr gegen ihren Willen entscheiden konnte, zog die Politik aus dem Beinahe-Zusammenbruch keine Konsequenzen, sondern deregulierte sogar noch weiter. Das Ergebnis war der nächste Beinahe-Crash in den Jahren 2007/08. Diesmal zwangen die Finanzinstitutionen die Regierungen, die Steuerzahler für die von ihnen verursachten Schäden zur Kasse zu bitten. Unter dem Motto, Banken seien »too big to fail«, wurden damals riesige Löcher in die Staatshaushalte gerissen, die anschließend zur »Austeritätspolitik« führten und ganze Bevölkerungsgruppen in Not und Armut stürzten. Der Beinahe-Crash führte zu einer weiteren Machtverschiebung im Finanzsektor. Die Vermögensverwaltungen begannen, die Hedgefonds zu überflügeln oder zu übernehmen.
Dem von Larry Fink 1988 gegründeten Unternehmen BlackRock fällt mittlerweile eine Schlüsselrolle zu. Das Unternehmen verwaltet nicht nur knapp neun Billionen US-Dollar, es verfügt mit seinem Großcomputer Aladdin über ein konkurrenzloses Datenanalyse-System, das die Märkte der Welt seit mehr als 30 Jahren Tag für Tag bis ins Detail durchforstet. Darüber hinaus berät BlackRock seit dem Beinahe-Crash 2007/08 sowohl Regierungen als auch Zentralbanken, darunter die US-Zentralbank Federal Reserve (FED) und die Europäische Zentralbank (EZB). Diese Symbiose zwischen BlackRock und den wichtigsten Zentralbanken der Welt dürfte alles übertreffen, was die Menschheit in der bisherigen Geschichte an Machtkonzentration im Finanzsektor erlebt hat. Die größte private Finanzorganisation der Welt kann direkten Einfluss darauf nehmen, in welche Kanäle frisch geschöpftes Geld fließt, und sich so praktisch selbst bedienen.
2. Die Digitalisierung
Parallel zur Finanzialisierung hat in den 1970er-Jahren der zweite Prozess begonnen, der unsere Welt heute prägt: die Digitalisierung. Zwei der größten Konzerne, Microsoft und Apple, wurden 1975 und 1976 gegründet und begannen nach kurzer Anlaufzeit einen Siegeszug, dem sich 1994 Amazon, 1998 Google und 2004 Facebook anschlossen. Entwickelten die Unternehmen in der Anfangszeit hauptsächlich Computer und stellten diese her, so begann mit der Nutzung des Internets in den 1990er-Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends eine neue Epoche, die der Digitalbranche zu Wachstumsraten verhalf, die die Welt bis dahin nicht gesehen hatte. Noch im Jahr 1993 machte das Internet nur etwa ein Prozent des weltweiten Informationsaustausches in der Telekommunikation aus, 2000 jedoch bereits 51 Prozent und 2007 97 Prozent.
Da die Digitalbranche innerhalb kürzester Zeit alle Wirtschaftszweige erfasste, entstand eine Nachfrage in bisher unbekanntem Ausmaß. Außerdem erhielten die Softwareunternehmen einen ebenfalls historisch einmaligen Einblick in sämtliche Datenströme der Unternehmen, die sie digitalisierten, und damit einen Informationsvorsprung gegenüber dem Rest der Wirtschaft. Zudem entstand eine neue Form der Wirtschaft: die Plattformökonomie. Bahnbrechend wirkte der zunächst als Online-Buchversand gegründete Anbieter Amazon, der sich mit der Ausbreitung des Internets zum größten Online-Versandhändler der Welt entwickelte. Aber auch in sämtlichen anderen Wirtschaftsbranchen schossen Plattformunternehmen wie Pilze aus der Erde.
Ob Uber im Beförderungsgewerbe, booking.com in der Hotellerie, Takeaway in der Gastronomie oder Airbnb in der Wohnungsvermittlung – heute existiert fast kein Bereich mehr, in dem diese Unternehmen nicht aktiv sind. Dabei ist ihr Geschäftsmodell immer das gleiche: Sie vermitteln Dienstleistungen und Waren, ohne sie selbst zu erzeugen. Auf diese Weise verdienen sie ohne großen Personalaufwand und ohne selbst große Risiken einzugehen. Gleichzeitig aber bringen sie mittelständische Unternehmen in eine fatale Abhängigkeit von sich oder treiben sie gar in die Insolvenz – so wie es Uber mit großen Teilen des Taxigewerbes getan hat.
Vor allem aber zeichnet sich diese Branche dadurch aus, dass einzelne Spieler sehr schnell versuchen, sämtliche Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, um zu weltweiten Marktführern aufzusteigen. Die Aussicht auf eine globale Monopolstellung und extrem hohe Gewinne lockt wiederum viele große Geldgeber aus der Finanzbranche an und hat dazu geführt, dass einzelne Unternehmen – wie zum Beispiel Uber – bereit sind, jahrelang riesige Verluste hinzunehmen, um am Ende als Gewinner, das heißt, als globale Monopolisten dazustehen. Gerade in der Plattformökonomie kann man gut sehen, wie die Interessen der Digitalunternehmen zunehmend mit denen der Finanzbranche verschmelzen und wie auf diese Weise eine Kraft entstanden ist, die die Tendenz zur Macht- und Vermögenskonzentration in nie gekannter Weise vorantreibt.
3. Die »Vierte Industrielle Revolution«
Eine weitere Entwicklung wird die Macht des ohnehin weltbeherrschenden Digitalsektors zusätzlich steigern und unsere Zukunft in bisher unvorstellbarer Weise verändern: die »Vierte Industrielle Revolution«. Ging es in der dritten industriellen Revolution ab 1970 um die Einführung der Computertechnik und ab den 1990er-Jahren um den Datentransfer über das Internet, so geht es in der »Vierten Industriellen Revolution« vor allem um die Steuerung und Automatisierung von Produktionsprozessen. Durch Einsatz der Künstlichen Intelligenz (KI) werden zu einem erheblichen Teil Arbeitsroboter die menschliche Arbeit übernehmen. Die flächendeckende Einführung von 3-D-Druckern wird eine vom Standort unabhängige mobile Warenproduktion ermöglichen, die die Logistik weitgehend überflüssig machen wird. Das Internet der Dinge ermöglicht es, physische und virtuelle Gegenstände miteinander zu vernetzen und sie durch Informations- und Kommunikationstechniken zusammenarbeiten zu lassen.
Der digital-finanzielle Komplex ist damit die erste Kraft in der menschlichen Geschichte, die sich so gut wie alle entscheidenden Bereiche der Gesellschaft unterworfen hat – sowohl die Produktion von Gütern als auch deren Verteilung sowie die Geld- und Datenströme. Das aber wird sich auf den für die Mehrheit der globalen Bevölkerung wichtigsten Wirtschaftsbereich fatal auswirken, den Arbeitsmarkt: Das McKinsey Global Institute hat bereits vor der Corona-Krise geschätzt, dass bis 2030 bis zu 800 Millionen Jobs weltweit durch die Folgen der Automatisierung wegfallen.62 Die University of Oxford hat im Jahr 2013 eine Studie veröffentlicht,63 der zufolge in den nächsten zwei Jahrzehnten rund 47 Prozent aller Jobs verschwinden werden.
Selbst wenn diese Voraussagen nur zur Hälfte eintreffen würden, hätten sie für die Zukunft unseres aktuellen Wirtschaftssystems katastrophale Folgen. Es ist nämlich konsumgetrieben und könnte den Wegfall so vieler Konsumenten nicht verkraften. Aber das ist nicht das einzige Problem, vor dem es zurzeit steht.