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Auf einem Bauernhof

„He Paulchen, fahr´ du doch eben die Kartoffeln zur Genossenschaft rüber. Du weißt ja, wo das ist, warst doch schon mal dabei. Der Knecht ist mit den Pferden beschäftigt.“ Paul wußte vor Schreck nicht, was er antworten sollte, aber Bauer Ernst hatte sich schon abgewendet. So stieg er auf den Traktor und murmelte: „Kupplung, Bremse, Gas.“ So viel wusste er immerhin schon. Schweiß rann ihm kalt in den Nacken. Aber er durfte sich keine Blöße geben. Stadtkinder wie er waren schließlich auch nicht blöd. Irgendwie brachte er das Gefährt in Bewegung und fuhr ruckelnd aus der Hofeinfahrt hinaus, auf die Landstraße, über den Bahnübergang, an dem die beiden Anhänger bedrohlich schwankten, und dann hinüber zu dem langen Gebäude und der Anfahrt neben der Rampe, wo schon andere Fahrzeuge warteten, um ihre Lasten abzukippen. Paul bemühte sich, gelangweilte Lässigkeit zu zeigen. Aber in seinem Inneren kämpften Stolz und Furcht miteinander um die Vorherrschaft. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte man ihm eine solche verantwortungsvolle Aufgabe zugetraut und übertragen. Zum ersten mal überkam ihn eine vage Ahnung, was das Leben bedeutete, was seine eigene Existenz damit zu tun hatte, die sich aus der Ungewissheit seines Kind-seins zu lösen begann.

Beim Mittagessen erzählte Ernst der Bauer in der Runde, was Paul heute geleistet habe. Dieser blickte auf seinen Teller, aber aus dem Augenwinkel sah er doch, wie die Tochter, die von ihrer Mutter nicht nur den Vornamen, sondern auch ihren rustikalen Liebreiz geerbt hatte, ihm einen Blick zuwarf, der ihn verwirrte und etwas in ihm auslöste, das er bisher nicht gekannt hatte. Alles hätte er Gott oder auch dem Teufel versprochen, damit seine heißen Ohren niemandem auffallen sollten. Das war der Augenblick, in dem Paul einen unbekannten Schmerz in sich spürte, der von dem Mädchen herrührte.

Am Nachmittag sah er sie wie zufällig hinter dem Wohnhaus an der großen Scheune stehen, angelehnt an einen der alten, verblichenen Torbalken. Sie war barfuß, ein Bein hatte sie angewinkelt, der Fuß stützte sich auf dem Holz ab. Ihr einfacher Baumwollrock mit schmalem Spitzensaum reichte gerade bis unterhalb der knochigen Knie. Das weisse Hemdchen zeigte schon ein wenig ihre kommende Weiblichkeit. Sie hatte ihr Netz ausgeworfen und überlegte, ob der junge Fisch, den sie fangen wollte, für die Maschen womöglich noch zu klein sein könnte. Einen Versuch war es jedenfalls wert mit dem hübschen Kerl aus der Stadt. Sie würde ihm schon den rechten Weg zeigen. Diese Charaktereigenschaft hatte sie ebenfalls von ihrer Mutter mitbekommen.

Paul kam heran, er trat nah zu ihr, kam ihr, eigentlich nur aus Versehen, zu nah, als daß er sich einfach wieder hätte entfernen können. Er sah ihr Gesicht, sah den roten Mund, wie er sich öffnete und schloß, sah den lebendigen Bogen ihrer Unterlippe, die aufregende Linie der Oberlippe, die an den Mundwinkeln in feinen Wulsten endete, und wie am Mittag war da wieder dieses unbekannte, brennende, unbezwingbare Gefühl. Sie hatte in seinem Gesicht gelesen, was kommen würde, und ihre verführerisch funkelnden, dunklen Augen sagten kapriziös: „Wage es ja nicht!“ Aber es war nicht ernst gemeint, und es war auch schon zu spät. Überraschend, für ihn mehr als für sie, beugte er sich vor und küßte ihre Wange. Er empfand sie als unendlich weich und warm, und sie verströmte einen betörenden Duft, der den ländlichen Geruch von fauligem Kraut, dampfendem Tierdung und ätzender Gülle für einen kurzen, seligen Augenblick überdeckte, wenn er ihn auch nicht ganz auszulöschen vermochte. Pragmatisch, wie Landmenschen auch in jugendlichem Alter schon sind, fragte sie gerade heraus: „mußt du denn unbedingt Arzt werden?“ Sie sprach mit ganz ruhiger Stimme und sah ihn direkt an. Ihre Angriffstaktik , die sie für eben so raffiniert wie unwiderstehlich hielt, scheiterte an seiner jugendlichen Einfalt. Spontan sagte er: „ja, muß ich, das wollte ich doch schon immer.“ Er war stolz auf diese Lebensentscheidung, die sich, solange er denken konnte, unverändert erhalten hatte. Das Leuchten in den Augen des Mädchens ließ nach, Paul bemerkte es nicht. Unwissend hatte er für seinen Traumberuf ein erstes Opfer gebracht, das doch niemand von ihm verlangte. Seine Schroffheit war ihm nicht bewußt, er hatte die Besonderheit dieses Augenblicks nicht verstanden, und für eine egoistische, Vorteil bringende Lüge war er noch zu unverdorben. So gingen sie nebeneinander zurück zum Wohnhaus, und niemals mehr kamen sie sich so nah wie an diesem Tag.

Die letzte Woche seines Aufenthaltes arbeitete Paul auf den Feldern mit. Er arbeitete hart, um seine Dummheit zu vergessen, aber es gelang ihm nicht. Er war damals gerade fünfzehn Jahre alt, aber im Gegensatz zu dem Mädchen war er noch ein Kind. Alt genug, um sich zu verlieben, vielleicht, aber zu jung für eine erste, tiefere Liebe.

Das 17. Instrument

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