Читать книгу Das 17. Instrument - Andreas O. Müller - Страница 10
ОглавлениеAm Ufer entlang
Wenn du einen Weg zurück gehst, denkst du, er sei dir schon bekannt. Jedoch ergeben sich viele neue Perspektiven, alleine schon durch den Blick in die Gegenrichtung, aber auch durch das wandernde Licht der Sonne und die Veränderung der Schatten. Nimmst du den selben Weg erneut, diesmal in der Anwesenheit eines dir nahestehenden Menschen, der, wie eine Komplementärfarbe auf die andere, unwillkürlich auf dich einwirkt, so wirst du wiederum in deinen Ansichten und in deinem Erleben verändert.
Die Mittagszeit war lange vorbei, als Paul den Weg hinunter zum See wollte, an der Apfelplantage vorbei, deren kurze, gedrungene Stämme aus knolligen Veredelungen herauswuchsen, die ihnen eine besondere Winterhärte verliehen. So oft war Paul mit seiner Frau auf diesem Weg entlanggegangen, daß es ihm nicht schwer fiel, sie sich an seiner Seite leibhaftig vorzustellen, auch wenn er alleine war. Manchmal redete er sogar mit ihr.
Er lenkte seine Schritte hügelabwärts. Sein Fuß stolperte über ein bleich aus der Erde ragendes, weiss leuchtendes Schädeldach, dicht am Boden.Nein, gottlob, es war ein großer Siliziumstein, der ihn für einen erschreckenden Augenblick irregeführt hatte. „Pass´ doch auf, Schatz!“, hörte er seine Frau neben sich erschrocken sagen. Der schmale Pfad schlängelte sich am Bachufer entlang durch die Wiese hinter dem Haus und führte dann parallel zur Straße auf eine kleine Anhöhe. Hier ging es nach links ab, und der Blick auf die Flußniederung wurde frei, die von Wiesen, Feldern und einem Bauernhof geprägt wurde. Dahinter, jenseits des silbrigen Flusses, standen Pappeln in Reihen. Den Hintergrund bildeten die sanft geschwungenen Hügel der heute bewaldeten Moränen, die durch Gletscherablagerungen während der letzten Eiszeit entstanden waren. Sie lagen bereits auf der anderen Seite der Grenze, die durch die Flußmitte verlief. Das Blau des Himmels, über den Wolken nach Osten zogen, wölbte sich auf das Land und begann unmerklich, aber unaufhaltsam, dem Abenddämmern zu weichen.
Am Rande eines frisch gepflügten Ackers lag etwas, das von einem Erntewagen herabgefallen sein mochte. Es war eine bleiche Zuckerrübe, aus deren plumpem Körper Wurzelarme und eine zerzauste Blätterfrisur herausragten. Sie weckte Pauls lebhafte Fantasie. Er blieb stehen, um das Rübenmännchen näher zu betrachten. Spaziergänger kamen entgegen, und er machte sie auf das seltsame Naturprodukt aufmerksam. Die Frau sah mit einer höflichen, ratlosen Kopfbewegung zu Boden, um dann Paul einen verlegenen Blick zuzuwerfen. Sie lachte nervös und folgte ihren beiden Begleitern, die bereits uninteressiert weitergegangen waren. “Wer spinnt da jetzt, die oder ich?“, fragte Paul. „Na DU natürlich,“ antwortete seine Liebste und lachte ihr helles Lachen. Dabei lehnte sie ihren Kopf leicht an seine Schulter. Das bedeutete in der Geheimsprache der Frauen: „du bist der Größte für mich.“
Auf der rechten Seite reckten sich violett-rote Rhabarberstängel mit ihren immer noch goßen, dunkelgrünen Lappenblättern, die im Gegenlicht transparent aufleuchteten. Links gab es einen dickpfähligen Drahtzaun, der die bereits vergilbenden Nussbäume bis zum Ufer des Flusses hinab begleitete. Zu Füßen ihrer Stämme standen einige Kubikmeter Brennholz aufgeschichtet, die mit grauen Plastikplanen abdeckt waren, auf denen braun getrocknete Herbstblätter lagen. Auf den beiden parallel laufenden Spuren des Feldweges knackten Walnüsse unter den Schritten. Sie lagen hier so zahlreich, daß es unmöglich war, ihnen auszuweichen. Als Paul weiter ging, stürzten sich hungrige Krähen auf die unerwartet präsentierte Mahlzeit herab.
Schwere Felsbrocken, an deren groben, unbehauenen Flächen Feldspatkristalle blitzten, hinderten das breite Gewässer daran, die Ränder des angrenzenden Weidelandes aufzuweichen und wegzuspülen. Unten angekommen, überquerte Paul auf schmalem Pfad den Grenzbach. Bogenförmig liefen Holzplanken hinüber, seitlich von Geländern geschützt, an deren gedrehten Stahlseilen Liebesschlösser hingen. “Sieh nur, wie schön!“, sagte sie. „Ja“, sagte er leise vor sich hin. Es gab ein surrendes Geräusch, als Paul eines über die Drähte zog. Er nahm ihre Hand, die sich wie ein kleines, weiches Tier anfühlte. Jetzt betraten sie das benachbarte Land. Die Dachfirste der wenigen Gebäude mit den breiter überhängenden Dächern waren anders, als sie es von ihrem Dorf her kannten. Bäume und Gräser dagegen hatten sich nicht verändert, auch nicht die würzige Luft oder der Fluß mit seinem Algengeruch. Hier standen einzelne Apfelbäume, deren reife, rote Früchte hinter dornigen Zweigen einer Akazie vor Spaziergängern sicher waren. Jetzt folgte Paul dem Flussbett weiter nach Westen. Mächtige Pappeln traten mit breit gefächerten Stützwurzeln aus dem Boden, die grün mit Moos bedeckt waren. Aus den Polstern ragten einzelne bleiche, winzige Pilze mit hauchdünnen, zerbrechlichen Stielen. Aufwärts strebend verloren sich die Wurzelstreben in zahlreichen Astgabeln. Hoch oben hatte sich in ihrer gefurchten Rinde ein orangefarbener Baumpilze festgesaugt, ein Schwefelporling, dessen mehrfach gelappte Konsolen den Kleidern von Flamenco-Tänzerinnen glichen. Zwischen den Stämmen der Bäume wucherten Wildrosenhecken, Bündel von Haselsträuchern und breit ausladender, schwarzer Holunder. Vereinzelt säumten schmale Kieselstrände das Ufer, deren bunte Steine im Frühjahr durch das grüne, kalte Schmelzwasser schimmerten, das aus dem Gebirge kam. Dunkel-feuchte Randstreifen auf den Kiesbänken verrieten den nächtlichen Rückgang des Wasserstandes. Unter Ästen mit dichten Kastanienblättern krümmten sich von einem böigen Nachtwind verfrüht aus ihren Blütenkerzen herausgewehte Stachelkugeln. Mit ihren gebogenen Stielen wirkten sie wie hilflose, kleine Embryos. Weidenbäume, bis über das Wasser des Flusses ragend, hingen mit fadenförmigen Zweigen bis über die Wasseroberfläche. Berührten sie diese, so sprangen Wellenringe auf und trieben mit der Strömung davon. Zahllose lanzettförmig schlanke grüne, gelbe und braune Blätter lagen verstreut auf dem Weg und bildeten ein buntes Tapetenmuster. Nicht weit vom Ufer entfernt, etwas höher gelegen, blickten kleine Fenster auf der Rückseite eines alten Bauernhauses gleichgültig, wie gelangweilt zu Paul herab. Auf der kleinen Insel, zu der vom Gegenufer ein alter, grau verblichener Holzsteg führte, leuchteten die weiß gekalkten Stufengiebel des Klostergebäudes. Die dünnstimmige Glocke klang jeden Abend über das Wasser bis zu Pauls Balkon herüber, und löste ein vages Heimatgefühl aus. Dahinter zogen sich die Konturen der bläulichen Hügel hinter Reihen von schlanken Baumkronen weit an beiden Seiten des Stromes entlang.
„Komm, hier bleiben wir ein wenig“, sagte Paul. Sie hielten an und setzten sich auf einen der Ufersteine, lehnten sich aneinander und ließen die Sonne ziehen. Im Hauptstrom trieben weiße Schwäne wie Spielzeuge dahin. Vor dem gegenüber liegenden Ufer war eine langgezogene, bleiche Sandbank trockengefallen, auf der Kormorane träge ihre Flügel trockneten, und elegant gefiederte Möven aufgeregt hin und her trippelten. Dahinter stand das Uferschilf im Wasser, überragt von einem Eschenwäldchen, in dem sich Biber angesiedelt hatten.
Vielleicht hatte ihn für eine kurze Zeit ein Traum entführt. Als er die Augen wieder öffnete, fand er sich alleine in einer gewandelten Welt. Seine Frau war wieder in andere Sphären zurückgekehrt. Die Sonne hatte sich unaufhaltsam weiter nach Westen bewegt und stand nun schräg über den flachen Bergen. Sie waren ihm nicht fremd, aber ihre Hänge hatten schärfere Konturen angenommen, Paul konnte jede einzelne Nivellierung der jetzt blaßgrün schimmernden Flächen erkennen. Die Baumkronen standen mit ihren dunklen Körperschatten und den strahlenden Lichtseiten plastisch davor, schienen jetzt viel näher als sonst. Die hellen Wände des Klosters auf der Flußinsel dagegen waren im Dunkel fast verschwunden, der Holzsteg zum jenseitigen Ufer hinüber wirkte wie eine filigrane Tuschzeichnung in Grautönen. So anders präsentierte sich die doch bekannte Landschaft durch das veränderte Licht der immer weiter absinkenden Sonne, die ihre Schattendecke hinter sich herzog.
Paul erhob sich. Der kurze Schlaf auf dem harten Stein hatte seinen Körper steif werden lassen, sodaß er sich mehrmals streckte. Der silberne Glanz der breiten Wasserfläche war einem bleiernen Grau gewichen. Langsam ging er den Weg zurück und dachte über das kleine Erlebnis der verzaubernden Erinnerung nach, das ihm die Sonne in ihrem seit Jahrmillionen andauernden Gang heute auf seinem Uferweg geschenkt hatte.
Efeu-überwucherte Baumstümpfe hockten wie dunkelgrüne Kobolde im Ufergestrüpp. Das Bauernhaus stand nun vor einem verschatteten Hintergrund, es hatte dadurch eine andere, gedämpfte Kulisse bekommen. Paul kam wieder an dem Rhabarberfeld vorbei, dessen Blätter nur noch unscheinbar, braungrün an farblosen Stielen hingen und alles Lebendige vermissen ließen. Weiter vorne standen, jetzt auf der rechten Seite, die Zaunpfähle wie krumme, schwarze Gestalten unter den Bäumen, fast ebenso schwarz wie die Krähen, die lamentierend aufflogen, weil sie bei ihrer frühabendlichen Nahrungssuche gestört wurden. Paul nahm den Rest des nun ansteigenden Weges und sah oben auf der Anhöhe nochmals zurück in das seichte Tal, das schon ganz im Schatten unterzugehen drohte. Er meinte etwas Feines, Weißes zu sehen, erstes Anzeichen eines Nebelschleiers, der sich durch die kühle Abendluft über dem noch tageswarmen Gewässer bildete.
Während das Land zunehmend ergraute und sich dem aufsteigenden Nebel hingab, dachte Paul daran, auf wie viele Arten man auch seine eigene Existenz betrachten konnte, je nachdem, ob man voraus in die Zukunft schaute, oder zurück in die Vergangenheit.
„Auch in meinem Leben hat es immer wieder Licht und Schatten gegeben,“ überlegte er. Rückwärts betrachtet sah heute manches weniger positiv aus, was er damals als helle Zeit erlebt hatte, auch wenn es nur kurze Lichtblitze gewesen waren.
„Dieses Erlebnis vom Nachmittag bis zur untergehenden Sonne ist wie die Metapher eines ganzen Lebens.“ Paul versuchte, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu beurteilen, sie „in einem anderen Licht“ zu sehen, denn das war es, was wirklich Erkenntnisse brachte, die über dem einzelnen, subjektiven Eindruck standen. Damit kam man der Wahrheit näher, sofern daran ein Interesse bestand. Die Bereitschaft zu diesem Spiel mit dem Wechsel der Blickrichtungen war nicht für jeden selbstverständlich, denn es wandelten sich eher vermeintliche Glanzpunkte der Karriere in enttäuschende Beispiele des Selbstbetrugs oder des Versagens, als daß sich weniger beachtete Tätigkeiten als genial oder heroisch erwiesen hätten, wenn man später darüber reflektierte. Und das motivierte nicht gerade zum Nachdenken über sich selbst.