Читать книгу Das 17. Instrument - Andreas O. Müller - Страница 11
ОглавлениеDas Buch
Ein sanfter Mairegen klopfte auf das schräge Dachfenster, unter dem Paul auf seinem Bett lag und döste. Die Jalousie hatte er heruntergelassen, die Lamellen aber gerade gestellt, sodaß etwas von dem grauen Himmel sichtbar blieb.
Vor einigen Wochen hatte er begonnen, ein Buch über die Zeit zu schreiben, als er an einem Einsatz der Hilfsorganisation MHD beteiligt gewesen war. Das alles lag nun schon über ein Vierteljahrhundert zurück, und in den Jahren danach hatten ihn seine kleine Familie und sein anspruchsvoller Beruf ausgefüllt. Darum, und vielleicht auch, um zu vergessen, was in Ruanda um ihn herum und in ihm geschehen war, hatte er nicht darüber gesprochen, mit seiner Frau nicht, und nicht mit seinen Kollegen. Und da auch niemand Fragen stellte, wurde der Abstand zu jenen Ereignissen im Sommer 1994 immer größer, bis er selbst nicht mehr daran dachte. Nicht einmal in seinen seltenen Träumen kehrten die bedrückenden Bilder wieder, die ihn nach seiner Rückkehr zunächst rücksichtslos und zermürbend verfolgt hatten.
Paul wußte, daß traumatisierende Erlebnisse zwar vergessen werden können, daß sie aber in der Tiefe des Unterbewußtseins gespeichert bleiben, und von dort aus das weitere Leben, alle nachfolgenden Entwicklungen und Entscheidungen einer Persönlichkeit beeinflussen können, häufig in negativer Weise.
Das war nicht der Hauptgrund, trug aber mit dazu bei, daß er sich dazu entschlossen hatte, Erinnerungen aus der Tiefe doch wieder hervorzuholen, von denen er wußte, daß sie noch da waren, von denen er allerdings nicht wußte, was sie mit ihm machen würden. Denn es war ihm klar, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Teil seiner Vergangenheit nicht leicht werden würde, weder emotional noch intellektuell.
Pauls größte Sorge war: würden seine Erinnerungen ausreichen, würden sie ihm genügend Klarheit geben, genügend Einzelheiten zurückbringen, würden sie ein unverzerrtes Bild der Vergangenheit zeichnen können? Es war ein Experiment, eine Expedition in ein fremd gewordenes und zugleich bekanntes Land, und er war bereit, den Preis dafür zu bezahlen.
Anfangs fiel es ihm schwer, sich auf die Zeit vor über fünfundzwanzig Jahren zu besinnen. Einzelne, grobe Bilder ließen sich zuerst isolieren, und er begann damit, diese mit seinen Gedanken zu umkreisen, bis sie an Deutlichkeit gewannen, und er sie festhalten und niederschreiben konnte. Je mehr er die Erinnerungen suchte, desto mehr boten sie sich ihm an. Seite um Seite füllte sich, ein Prozeß schien in Bewegung gekommen zu sein, der sich unaufhaltsam beschleunigte und schließlich selbstständig eine solche Fülle von einzelnen Geschehnissen, von Gedanken, Gefühlen und Bildern ans Licht brachte, daß Paul Mühe hatte, alles aufschreiben, bevor es, so fürchtete er anfangs, wieder verblasste und irgendwo in seinem Inneren verloren ging. Deshalb hatte er nun immer Schreibzeug bei sich, wenn er das Haus verließ, um unterwegs festhalten zu können, was nicht warten wollte Er notierte jede Kleinigkeit, jede Formulierung, jeden neuen Gesichtspunkt, der sich ihm anbot, ja, sich ihm aufdrängte.
Paul erwachte unzählige Male aus dem Schlaf, weil die Gedanken keine Ruhe gaben, und ihm immer Neues in den Sinn kam. Es gab Nächte, in denen weckten ihn Eingebungen oder Formulierungen, die ihm am Tage nicht einfallen wollten, wie Blitze. Sie waren plötzlich da, manchmal im Abstand von wenigen Minuten. Sie kamen wie nach oben drängende Gasblasen aus der glühenden Tiefe eines Vulkankraters, die aufstiegen, heraus mussten und nicht nachließen, ehe sie nicht ins Freie gelangt waren. Dann war ihm wohler für den Augenblick, bis das Drücken wieder begann und ihn erneut weckte. Der Schlaf hatte seine regenerierende Wirkung eingebüßt. Paul erwachte am Morgen manchmal erschöpfter, als er es am Abend davor gewesen war.
Wie aus einer angebohrten Ölquelle sprudelte immer mehr, immer stärker die Vergangenheit, seine Vergangenheit. Er wußte nicht, wie er sie zurückhalten sollte. Gleichzeitig riß er jede Einzelheit gierig an sich, denn die Absicht, dieses Kapitel seines Lebens aufzuschreiben und sichtbar zu machen, konnte er nicht aufgeben.
Erst als das Manuskript wuchs und schließlich einen bereits bemerkenswerten Umfang anzunehmen begann, wurde es besser. Die Panik, wesentliches zu vergessen, ehe es auf dem Papier festgehalten war, schwand nach und nach und machte ruhigeren Recherchen Platz. Paul hatte es endlich geschafft, sich einem Arbeitsprinzip unterzuordnen und alles, was seine innere Quelle auswarf, auf Karteikarten zu schreiben und in einem Kasten aufzubewahren. So konnte er sicher sein, daß nichts verloren ging, was ihm je in den Sinn kam. Das manchmal unlesbare Gekritzel im Halbschlaf unruhiger Nächte hatte damit ein Ende gefunden und auch Pauls Angst, seiner Vergangenheit nicht gerecht zu werden.