Читать книгу Das 17. Instrument - Andreas O. Müller - Страница 8
ОглавлениеIm Warteraum
Da saß er nun und wartete, wartete darauf, was als nächstes geschehen würde. Es war amüsant, einmal derjenige zu sein, der wartete, während sonst umgekehrt auf ihn gewartet wurde. Er blickte um sich, weil er die Umgebung kennenlernen wollte, in die er geraten war. Etwas anderes gab es im Augenblick nicht zu tun. Er stellte fest, daß der großzügig angelegte, längliche Raum eigentlich nur eine Querverbindung zwischen zwei endlos langen Fluren darstellte, die an ihren Längsseiten mit Glastüren abgetrennt worden war. Die linke war nach außen hin ganz aufgeklappt und an ihrer Klinke mit einem Stück Mullbinde fixiert. Auf der rechten Seite hingen die Flügel zweier Schiebetüren in Schienen, die an die hohe Decke angeschraubt waren. Es gab einen Bewegungsmelder, auf dessen Signal hin sich die beiden Flügel voneinander entfernten und den Durchgang freigaben. Kurz darauf liefen sie, wie von Geisterhand bewegt, wieder aufeinander zu und schlossen den Raum. Sie gaben dabei ein leises, schleifendes Schabegeräusch von sich.
Eine eigene Beleuchtung hatte der Durchgang nicht. Dr. Wieland mußte sich mit den faden Lichtresten begnügen, die zu beiden Seiten aus den Fluren hereinfielen. Fünf Sitzgelegenheiten, mit einem orangefarbenen, groben Stoff bezogen, warteten auf Gäste. Sonst gab es hier keine Farbe. An den Wänden standen ringsum, bis auf einen kleinen, freigelassenen Zwischenraum gegenüber der Stuhlreihe, auf der er sich niedergelassen hatte, mannshohe Wandschränke mit weiß lackierten Außenflächen. An ihrem Oberrand lief eine Messingstange entlang. Er vermutete, daß sie als Halterung für eine Leiter diente, wenn man an die darüber liegenden Fächer gelangen wollte. Auch diese waren mit Schiebetüren versehen, aber es gab keine automatische Vorrichtung zum Öffnen und Schließen. In das Holz waren flache Metallschalen eingelassen, die der Hand einen Angriffspunkt boten. Auf der Sitzfläche neben ihm lag ein Stapel Zeitschriften. Ein hübsches, kleines Gesichtchen schaute mit leeren Augen zu ihm hoch und weckte flüchtig einen Gedanken, dessen er sich sogleich schämte.
Durch die linke, offen stehende Tür bewegte sich jetzt eine gedrungene Gestalt, eine Person in dunkelblauer Arbeitskleidung. Sie schob einen Metallwagen vor sich her, auf dem mehrere große, aufeinander gestapelte Kartons lagen. Auf einer der aufgeklebten Etiketten konnte er einen Namen entziffern: GLOVES stand da. „Aha, Handschuhe,“ dachte er. Dann saß er wohl eigentlich in einem Vorratsraum der Klinik. Es spielte keine Rolle, solange man ihn hier nicht vergaß.
Obwohl der Wagen auf schwarzen Gummirollen lief, und der mißfarbene, linoleumbedeckte Boden ohne Unebenheiten war, gab es ein schepperndes Geräusch. Vor einem der Schränke blieb die Gestalt mit dem Wagen stehen. Jetzt konnte er sehen, daß es sich um eine korpulente Frau handelte, die sich bückte, um in einem der Schränke unten Platz zu schaffen. Sie hatte schwarze, dichte Haare, die über dem breiten, fleischigen Rücken mit einem Gummiband zu einem struppigen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Ohne daß er es wollte, fiel sein Blick auf ihr breites, flaches Hinterteil. Peinlich berührt wandte er sofort seine Augen ab. Der tiefere Grund hierfür war, daß solche amorphen Körperformen sein ästhetisches Empfinden verletzten. Das Abladen und Verstauen der Pakete dauerte einige Minuten, in denen sich seine Augen vergeblich gegen den unerwarteten und wenig angenehmen Anblick zu wehren versuchten. Er konnte schließlich nicht ständig zur Seite sehen. Die Frau vermied es während der gesamten Zeit ihrer tätigen Anwesenheit, sich umzudrehen, so als sei ihre Vorderansicht noch deprimierender als das, was er bereits widerstrebend zur Kenntnis hatte nehmen müssen. Mit einem Knall schlossen sich die Schranktüren, und das Schauspiel nahm sein ersehntes Ende. Die Blaugekleidete kehrte mit ihrem Wagen auf den Flur zurück, von wo sie gekommen war. Das Klappern verebbte, dann eroberte die Stille den Raum zurück.
Die Schiebetür rauschte, zwei Schwestern, auch in Blau, aber heller getönt, huschten nach links durch den Raum. Er verstand ihre fröhlich zwitschernde Sprache nicht, aber ihre Worte klangen angenehm jung und lebendig.
Die automatisch bewegten Flügel trafen sich wieder. Kurz darauf noch einmal das Rauschen auf der rechten Seite. Ein Patient wurde hereingeschoben, zwei Krankenpfleger manövrierten das ungelenke Bettgestell geschickt an seinen Beinen vorbei. Ihm gelang ein kurzer Blick durch die Türe. Jenseits des Flures las er über einer Tür die Aufschrift „Behandlungsraum - Sonografie“. In dem Bett lag ein Mann, die Decke wölbte sich über seinem Bauch. Er lag auf dem Rücken, seitlich hing ein Plastikschlauch, der in einem Beutel mit grüner Flüssigkeit mündete. Der Mann hatte seinen Kopf nach links zu ihm hin gedreht. Seine Augen schienen um Hilfe zu bitten. Aber Dr. Wieland konnte nichts für ihn tun. Im Augenblick war er selbst im Begriff, Patient zu werden, und überhaupt, er wußte nichts von dem Mann. Wie hätte er helfen sollen. Die beiden Pfleger verschwanden mit dem Bett. Die Schiebetüren schlossen sich, wieder wurde es still.
Er saß da und erinnerte sich nicht mehr, was er bei seiner Ankunft in dieser eher trostlosen Örtlichkeit amüsant gefunden hatte. Seine Anwesenheit war jedenfalls kein Spaß. Er überlegte, ob es wirklich notwendig gewesen war, seine Fahrt in die benachbarte Großstadt abzubrechen. Er hatte ein Konzert besuchen wollen, nach längerer Zeit hatte er sich aufgerafft und ein Ticket im Internet reserviert. Es war heute einfach, einen Konzertbesuch zu organisieren. Man buchte online, bezahlte online und konnte sogar die Eintrittskarte selbst ausdrucken, sofern man einen Drucker angeschlossen hatte.
Die zwitschernden Mädchen kehrten zurück und verschwanden hinter der Schiebetüre. Bedauerliche Stille diesmal. Mit knarrenden Schritten kam jemand heran. Eine schlanke, große Gestalt, weiß gekleidet, ein Stethoskop in der Kitteltasche. Ein Arzt also. „Guten Abend.“ - „Guten Abend, Doktor.“ Das Wort „Kollege“ hätte er für zu anzüglich gehalten, in dieser Situation. Wieder das Schabegeräusch, dann Ruhe, etwas bedrückend.
Warum war er hier? Auf der Fahrt über die Autobahn waren plötzlich krampfartige Schmerzen in der linken Wade aufgetreten, die nicht nachlassen wollten. Als Arzt kamen ihm sofort Bedenken, weil er sich zwei Wochen zuvor eine Nagelbettinfektion an der linken Großzehe zugezogen hatte. Die Penicillintherapie, die er durchgeführt hatte, war zwar umgehend erfolgreich gewesen, was ein Hinweis darauf sein konnte, daß es sich um einen Streptokokkenangriff gehandelt hatte. Aber er wußte auch, daß sekundäre, bakterielle Venenentzündungen auftreten konnten. Wenn diese eine Thrombose nach sich zogen, war das nicht nur eine unangenehme, sondern unter Umständen auch gefährliche Sache, die besonders nach Operationen gefürchtet war. Durch einen chemischen Einfluß der Krankheitserreger bildeten sich Gerinnsel in den Venen. Lösten sich davon Teile ab, so wurden diese in den Gefäßen weitergetragen und landeten schlimmstenfalls wie Geschosse in der Lunge. Dort unterbrachen sie die Durchblutung, was zu einer Funktionsminderung des Organs mit fatalen Folgen führen konnte.
Dr. Wieland war mehrfach mit dieser häßlichen Komplikation konfrontiert worden. Nicht alle Patienten hatten überlebt, obwohl sie sich in stationärer Behandlung befunden hatten. So tragisch endete auch der Fall eines Freundes, den er erfolgreich an einem Bandscheibenvorfall operiert hatte. Alles war gut gegangen. Am Tage der ersten Mobilisation war es dann geschehen. Er war am Nebenbett mit der Visite beschäftigt, als sein Freund ganz unvermittelt einen Seufzer ausstieß. Als Dr. Wieland sich zu ihm umdrehte, war dieser bereits dunkelblau im Gesicht und rang nach Luft. Mit einer Hand griff er an seinen Hals, sein Blick war glasig in die Ferne gerichtet. Sekunden später wurde er bewußtlos, ehe auch nur die Sauerstoffleitung am Kopfende seines Bettes aufgedreht war. Das von der Stationsschwester umgehend gerufene Notfallteam konnte nichts mehr für ihn tun. Der Freund war bereits verstorben, als die Kollegen eintrafen. Diese Gedanken hatten es ihm heute unmöglich gemacht, einfach weiterzufahren. Er hatte sich von der Vorfreude auf einen musikalischen Abend verabschiedet und die Autobahn bei der nächsten Ausfahrt verlassen.
So saß er nun im Wartezimmer der Klinik und tat, was in einem solchen Zimmer zu tun war: er tat nichts. Er wartete. Und das bereits seit einer halben Stunde. Es kam ihm in den Sinn, daß er diese Schattenseite des Lebens nicht kannte, obwohl er selbst viele Jahre lang Tag für Tag an dem Warteraum seiner Ambulanz vorbeigekommen war.
Dennoch hatte er die Menschen darin vor den persönlichen Gesprächen bei der Untersuchung kaum wahrgenommen. Selbst die Räumlichkeit hätte er nicht genauer beschreiben können. So war es ihm auch nicht möglich gewesen - er hatte gar keinen Anlass gesehen - sich mit der Situation eines Patienten zu befassen, solange dieser nicht in seinem Konsultationsraum vor ihm saß. Konnte es sein, daß er da etwas übersehen, etwas außer Acht gelassen hatte, das er sich vorwerfen mußte?
Wieder näherten sich Schritte. Zwei Blaugekleidete durchquerten den Raum, die Schiebetüre verrichtete ihre Aufgabe, dann blieben wieder nur die nüchternen, öden Schrankwände mit ihren nichtssagenden, matt glänzenden Flächen.
Seinem Platz gegenüber hing ein länglicher, rahmenloser Spiegel. Darin sah er einen älteren Mann, nach vorne gebeugt, er wirkte krank, leidend. Seine Körperhaltung erweckte den Eindruck einer depressiven Stimmung. Befremdet erkannte Dr. Wieland, dass es sich um sein eigenes Spiegelbild handelte. So also sah er aus? Er fühlte sich nicht krank, nicht alt, schon garnicht verzweifelt. Was hatte das zu bedeuten? Schätzte er sich falsch ein? Ging es ihm vielleicht doch nicht so gut, wie er dachte?
Hinter den Flügeln der Schiebetüre auf der rechten Seite huschten murmelnde Schatten vorbei und lenkten ihn von seinen trüben Gedanken ab. Ein kurzes Öffnen und Schließen, der Bewegungsmelder hatte angeschlagen. Doch niemand kam herein.
Deutlich wurde ihm bewußt, was alles sich in Wartezimmern abspielte, wieviele Schicksale dort ihren Lauf nahmen, meist in negativer Weise. Wie oft war er eilig vorübergegangen, ohne eine Vorstellung davon, wie quälend es sein mußte, einer gnadenlosen Ungewissheit ausgeliefert zu sein. Wo waren seine Augen, seine Gedanken gewesen, da er doch unmittelbar Zugang gehabt hatte zu Leid und Krankheit und Angst, die sich in den Körpern und Sinnen der Wartenden aufstauten und heraus wollten, wenigstens im Gespräch mit einem, dem sie vertrauten, von dem sie Hilfe erwarten durften.
Ein zweites mal rollte ein Bett an ihm vorbei. Diesmal lag darin eine schmale, kleine Frau mit spitzer Nase und fahlgelber Haut. Eine Decke lag in Falten über ihrem Körper. Die Männer, die an beiden Enden des Bettes anfaßten, waren guter Laune. Einer lachte verhalten auf. Verschiedenes konnte man daraus folgern. Entweder war die Frau nur alt, aber nicht ernstlich erkrankt, oder aber sie war bereits tot. Paul wollte nicht genauer hinsehen. Besonders im zweiten Fall wäre es pietätlos gewesen, sie anzustarren, besonders, da ihr Gesicht frei lag.
Für einen Freitagabend, stellte er fest, war hier ganz schön viel los, auch wenn es noch nicht sehr spät war.
Seine Rechtfertigung, er habe sich mit allen seinen Fähigkeiten und Kräften für kranke Menschen eingesetzt, fand in seinem Inneren keinen rechten Widerhall, das Echo klang falsch, hölzern, und er ahnte, daß da etwas schief gelaufen sein mußte. Wo lag die Grenze, bis zu der sich ein Arzt einzusetzen hatte? Gab es eine solche Grenze? Mußte auch sie überschritten werden bis in die Unendlichkeit der Selbstaufgabe? Genug oder nicht genug, wirkliche Antworten würde es darauf nicht geben, nicht geben können. Dazu waren die Wege und Befindlichkeiten der Menschen zu vielfältig, die Belastbarkeit des Einzelnen zu variabel. Das galt für den Arzt genau so wie für seine Patienten. Und das an jedem Tag neu.
An der Unterkante des Spiegels ihm gegenüber bemerkte Dr. Wieland eine Bewegung. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne, um besser sehen zu können. Etwas Rostbraunes, flach Abgerundetes schob sich hinter dem Glas hervor. Lange, an den Spitzen haarfein auslaufende Antennen sondierten die Luft. Eine Kakerlake zeigte sich, gemächlich wanderte sie bis an den linken Rand des Spiegels. Dort angekommen, öffnete sie kurz ihre Deckflügel. Reflexartig machte Dr. Wieland eine Abwehrgeste mit seinem Arm. Er fürchtete, das Insekt könne ihn angreifen. Aber der Käfer glättete seinen Rücken wieder. „Reingefallen, Angsthase!“ wisperte er. „Du, das habe ich gehört!“ antwortete Dr. Wieland verblüfft. Das freche Tier warf nur einen verächtlichen und zugleich hinterhältigen Blick auf seinen Beobachter, der die Bewegungen der langen Fühler vorsichtshalber im Auge behielt.
In die öde, trockene Stille drang ein Lärm, der sich schnell zu einem Dröhnen aufschwang, und direkt über Pauls Kopf zu entstehen schien. Die Scheiben der Schiebetüren vibrierten kurz, dann ebbte das Geräusch ab und verwandelte sich in ein flatterndes Rauschen, das leiser und leiser wurde und schließlich die Stille wieder freigab. Ein Rettungshubschrauber war auf dem Dach der Klinik gelandet. Die Kakerlake hatte sich in eine schmale Ritze zwischen Spiegel und Wandschrank hineingezwängt. Als das kleine Ungeheuer verschwunden war, lehnte sich Paul erleichtert auf seinem Stuhl zurück und war doch voll von Dank für das makabere Schauspiel, denn eine zunehmend ermüdende Langeweile hatte ihn befallen. Er griff nach seiner Wade und betastete die Muskulatur. Die Spannung im Gewebe war noch da, aber eine schmerzende Stelle konnte er nicht finden.
Auch der Sekundenzeiger seiner Uhr kämpfte mit dem Schlaf. Die Minuten stapelten sich gleichgültig im Raum. Pauls Gedanken drifteten weiter und weiter in die Vergangenheit auf der Suche nach dem Ursprung seines vermeintlichen Fehlverhaltens. Er ertappte sich dabei, einzelne Versäumnisse gegen besonders selbstlose Aktionen aufzurechnen, als könne eine Art von Ablasshandel das Gewissensproblem lösen. Mehr und mehr verdunkelten sich seine Sinne, zu grundlegend waren die Selbstvorwürfe, die er nun gegen sich erhob. Es konnte doch nicht alles falsch gewesen sein! Er wußte keinen Ausweg.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Dr. Wieland öffnete die Augen. Ein freundliches Gesicht beobachtete ihn aufmerksam und nachsichtig. „Na, Herr Kollege, wieder wach? Alles in Ordnung?“ Paul sah auf, der Mann im weißen Kittel lächelte gewinnend. „Ich bin Doktor Schröder, der Ambulanzarzt, bitte kommen Sie. Es tut mir leid, daß Sie warten mußten.“ Dr. Wieland stand auf und folgte ihm. Nur langsam gelang es, zur Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zurückzufinden und sie wieder in Richtung Diesseits zu überschreiten. Aber er fühlte sich gut, die beklemmenden Gedanken waren wie ausgelöscht. Was hatte dieser Warteraum nur mit ihm gemacht! Was mochte in den vielen Leidensgenossen vorgegangen sein, die unter ähnlichen Umständen hatten ausharren müssen. Er nahm sich vor, diesen Erkenntniszuwachs künftig in seine Tätigkeit mit einzubeziehen. Es schien ihm, als sei dies der eigentliche Gewinn des Tages.