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Das Ende von Dr. W.

Dr. W. war mit heftigen Atembeschwerden aus dem Schlaf hochgeschreckt. Dennoch gelang es ihm, eine plötzlich hochsteigende Panik zurückzudrängen und den ärztlichen Notruf zu wählen.

Es war das bedrückende erste Jahr der großen Grippe-Pandemie im einundzwanzigsten Jahrhundert, die den Menschen vor Augen führte, wie dünn die schützende Decke der Zivilisation war, wie übermächtig die Natur alles beherrschte, auch wenn dies nicht immer ganz so offen zu Tage trat wie in dieser deprimierenden Zeit.

Während der letzten Tage hatte er sich ungewohnt schlapp gefühlt, das Essen hatte einen faden Geschmack angenommen, und mehrmals war ihm übel geworden. Sonst war alles wie immer gewesen. Dann aber, in jeder Nacht, begann dieses Stechen in der Lunge, und eine beklemmende Atemnot war über ihn hergefallen. Da war ihm klar, daß ihn das Virus erwischt hatte, obwohl er sich bemüht hatte, alle empfohlenen Sicherheitsmaßnahmen einzuhalten. Wie er in die Klinik gekommen war, wußte der alte Mann nicht mehr. Es war nicht wichtig. Wichtig war nur, daß er in einem Intensivbett lag, und mit jedem Atemzug Sauerstoff über eine Nasensonde in seine Lungenflügel flutete. Die Luftnot wurde dadurch erträglich, aber das Stechen in der Lunge hatte nicht aufgehört. Dennoch, er fühlte sich besser, auch weil die Angst nachließ, die ihn zuhause überkommen hatte, die Angst, alleine zu sterben.

Während Dr. W. versuchte, die Gedanken zu ordnen, die durch seinen Kopf eilten, füllte das leise Rauschen der Sauerstoffleitung den Raum. Niemand sonst war in dem nüchternen, hellen Krankenzimmer. Das leise, immer wiederkehrende Signal des Monitors, der auf einem Regal über ihm stand, beruhigte ihn, auch wenn die Töne unregelmäßig aufeinander folgten. Das kannte er, es war gut so. Auch das stetige Fallen der Flüssigkeit in der länglichen, durchsichtigen Tropfkammer der Infusionsflasche neben dem Bett beruhigte ihn. Er fühlte sich in Sicherheit. Ping-pingping-ping, tönte das elektronische Echo seines Herzschlages. Die monotone Melodie führte ihn zurück zu den langen Nächten im Klinikum, wo er während des Studiums als Sitzwache bei schwer Erkrankten gegen den Schlaf ankämpfte. Nichts war auch damals zu hören gewesen außer diesem technischen Geräusch, das in der Stille der Mitternacht lauter und lauter wurde, bis es in den Ohren schmerzte.

Dr. W. ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern, hinüber zu der Nische, in der sich das Waschbecken befand, und der Spiegel darüber, und die weißen Kacheln sich hygienisch darum herum ausbreiteten. „Ob die Wand hinter dem Spiegel auch gekachelt ist?“, fragte er sich. Die Sparmaßnahmen der Krankenhäuser nahmen manchmal absurde Formen an.

Er war selbst viele Jahre lang klinisch tätig gewesen, hatte eine Intensivstation geleitet und immer darauf geachtet, daß seine Patienten sich geborgen fühlten, soweit es in der sterilen Atmosphäre der hochtechnisierten Räume möglich war. Sein Arztzimmer, das ihm Jahrzehnte lang nicht nur als Büro und Sprechzimmer gedient hatte, sondern auch als Rückzugsort, als Refugium nach anstrengenden Operationen und ermüdenden Nachtdiensten, hatte auch dieses Arrangement von Waschbecken, Spiegel und hygienischen Kacheln vorzuweisen gehabt. Merkwürdigerweise erinnerte er sich jetzt genau an den Wasserhahn, an die beiden runden Chromgriffe mit dem blauen und dem roten Punkt darauf, und an den immer verschmutzten Stöpsel, der auf dem Rand des Waschbeckens lag und mit einer Metallkette befestigt war, die aus lauter kleinen, silbrigen Kügelchen bestand. Aber sonst war es ein sehr ansprechender Raum gewesen mit einem Balkon, der zur Stadt und zum Stadtpark freie Sicht hatte. Am gegenüberliegenden Hang des Tales, in dem die Stadt lag, war der Giebel der Villa zu erkennen gewesen, in deren Erdgeschoß er wohnte.

Die Inneneinrichtung des Arztzimmers hatte er bei seinem Einzug selbst aussuchen können, und so hatte er sich eine Atmosphäre geschaffen, in der er sich wohl fühlte, die ihm gut tat, weil sie sein inneres Harmoniebedürfnis befriedigte. Das helle Palisander-Braun der Regale kontrastierte beruhigend mit den farbigen Buchrücken und dem Grün der Zimmerpflanzen. Der dunkelblaue Bezug des Sofas, das ihm auch als Bett dienen konnte, bestand aus weichem Velours, dessen Oberfläche matt glänzte, wenn schräge Sonnenstrahlen am späten Nachmittag auf ihn fielen. Der Lichtkasten an der Wand, versteckt hinter der Tür, war, abgesehen von der einfallslosen Spiegel-Waschbecken-Kreation, der einzige kühl-nüchterne Gegenstand im Raum. Unzählige Röntgenbilder und Schichtaufnahmen von Tumoren, Blutungen und Hirninfarkten hatte er hier betrachtet. Welche Schicksale hatten sich hinter ihnen verborgen!

Die Tür öffnete sich, eine Krankenschwester kam herein, und seine Erinnerungsbilder huschten erschreckt davon. Sie trug ein Tablett in der Hand. „Ich bin Magdalena und bringe das Cortison“, sagte sie nur und schien zu lächeln. Genau konnte er es nicht sehen, denn sie trug ihre Schutzmaske korrekt über Mund und Nase. Magdalena trat an sein Bett und machte sich an der Infusionsleitung zu schaffen. Er fühlte ein unangenehmes Kratzen im Hals und hüstelte. „Das ist aber neu,“ hörte er sie sagen, „sicher ist der Sauerstoff daran schuld. Sie kennen das ja selbst von Ihren Patienten, nicht?“ Die Zufuhr von Sauerstoff über eine Nasensonde trocknete die Rachenschleimhaut aus und konnte einen Hustenreiz auslösen. Ja, er kannte das Phänomen. Er ging nicht weiter auf ihre Bemerkung ein. Es war eine rücksichtsvolle Freundlichkeit von ihr gewesen. Aber er wollte sich nichts vormachen. Das Virus war daran schuld, es breitete sich immer weiter in ihm aus.

Weder die Zuwendung des Personals noch der fast kameradschaftliche Ton der betreuenden Kollegen konnte darüber hinwegtäuschen, daß seine bisher so farbige Lebensweise und die großartigen Freiräume seiner Motorradtouren hier zu Ende gehen würden. Wie fern war das, wie lange schon vorbei. Er lag da, und in der Zeitlosigkeit des Tages entließ er seine Gedanken wieder in die Freiheit. Aber sie wollten ihn nicht verlassen. „Ist das jetzt die große Abrechnung?“ fragte er sich. Aber nein, daran konnte er nicht glauben. Kein Mensch, kein Lebewesen stand unter der Kontrolle eines gebenden und nehmenden großen Willens. Das widersprach einfach zu sehr seinen Erfahrungen aus einer Jahrzehnte langen, intensiven Berufstätigkeit.

„Sind wir nicht alle in der Lage, uns selbst zu gestalten, mehr oder weniger?“ Glück oder Zufall, aber auch Unglück wirkten als Joker mit in dem unübersehbaren Gemenge des Lebens, wie der Wind, der endlose, unentzifferbare Muster in die Dünen der Wüste zeichnete.

Schwester Magdalena stand wieder neben seinem Bett. Er hatte ihr Eintreten diesmal nicht bemerkt, hörte aber ihre Stimme, als sie ihn ansprach. Diesmal bemühte er sich, ein genaueres Bild von ihrer Erscheinung einzufangen, weil sie ihn an seine Tochter erinnerte, die es allerdings nur in seiner Fantasie gab. Ihr dichtes, schwarzes Haar war teilweise unter einer grünen Gazehaube versteckt. Es fiel, zu einem dicken Zopf gebündelt, nach vorne über ihre Schulter und endete in der Höhe der Ellenbeuge ihres linken Armes. Die Stirn der jungen Frau erinnerte ihn in ihrer Makellosigkeit an das Spiegelbild des Mondes in einem stillen Teich. Das schmale Gesicht war, wie vorgeschrieben, von der Schutzmaske bedeckt. Ihre schönen, dunklen Augen, über denen sich markante Brauen wie die Schwingen eines Vogels ausbreiteten, sahen ihn nachdenklich an, aber er bemühte sich nicht, ihr Geheimnis zu deuten. „Ach ja, einfach davon fliegen“, dachte er müde.

Magdalenas jugendlicher Körper blieb unter ihrem graublauen Schutzkittel verborgen. Er bedauerte das, denn ein Gefühl für die romantische Poesie der weiblichen Figur war noch wach in ihm. Auch wenn sie ihn in seinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr erregte, so war ihm doch ein ästhetisches Empfinden geblieben.

Ihre Stimme klang professionell, als sie sagte: „Zufrieden, Doktor?“ Sie legte die Blutdruckmanschette um seinen Oberarm und nickte, nachdem sie das Ergebnis der Messung abgelesen hatte. Er fragte nicht nach den Werten, sie spielten für ihn keine Rolle mehr. Sie mussten registriert werden, es gehörte zu einer korrekten Patientenversorgung dazu.

„Ja, ich fühle mich ganz gut, danke“, sagte der alte Mann, und sie schien wieder zu lächeln. Bevor sie ging, sagte er noch: “Bitte rufen Sie meinen Sohn an, vielleicht kann er mich mit meiner kleinen Enkelin besuchen kommen.“ Mehrfach machte er eine Pause, das Sprechen fiel ihm schwer. Es bestand kein Zweifel, sein hohes Alter war eine zusätzliche Belastung. Als er wieder alleine da lag, kehrten seine Gedanken zurück zu der Frage von Schuld im Leben jedes einzelnen Menschen. Er wusste, daß er er für ausgeglichen. Viel Gutes hatte er geleistet mit Hilfe seines privilegierten Berufes. Aber es fielen ihm auch manche Dinge ein, für die er sich auch jetzt noch verachtete. Er hatte darüber niemals ein Wort verloren, nicht gegenüber vertrauten Freunden, nicht einmal, oder gerade nicht gegenüber seiner geliebten Frau, die schon vor Jahren von ihm hatte gehen müssen.


selbst vieles richtig, aber auch vieles falsch gemacht hatte. Die Bilanz seiner eigenen siebenundsiebzig Jahre hielt

Diese intimsten Schattenseiten seiner Persönlichkeit hatte er mit keinem Menschen teilen können. Er war überzeugt, daß er nicht der Einzige war, der in seinem Innersten irgendein beschämendes Geheimnis verbarg. In diesem Augenblick verzieh er sich selbst seine Sünden. Er fühlte sich erleichtert, befreit von allem Ballast, den er so lange auf seinen Schultern mit sich herumgetragen hatte.

Das monotone Geräusch des stetig strömenden Sauerstoffes erinnerte ihn an etwas. Aber er konnte nicht herausfinden, was es war. Als Magdalena eintrat, drehte er nur langsam den Kopf zu ihr hin.

„Ist mein Sohn schon gekommen?“- „Nein Doktor, leider noch nicht.“ Er nickte und blickte traurig zur Decke, von der die matt-weiße Lampenkugel an einer Metallstange herabhing. Er dachte jetzt an die verträumte Wiese, die sich vor dem Balkon seiner Wohnung bis zu dem kleinen Wäldchen ausbreitete, einen Teil des dahinter aufsteigenden Hügels verdeckend, auf dem die mächtigen Mauern der Burg thronten. Sein Zuhause existierte für ihn nur noch in vagen Erinnerungsbildern, die sich immer mehr mit anderen Lebensstationen vermischten. Alles war irgendwie miteinander verbunden, gleich wichtig, gleich unwichtig. Wie Schlaglichter leuchteten einzelne Begebenheiten, Gesichter und Gefühle auf, die früher eine Bedeutung für ihn gehabt hatten, die sein Leben farbig und lebenswert gemacht hatten.

Die kleine Bucht an der türkischen Südküste, wo er mit seiner Frau vor Anker lag, die Telefonzelle in K., in der er vor übermächtigem Glück geschluchzt hatte, als er seinen Eltern von dem bestandenen Staatsexamen berichtete. Besonders klar stand vor ihm das Lächeln des Mädchens, das ihm zum ersten Mal eine heiße Röte ins Gesicht getrieben hatte. Und die ehrwürdige, in einer verwunschenen Parklandschaft versteckte Villa seiner Großeltern im Elsaß.

Aber auch der fremde Raum, das fremde Bett, in dem er sich als kleiner Junge in den Schlaf geweint hatte, stumm vor Verlorenheit, auch dies drängte sich zwischen die lieblichen Bilder, und auch die Sekunde, in der ihm auf einer von Raureif bedeckten, kurvenreichen Strecke in den Bergen unvermittelt das Vorderrad seines Motorrades weggerutscht war, und es ihn auf der Straße vielfach um seine Längsachse herumwirbelte, sodaß er sich schmerzhafte Verletzungen zugezogen hatte.

Einmal kam die Nachtschwester, um nach ihm zu sehen. Im Schein der Nachtbeleuchtung bemerkte er, daß auch sie nur durch den Ausdruck ihrer Augen lebte. „Mein Sohn?“ fragte er leise und blickte zu ihr hin. Sie schüttelte leicht den Kopf und ging wieder hinaus. „Ach“, sagte er nur. Es klang, als sei damit für ihn ein letztes Kapitel abgeschlossen, eine letzte Hoffnung aufgegeben. Für einen Augenblick noch war sein Geist glasklar. Er erkannte, daß dies alles sein Leben gewesen war, vielleicht nicht das Wichtigste in seinem Leben, aber was war wirklich bedeutend, wenn er zurückblickte.

So lag er da, die ganze Nacht, in seinen letzten, dünner werdenden Gedanken gefangen. Sein Blick fiel auf das Fenster. Er ahnte, dass die Morgendämmerung kam und die Konturen des frühlingshaft blühenden Parks draußen aus dem nächtlichen Grau auferstehen ließ, aber er konnte es kaum noch wahrnehmen. Nebelschleier stiegen in seinen Augen hoch.

Das grelle Pfeifen des Oxymeters erreichte noch entfernt das Ohr des Reisenden. Als der Herzalarm losschlug, atmete er schon nicht mehr. Schwester Magdalena stürzte mit einem Arzt ins Zimmer, blieb dann aber für einen Augenblick reglos stehen und schaute auf den leblosen Körper unter dem weißen Tuch. Sie setzte sich auf den Bettrand, griff nach dem schlaffen Arm und tastete den Puls, als könne sie damit etwas ungeschehen machen. „Nichts“, sagte sie. Dann stand sie langsam auf, zog die Decke ein Stück nach oben und legte sie vorsichtig über das Gesicht des Toten. Dabei war ihr so elend zumute, als hätte sie ihren Vater verloren.

Dr. W. hatte bei seiner Einlieferung verfügt, daß keine Reanimationsmaßnahmen eingeleitet werden sollten, wenn es soweit war. Seinen Sohn und seine so geliebte kleine Enkelin hatte er nicht mehr gesehen. Er hatte es nicht geschafft, länger auf sie zu warten. Auch Magdalenas Reaktion hätte ihn glücklich gemacht. Das war eigentlich das Bedauerlichste. Aber dafür wäre es ohnehin zu spät gewesen.

Das 17. Instrument

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