Читать книгу Das 17. Instrument - Andreas O. Müller - Страница 15
ОглавлениеDas siebzehnte Instrument
Als Paul irgendwann nach Mitternacht erwachte, wußte er nicht, was ihn geweckt hatte. Er fühlte nur, daß in diesem Augenblick in ihm die erforderliche Intuition wie eine Art großer, innerer Reichweite vorhanden war, um niederzuschreiben, wie es gewesen war.
Was hatte sich damals ereignet, als er das letzte Instrument gebaut hatte, das beste, das ihm je gelungen war in den vielen Jahren, nachdem er dieses Handwerk, wenn auch auf einem dilettantischen Niveau, erlernt hatte, gegen den Widerstand manchen Meisters? Er solle bei seinem eigenen Beruf bleiben, wies man ihn schroff an. Insbesondere die Ausbildungsstätten der Innung waren sehr abweisend. Ihre Argumentation, einer der ihren würde auch nicht zu ihm in den Operationssaal kommen, um ein wenig operieren zu lernen, war nicht von der Hand zu weisen.
Aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dennoch in fremden Wäldern zu jagen und das Handwerk des Streichinstrumentenbauers zu erlernen, seit ihn der Besuch eines Violoncellokonzertes zu einem anderen Menschen gemacht hatte. Solist war einer der bekanntesten Cellisten seiner Zeit gewesen, J. Rastinov.
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Paul erinnerte sich genau an die damalige Szenerie. Er saß mit seiner Frau nicht weit von der Bühne entfernt. Geraune, Murmeln, ein Auflachen in der Menge hinter ihnen. Dann verdämmerte die Deckenbeleuchtung im Saal. Es folgten die Kerzen nachempfundenen Wandlampen, die in Reihen die einzelnen Ränge erhellt hatten. Jetzt war es dunkel in dem etwas altmodischen Raum. Nur die Bühne leuchtete im Licht der Deckenstrahler. Auch die gedämpften Stimmen schwiegen jetzt. Applaus brach los, als Rastinov mit seinem berühmten Violoncello erschien und sich auf einen Stuhl am vorderen Rand des Podests setzte, nachdem er sich in allen Richtungen verneigt hatte. In der nun schlagartig einsetzenden, beinahe andächtigen Stille begann das ehrwürdige Instrument zu klingen.
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Da geschah etwas Seltsames: Paul hatte den Eindruck, als spräche dieses Cello genau die Worte, die er so lang vergeblich gesucht hatte, Worte aus einer anderen, intensiveren Dimension, mit denen sich endlich sagen ließ, wie groß seine Liebe war. Diese raue und doch zärtliche Stimme erreichte die Frau neben ihm, die seine Frau war, die jedes Wort der neuen, überraschenden Sprache mit einem stummen Lächeln entgegennahm, als käme es von ihm, so, als sei er es, der die Gefühle schilderte, die der Komponist mit seinem Werk hatte ausdrücken wollen. Die Musik war wie eine poetische Liebeserklärung und bewirkte, dass sich seine Frau erneut in den Mann an ihrer Seite verliebte. Paul sah es an ihrem Blick, den sie ihm zuwarf, während er sie anschaute. Sie waren sich ganz nah, waren mit sich allein in dem großen Raum, dessen festlich gekleidete Menschen ahnungslos dem Fliessen der Musik folgten. Das Gesicht seiner Frau war im Halbdunkel des Konzertsaales völlig offen, ja nackt gewesen, so wie sie sich sonst niemals zeigte. Er konnte bis auf den Grund ihres Wesens schauen, bis in die innigste Tiefe ihrer Seele.
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Jäh weckte ihn tosender Beifall des Publikums, und er bemerkte, daß ihn die Komposition auf seiner Reise in die Unendlichkeit menschlichen Seins begleitet hatte. Diese Reise selbst, weniger der Klang der Musik, war es gewesen, die ihn süchtig gemacht hatte. Das Erlebnis dieser engsten Verbundenheit mit seiner Frau war es, das er auch später immer wieder gesucht hatte. Es war der intimste Zugang zu einem menschlichen Wesen, den er sich vorstellen konnte, und es war das erste mal, daß er ihn erlebte, so bewußt. Die Liebe zum Klang des Violoncellos war eins geworden mit seinen tiefen Gefühlen für seine Frau.
So jedenfalls empfand er den Abend, an dem ihn die mystische Stimme dieses wunderbaren Instruments gefangen genommen hatte, und in ihm der brennende Wunsch erwacht war, selbst an dem Spiel von Bogen und Saiten teilzuhaben, sie bestimmen zu können in ihrem Tempo, auf den verschlungenen Wegen der Melodie, in dem dominanten und dem nachgebenden Miteinander einer Komposition.
Abgesehen davon, daß er ein Instrument brauchte, das seine bevorzugte Linkshändigkeit berücksichtigte, auch wenn seine Arbeitshand die rechte war, wollte er selbst wie eine Art Vater das Medium, das ihm seine Träume erfüllen würde, selbst erschaffen, es sollte ihm verwandt sein, sollte seine Eigenschaften und Fähigkeiten widerspiegeln, wie ein Kind seinem Vater, seinen Eltern glich, wenn nicht äußerlich, dann doch in seinem Wesen, in seiner inneren Struktur. Nur so, folgerte er, würde dieses Violoncello zum Ausdruck bringen können, was in der Seele seines Erzeugers vorging, was da heraus wollte, hörbar werden, gehört werden wollte. Es war der Beginn eines langen, oft mühevollen Weges gewesen, von dem er niemals abwichen war, und dessen Faszination in all den folgenden Jahren nicht nachließ.
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Sechzehn Instrumente und viele Jahre später begann er zu ahnen, um was es ging, wo die sensibelsten Fähigkeiten gebraucht wurden, um das Klangvolumen, die Farbe und Ausgeglichenheit der Töne vom Baß bis zur hellen, aber doch samtigen A-Saite so aus dem sorgsam bearbeiteten Holz hervorzulocken, daß die Ausdrucksfähigkeit seinen Ansprüchen wenigstens nahekam, daß die Seele des Instruments zu singen begann.
Italienische Geigenbauer hätten die Siebzehn gemieden. Hotels boten kein Zimmer mit dieser Nummer an, man unternahm keine Flugreise an einem Siebzehnten, und es wurde an diesem Tag auch nicht geheiratet, weil die Zahl in Italiens Wertwelt als Unglückszahl galt, so, wie es Paul von der Dreizehn kannte, auch wenn er selbst nicht auf einen solchen Aberglauben hereinfiel. Ausgerechnet das siebzehnte Cello war es schließlich, auf das Paul alle Hoffnungen setzte, wie allerdings auf alle vorigen auch. Aber diesmal verspürte er schon bei der Auswahl der Hölzer, die er nach längerer Suche in einer Tonholzhandlung im östlichen, waldreichen Teil des Landes fand, eine eigenartige Spannung. Seine Hände fühlten in Gedanken schon die seidige Oberfläche des leuchtend geflammten Ahorns, aus dem der Boden von Streichinstrumenten bevorzugt hergestellt wurde. Und sein Ohr konzentrierte sich auf das Echo der Fichtenplatte, das auftrat, wenn er diese an der Kante faßte, und mit dem Knöchel der anderen Hand auf die Mitte klopfte. Klar und deutlich mußte der Ton sein, der dabei entstand. Es fehlten nur noch ein in der Flammung passendes, massives Stück Ahorn für die Ausarbeitung des Halses mit der Schnecke, der das Griffbrett tragen würde, sowie flach gehobelte Streifen aus dem selben Baum, die zum Bau des Zargenkranzes dienen würden. Als er sich verabschiedete, besaß er genau das Material, das eine erste Voraussetzung für das Gelingen seines Meisterstückes war, wie er es nannte, auch wenn er sich keineswegs als Meister des Instrumentenbaus sah.
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Paul lehnte sich im Schreibtischsessel zurück. Sein aufgeschlagenes Bett, das er erst vor Kurzem verlassen hatte, wartete auf ihn, aber selbst die dunkle Nacht draußen vor dem Fenster konnte ihn nicht dazu bewegen, sich wieder hinzulegen. Zu weit war er zurückgekehrt in die Zeit, die ihm eines der bewegendsten Erlebnisse seines Lebens geschenkt hatte.
Er sah im Geiste, wie sich das Zargenholz, im Wasserdampf gefügig gemacht, um die Innenform des Korpus legen ließ, wie die scharfen Ecken an der Taille entstanden und sich an die Eckklötze anschmiegten. Die Erinnerung daran war plötzlich wieder da, es war einer der Arbeitsschritte, der Träume hervorrufen wollte, denen man aber nicht nachgeben durfte, weil sie sich nicht mit der erforderlichen Präzision und Umsicht vertrugen, die das Anpassen der Zargen verlangte.
Paul kannte diesen Konflikt seltsamerweise von ähnlichen Augenblicken, die bei Motorradfahrten im Gebirge aufgetreten waren. Die gewaltige Landschaft der Felsformationen, die Freiheit im Sattel, der anflutende Wind im Gesicht, das sichtbare Atmen der Natur um ihn herum hatten ihn derart umfangen, daß ihm, nur für einen kurzen Augenblick, der Blick für die Realität verloren gegangen war. Die schattige, reifglatte Kurve kam überraschend, und er war gestürzt, glücklicherweise nicht über einen Abhang, sondern auf die Leitplanke der Straße, hinter der sich eine bergig ansteigende Weide erstreckte.
Für das Instrument wie auch für seine Hände wäre ein vergleichbarer Sekundentraum verheerend und schmerzhaft gewesen, denn die verwendeten Messer waren scharf wie Obsidianklingen. Die ständige Konzentration war das eigentliche, kräftezehrende, anstrengender oft als das Handwerk selbst.
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Die erste Bearbeitung der Decke und des Bodens machte heutzutage weniger Mühe als noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Elektronisch gesteuerte Fräsen kamen jetzt zum Einsatz, die dem in der Mittellinie passgenau geschnittenen und symmetrisch verklebten Holz das grobe Profil gaben. Die Komposition des harmonischen Umrisses und die Ausarbeitung der exakten Schichtdicken in den verschiedenen Bereichen der Platten waren dem Können des Geistes und der Hände vorbehalten. Es war der zentrale, kreative Vorgang bei der Erschaffung des Klangkörpers, den keine Maschine leisten konnte.
Paul liebte diesen Arbeitsgang besonders, da dieser vor allen anderen darüber entschied, wie sich der Klang entwickeln würde. Während er mit feinen Messing-Hobeln Span um Span entfernte, ertasteten seine Hände immer wieder die augenblickliche Schichtdicke des Holzes, die von der Mittelachse zum Rand hin kontinuierlich abnehmen sollte. Bei der Decke stieg sie im Bereich der vorgesehenen F-Löcher leicht wieder an, ebenso an der Stelle, die später der Stimmstock einnehmen würde, der zwischen Decke und Boden eingeklemmt wurde, um eine akustische Kommunikation der beiden Platten zu ermöglichen. Ein mechanisches Gerät zur Messung der Schichtdicken benutzte er nur als abschliessende Kontrolle, obwohl dieses bis auf einen zehntel Millimeter maß. Seine Finger waren zwar nicht genauer, aber sensibler, sie konnten außerdem die verschiedenen Härtegrade des Holzes erahnen, die dem Messgerät nicht zugänglich waren, aber bei der Ausarbeitung berücksichtigt werden mussten. Diese Arbeiten dienten nicht nur der Statik, sie ermöglichten auch, die Ausbreitung der Schallwellen zu beeinflussen und die Modulationsfähigkeit des Klanges zu formen. Hier also arbeitete er an Seele und Gehirn seines Cellos, eine Arbeit, die seiner beruflichen Tätigkeit verblüffend ähnlich war. Jedenfalls sah er es so.
Die Fertigung von Boden und Decke hatte sich Paul für Zeiten aufgespart, in denen er sich besonders gut fühlte. Es mußte von innen kommen, er mußte Lust dazu haben, eine spontane Motivation sollte ihn zur Arbeit treiben. Die gelegentlich auftretenden, beengenden Schmerzen über der Brust, die das Atmen erschwerten, nahm er nicht ernst. Von ihnen ließ sich sein natürlicher Antrieb nicht beeindrucken. So war es auch an dem Tag, als er die Flächen glätten wollte. Nach dem Frühstück stieg er die steile Treppe zur Werkstatt hoch und betrachtete das Ergebnis seiner bisherigen Bemühungen. Er kontrollierte die Maße, fand aber keine Abweichungen, die hätten korrigiert werden müssen. Es war also alles bereit für das vorgesehene Tagewerk. Zunächst legte er die Decke mit der Wölbung nach unten in ein weich gefüttertes Gipsbett, das ihm schon für vorausgegangene Instrumente zur Verfügung gestanden hatte. Dann nahm er eine Abziehklinge und schabte längs in der Richtung der Maserung über das Holz der Innenseite. Feine Späne kringelten sich um seine Hand und fielen seitlich weg. Der Duft von Fichten stieg Paul in die Nase und mischte sich mit dem Geruch von Leinölfirnis, der aus einer undichten Flasche strömte. Das Abziehen der Innenfläche beseitigte letzte Unebenheiten. Paul nahm die Platte aus der Schale, drehte sie um und fixierte die Ränder mit Klemmen. Die Bearbeitung der Außenfläche sollte nicht mehr zu einer wesentlichen Veränderung von Dickenverhältnissen führen, es war eine ästhetische Anforderung, die er mit getrockneten Schachtelhalm-Stängeln und schließlich mit Schlämmkreide erfüllte. „Wie die Haut einer schönen Frau muß es sich anfühlen“, dachte Paul, als seine Hände zart über die glatten Rippen der Maserung strichen, und er eine fast erotische Ausstrahlung zu spüren glaubte.
Etwas unwillig nahm er sich am Nachmittag der Bodenplatte an, deren Flächen er in ähnlicher Weise verfeinerte. Das Ahornholz war wesentlich härter und setzte der Bearbeitung größeren Widerstand entgegen. Einmal mußte Paul das Hobelmesser nachschleifen, dann sah er sich zu einer weiteren Unterbrechung gezwungen, da die Knöchel seiner rechten Hand zu bluten begannen im ständigen Kontakt mit dem welligen Hartholz. Die kleine Pause tat ihm gut, denn das Atmen fiel ihm wieder einmal schwer. „Ich sollte etwas langsamer machen“, dachte er. Aber der Vorsatz war schnell vergessen, und bis zum Abend war auch diese Arbeit vollendet. Er setzte sich auf die Kante der Werkbank und betrachtete das flammende Holz, das sich von der Mittellinie zu den Seiten hin leicht abfallend wie eine Fischgräte ausbreitete. Trotz sorgsamer Hobel- und Schleifarbeit blieben minimale Höhen und Tiefen erhalten, wenn auch das wiederholte Darübergleiten der Hand diese nicht als Unregelmäßigkeiten wahrnahm.
Für die nächsten Tage sah er vor, mit besonderer Aufmerksamkeit Boden und Decke ihre vollendeten Konturen zu geben. Anschließend würde er die Adergräben ausheben und schmale, schwarz-weiße Holzstreifchen einleimen. Diese Einlagen betonten die Umrisse des Korpus, in erster Linie ging es aber darum, die Ränder zu verstärken. Jede kleinste Abweichung von der Ideallinie wurde jetzt sichtbar, jede Unaufmerksamkeit, jede Eile bei der Perfektionierung der Kanten wurde bestraft, da der Adergraben exakt dem Umriss folgte.
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Monate hatte es in Anspruch genommen, bis „das Siebzehnte“ oben in der Werkstatt darauf wartete, daß Paul kommen würde, um ihm Leben einzuhauchen. Monate, die mit angespannter, ungeduldiger Anspannung gefüllt waren, immer wieder unterbrochen von Tagen, an denen er sich auf sein Motorrad geschwungen und die Hügellandschaft im Norden des Sees aufgesucht hatte, um seiner Motivation die notwendige frische Kraft zu verschaffen, wenn er in einer schwierigen oder besonders mühsamen Phase zu erlahmen drohte.
War er zuhause, so wanderte sein Herz manchmal hinaus auf die Höhen, wo der Blick unbehindert bis zu den Alpen reichte, besonders, wenn Föhnwind aufstieg. Hatte er sich aber einmal von der Arbeit losgerissen und stand schließlich mit noch laufendem Motor an der schmalen Straße, die von den Einheimischen „der alte Postweg“ genannt wurde, dann drängte es ihn, umzukehren und endlich sein Werk zu vollenden, von dessen Gelingen so viel für ihn abhing. Das Hin-und-Hergerissen-Sein zeigte das quälende Ausmaß seiner Befürchtungen, dieses Cello könnte sich über das Mittelmaß seiner Vorgänger nicht erheben. Denn ein wieder nur durchschnittlich geratenes Instrument würde nicht die Kraft haben, Pauls Sehnsucht nach der Musik gerecht zu werden, die in ihm war, die er bei Tag und bei Nacht zu hören meinte, und die für ihn wie ein erlösendes Ziel geworden war. Versagensangst hatte ihn befallen, und so vergingen Wochen in einer seltsamen, ungeduldigen Passivität. Es war ihm, als fahre er in einem Auto mit Vollgas und zugleich angezogener Handbremse.
Der Herbst kam, und mit der Tristesse der Jahreszeit wuchs das Verlangen, endlich die Stimme des „Siebzehnten“ zu hören, das wirklich werden zu lassen, wofür er sich den ganzen Sommer über gequält und eingeschränkt hatte.
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Als Paul die Treppe zur Werkstatt nahm, klopfte sein Herz heftig, und als er das Cello in seiner weißen Unschuld erblickte, da durchglühte ihn eine solche Freude, daß er mit einem Schluchzen auflachte. Eine flüchtige Rührung kam in ihm hoch, die in eine Art von Zärtlichkeit umschlug. Er griff nach dem Hals mit der elegant geschwungenen Schnecke, zog den seidig glänzenden Körper an sich und dachte: “egal, wie du klingen magst, du bist die Schönste von allen!“ In diesem Augenblick war es, als läge ein hilfloses, geliebtes Wesen in seinem Arm, das ihm vertraute und darauf hoffte, er möge ihm eine Stimme geben, damit es ihm danken könne für seine Existenz.
Paul war sich im klaren darüber, daß er einer Sentimentalität zum Opfer fiel, aber er schämte sich dessen nicht. Vielmehr griff er nach dem langen Griffbrett aus tief schwarzem Ebenholz, dessen Oberfläche bereits abgerichtet war, und setzte es mit drei Punktklebungen auf die plan gehobelte Fläche des Halses. Nach dem Trocknen wollte er zunächst die Saiten aufziehen und einen ersten Klangversuch machen. Das würde der entscheidende Schritt sein, gegen den er sich in letzter Zeit so widersprüchlich gewehrt hatte.
Paul schnitt die Stegfüße entsprechend der Wölbung der Decke, stellte ihn auf seine Position und führte die Saiten, eine nach der anderen, vom Saitenhalter, der aus einem leichten Stück Palisander gearbeitet war, über die Kerben der bogenförmigen Stegoberkante bis hinauf in den Wirbelkasten. Von Minute zu Minute wuchs die Spannung in ihm, denn während das Heranwachsen seines Geschöpfes bereits komplikationslos verlaufen war, würde das Erklingen seiner Stimme den Beginn des Lebens kennzeichnen, wie das Neugeborene mit dem ersten Schrei seinen Lebenswillen und seine Lebensfähigkeit zum Ausdruck bringt, wenn auch in weniger harmonischer Weise.
Wie er es geschafft hatte, das jetzt spielfertige Cello nochmals abzustellen und bis zum nächsten Tag mit der ersten Prüfung zu warten, konnte er später nicht mehr nachvollziehen. Seine bewußte Absicht war es gewesen, dem Instrument die Möglichkeit zu geben, sich an den Zug der gespannten Saiten zu gewöhnen, es sollte ein Prozess der Anpassung an die neuen physikalischen Verhältnisse ablaufen, wie ein Pferd erst die Scheu vor dem ungewohnten Zaumzeug verlieren muß, ehe es folgsam seinem Reiter gehorcht. Aber es konnte auch die Angst davor gewesen sein, wieder nur mäßigen Durchschnitt erreicht zu haben.
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Am nächsten Morgen, es war der sechsundneunzigste Tag seit dem Beginn der Arbeit, erwachte er früh und betrat bald danach die Werkstatt. Er trug das Instrument nach unten, setzte sich ans Klavier und konzentrierte sich darauf, die Saiten nachzustimmen, mit der A-Seite, der höchsten, beginnend. Erst als alle drei Quinten exakt miteinander harmonierten, beendete er den Vorgang.
Unbehagen, Bedenken, Hemmungen, Furcht, alles war plötzlich wie weggezaubert. Paul hatte sich vorgenommen, zuerst die vier Saiten einzeln zu prüfen, um ihre Ansprache, das Klangverhalten, das Auftreten von ungewollten Nebentönen kennenzulernen. Er wählte dafür einen Bogen aus geflecktem Schlangenholz, den ein Meister aus Brasilien angefertigt hatte. Das seltene Stück war ihm von einem Händler in Cremona angeboten worden, als er auf einer seiner Reisen das dortige Geigenbaumuseum besuchte. Die kleine Werkstatt lag eine Straße weiter, hinter einem steinernen Durchgang, und war ihm nur aufgefallen, weil ihn die Hinterhofatmosphäre angelockt hatte.
Dieser Bogen ermöglichte nicht nur einen besonders sanften, feinen Klang, sondern er konnte auch kräftig und dominant auf die Saiten einwirken. Seine uneingeschränkte Beherrschung einer Spannweite vom leisesten Piano bis zum schrecklichsten Fortissimo hatte Paul bewogen, den hohen Preis zu bezahlen, obwohl die Konsequenz eine Kürzung der Tour gewesen war, aus finanziellen Gründen.
Paul drehte die Schraube am Frosch und prüfte die Spannung der Rosshaare. Dann zog er den Bogen bedächtig, mit leichtem Druck zum ersten mal über die tiefe C-Saite. Alles hing davon ab, was jetzt geschehen würde.
Ein unglaublich voluminöser, kräftiger, majestätischer Ton drang aus den Schall-Löchern in den Raum, füllte diesen aus und war doch nicht bedrückend für Pauls erwartungsvolles Gehör. Vibrationen griffen von dem noch unlackierten Holz dieses Instruments auf Pauls Hände über und drangen weiter in seinen Körper ein, sodaß er glaubte, ein Teil der tiefen Schwingungen geworden zu sein, selbst zu klingen in diesem an Obertönen so reichen Klang. Wie eine Dosis Heroin rann die Erinnerung an das Konzert und an all das, was damals emotional mit ihm geschehen war, in seine Adern. Aufgeputscht ließ er den Bogen hin und her gehen, konnte nicht aufhören, dieses unerwartet beruhigende, zugleich aufwühlende, so sehr erhoffte Klangerlebnis fortzusetzen, das sich auch auf seiner Haut und überall in ihm ausbreitete. Dieser eine, erste Ton war wie die ganze Melodie eines Liedes, das kein Ende haben sollte, weil es eine Zauberkraft besaß, die augenblicklich süchtig machte. Um Reaktionen auf die Vielfalt der Spieltechnik zu prüfen, änderte Paul den Bogendruck, führte den Bogen einmal schneller, dann langsamer, ließ ihn springen, strich nahe am Steg, dann am Ende des Griffbretts. Jede Variation beantwortete dieses wunderbare Instrument mit verändertem Ausdruck, wurde laut und leise, sanft und stark, traurig und tröstend.
Paul begann zu verstehen, wie wichtig das individuelle Instrument für die Interpretation einer Komposition war, wichtiger vielleicht als der Cellist, der doch auf das Timbre seines Cellos angewiesen war und sich ihm beugte, so wie auch das Cello dem Ausdruckswillen des Musikers folgen musste. Dieses Zusammenfinden ließ etwas entstehen, das dem Medium Musik eine überirdische Wirkung verlieh, und in seltenen Augenblicken offenbarte sich dem sensitiven Zuhörer eine andere Welt.
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Es war immer noch die leere Baßsaite, die nicht aufhören wollte, sich selbst zu finden. Dann jedoch änderte Paul den Ansatzwinkel des Bogens und gelangte auf die eine Quint höher gestimmte G-Saite. Es wiederholte sich, was zuvor geschehen war. Auch das „G“ sang in einer reinen, klaren Frische, die diese Tonlage nicht selbstverständlich gewährte. Was für ein Erlebnis, beide Saiten zusammen zu hören, eine erregende Quint, die allerdings eine perfekte Harmonie der Schallwellen erforderte.
Jetzt wollten Pauls Hände von seiner Absicht, jede Saite einzeln zu prüfen, nichts mehr wissen. Vielmehr überließen sie die weitere Führung seinem Temperament und dem Bogen. Erst meldeten sich, Regentropfen gleich, einige noch zögernde Töne in Folge, dann öffnete sich die improvisierend nachempfundene Melodie eines stillen, schweigenden Waldidylls im Raum, verwandelte ihn in eine baumumstandene Lichtung. Helle Synkopen begleiteten mehrere Rehe, die mit lang gestreckten, schlanken Leibern in elegantem Flug eilig die Lichtung überquerten. Die Kühle unter den Baumkronen trieb in langsamen Triolen über taufeuchtes Gras, sogleich übertönt von einer Gruppe Achtelnoten, die wie zwitschernde Vogelstimmen der noch tief stehenden Sonne entgegen jubelten. Rasch steigende und fallende Halbtonfolgen in den hohen Lagen schwirrten und summten wie eine Wiese voller Insekten. Paul versank immer weiter in der Musik, während sein Gehirn vergeblich versuchte, sich zu behaupten, um die zunehmende Lebendigkeit der Melodie an seine rechte Hand weiterzugeben. Alles vollzog sich wie von selbst, als hätten seine Finger nie etwas anderes als dieses Zauberstück hervorgebracht. Er spielte bis in die Nacht, seine Hände begannen zu schmerzen, aber er bemerkte es nicht. Seine Seele war auf einer Reise, von der er nicht zurückkehren wollte. Und so sank er schließlich erschöpft, wie bewußtlos von seinem Stuhl herab auf den Boden. Es war eine Reise, von der er tatsächlich nur mit viel Glück zurückkehren sollte. Das siebzehnte Cello hatte ihn seiner Erfüllung, aber auch seinem Ende gefährlich nahe gebracht. Irgendwann in derselben Nacht mußte die Bewusstlosigkeit in einen tiefen Schlaf übergegangen sein, aus dem er jetzt erwachte. Er lag auf dem harten Fußboden, das Violoncello lag unversehrt in seinem Arm wie ein schutzbedürftiges Kind.
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Paul sah die Morgendämmerung durch das Fenster blinzeln und blickte nach der Uhr. Die vergangenen Stunden hatte er damit verbracht, die Geschichte der „Siebzehnten“ aufzuschreiben, sich zu erinnern, wie alles gekommen war, und daß die damaligen Anstrengungen, vor allem aber die Ekstase des ersten Spiels zu seinem Tod hätten führen können. „Ein solcher Tod“, dachte er, “wäre eigentlich nicht das schlechteste gewesen“. Er war zu jenem Zeitpunkt schon niemandem mehr Verantwortung schuldig gewesen, hatte für keine Menschenseele zu sorgen, und hätte ohne Bedenken gehen können. „In einem solchen Glückszustand aufzugehen, sich darin zu verlieren, sich aufzulösen in einem mentalen Höhepunkt des Lebens-das ist ein wahres Geschenk“.
Aber wenn er auf die Zeit danach zurückschaute, erfreute es ihn, daß sein Leben damals noch nicht zu Ende ging. Vieles hatte noch geschehen können, und seine Neugier und sein Herz waren ungebrochen. Die seit einem Jahr unverändert anhaltende Virus- Pandemie würde an seinen Plänen nichts ändern, das war jedenfalls seine Hoffnung.