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Die Grippeimpfung

Es war Herbst, höchst Zeit also, einen Schutz gegen die alljährliche Grippe aufzubauen. Ganz besonders auch im Hinblick auf die Pandemie. Sollte er, oder sollte er nicht? Seine neue Ärztin meinte nicht nur, er solle, sondern er solle gleich doppelt. Damit meinte sie eine zusätzliche Zeckenschutzimpfung, die zwar nicht gegen Borreliose, aber doch wenigstens gegen die noch gefährlichere Meningoenzephalitis schützte. Paul hatte diese Impfungen in den letzten Jahren vernachlässigt, einen speziellen Grund hätte er nicht anführen können. Im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie sah er sich aber gezwungen, hierzu erneut Stellung zu nehmen, vor allem in seinem eigenen Interesse. Er hatte keine prinzipielle Abneigung gegen solche Maßnahmen, das bewies ja seine Bereitschaft in den vergangenen Jahren, sich regelmäßig immunisieren zu lassen. Und es hatte auch nie Komplikationen gegeben, die ihn davor hätten zurückschrecken lassen. Also sollte er, oder sollte er nicht? Es dauerte nicht lange, bis er sich entschieden hatte. Die Kollegin, die bis dahin irgendeine unbekannte Person für ihn gewesen war, wurde nun zur Hauptakteurin in dieser Sache. Es war keine Frage, beide Spritzen an ein und demselben Tag zu akzeptieren. Er würde das schon aushalten. Nicht die Injektion, das war nebensächlich. Es ging um die zwangsläufige Zumutung für sein Immunsystem, das doppelte Arbeit würde leisten müssen. Aber auch darüber erlaubte er sich keine Diskussion. Paul hatte sich dafür entschieden, und es war, wieder einmal, ein mehrgleisiger Entschluss gewesen, denn diese Ärztin schien nicht nur kompetent zu sein, sie war darüber hinaus auch jung, hübsch und selbstbewußt. Solche Attribute fanden nicht bei jedem Arzt beziehungsweise bei jeder Ärztin zusammen, und diese Gelegenheit, allen seinen Motivationen zugleich gerecht zu werden, wollte er sich nicht entgehen lassen. Er bekam einen Termin, der zeitlich so günstig lag, daß er anschließend noch eine Fuhre Holz für seinen Ofen würde besorgen können. Das war insofern wichtig, als am folgenden Tag ein strenger Lockdown bevorstand, dem die Öffnungszeiten seines favorisierten Baumarktes zum Opfer fallen sollten. Damit versiegte seine Brennstoffquelle, und er wußte noch nicht, wie es in dieser Hinsicht weitergehen sollte.

Das Wartezimmer der Landpraxis, die er zum ersten mal betrat, überraschte ihn mit einer persönlichen, hellen und freundlichen Atmosphäre. Das Mobiliar war weiß lackiert und verstand sich gut mit dem rehbraunen Laminatboden.

Der Raum hatte die Form eines langgezogenen Dreiecks, dessen Basis zu einer Streuobstwiese mit alten, knorrigen Bäumen auf der anderen Straßenseite zeigte. Überdacht wurde das Wartezimmer von einer Holzkonstruktion, zu der sich der Architekt durch den nahegelegenen See hatte inspirieren lassen. Das konnte man deutlich sehen. Denn die braun lasierten Balken wölbten sich wie eine überdimensionale Fischgräte über Pauls Kopf. Vielleicht waren es auch die Spanten eines umgedrehten Fischerbootes. Auch davon gab es genügend am See.

Die Front zur Straße war weitgehend verglast, bis zum Boden herab, was die Lichtfülle erklärte, die fast blendend über dem Bodenbelag und der Möblierung lag. Vor der Glasfront gab es eine holzbeplankte Terasse, die auf einer Betonsäule ruhte und den dreieckigen Grundriss des Raumes zu einem Rechteck erweiterte. Die Bäume auf der Wiese waren spätherbstlich kahl. Wenige zerknitterte, ausgelaugte Blätter klammerten sich an schwarze Zweige, als könnten sie im nächsten Frühjahr wieder ergrünen. Höher reichende Äste bildeten miteinander skurrile Figuren, manchmal von Baum zu Baum reichend. Paul erkannte ein Herz und eine Bäuerin, die ein Bündel auf ihrem gebeugten Rücken trug. Je mehr er schaute, desto vielgestaltiger wurden die Figuren. Aber je länger er sie fixierte, desto mehr verschwammen sie vor seinen Augen.

Jetzt war die Reihe an ihm. Er folgte seiner neuen Favoritin in den Behandlungsraum und setzte sich. Auch hier fühlte er sich sofort intuitiv wohl, wobei nicht klar war, ob die Ursache räumlicher oder menschlicher Natur war. Einige anamnestische Fragen, insbesondere zu Allergien und sonstigen Unverträglichkeiten gegen Arzneimittel waren schnell beantwortet. Ehe er richtig begriff, wurde er gebeten, erst die linke, dann die rechte Schulter frei zu machen. Die Nadeln drangen in seine Muskulatur, ohne daß er etwas bemerkt hätte. „Fabelhaft machst du das“, dachte er. Frau Doktor klebte Zettelchen in seinen Impfpass, stempelte mehrfach und schob ihm das gelbe Heft wieder zu. „Also dann bis zum nächsten mal!“ Sie sah ihn professionell freundlich an und stand auf. „Und bitte nicht anstrengen in den nächsten Tagen!“ „Was ist jetzt mit meinem Holz?“ überlegte Paul. Aber er sprach es nicht aus, es war nur sein Gedanke. Schon wieder ging es um „soll ich oder soll ich nicht.“ Er dachte an die behagliche Kaminwärme zuhause und entschloss sich, diese eine Fahrt doch noch zu wagen. Die Zentralheizung anzustellen, das kam für ihn nicht in Frage. Das wäre total unsportlich gewesen, auch wenn es eine Alternative darstelle. Aber die Wärme eines Holzfeuers konnte durch nichts ersetzt werden, egal ob es ein Lagerfeuer oder ein Kaminfeuer war. Er dachte an das Knistern, an den herben Geruch im Zimmer, an das Flackern der Flammen, deren Lichtschein an den Tapeten hochzüngelte. Wer redete von Feinstaubemissionen im Angesicht der großen Pandemie!

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Das Holz türmte sich, in Säcken aufgeschichtet, an den wenigen freien Wänden seines Wohnzimmers hoch, das dadurch wie ein Lagerraum aussah. Auch das Treppenhaus, den Flur, und sogar das Badezimmer hatte er vollgepackt. Aber es war nicht ungemütlich, denn seine Vorräte versprachen auch für die nächsten Wochen viele gemütliche Stunden, die er mit lesen, nachdenken und dem Aufschreiben von Notizen für ein geplantes Buch verbringen würde, wenn er nicht gerade seine tägliche Wanderung über die nahegelegenen Hügel machte. Als ihn eine große Müdigkeit überfiel, kämpfte er nicht dagegen an, sondern arbeitete sich zwischen den Holzsäcken hindurch ins Bad und ließ sich kurz darauf in sein Bett fallen.

Irgendwann in der Nacht wurde er von einem Hitzegefühl wach. Das Atmen fiel ihm schwer, weshalb er sich aufsetzte. Wegen eines einsetzenden Schwindels ließ er sich aber gleich wieder in die Kissen zurückfallen. „Da haben wir den Salat“, dachte er, mehr ärgerlich als besorgt. „Warum habe ich mich nur überrumpeln lassen und diese Doppelimpfung akzeptiert?“ Er wußte warum, wollte es aber nicht wahrhaben in diesem Augenblick. Hätte er vielleicht seinen Status als Privatpatient verheimlichen sollen, und daß er Kollege war? Es wäre zu albern gewesen. Ein Stechen im Rachen zwang ihn, zu hüsteln, es kratzte unangenehm. Vielleicht war er auch selbst schuld an dem ganzen, weil er gegen ärztlichen Rat doch noch seine Ladung Holz nach hause geholt und die drei Etagen hochgeschleppt hatte, anstatt sich zu schonen. Aber was hätte er sonst tun sollen? Es war die letzte Gelegenheit gewesen. Die Pandemie, oder vielmehr die Gegenmaßnahmen galten für alle, ohne Ausnahme. Zuwiderhandlungen, so konnte man überall erfahren, wurden konsequent geahndet. Und das konnte teuer werden.

Der Hals gab keine Ruhe. Paul schlug die warme Decke zurück und setzte sich für einen Augenblick auf die Bettkante, um seinem labilen Kreislauf die Möglichkeit zu geben, sich auf die bevorstehende Belastung vorzubereiten. Dann stand er auf und schlich durch die dunkle Länge seines Wohnzimmers zum Kühlschrank, der ganz hinten in einer Nische hinter einem kleinen Steinbogen stand. „Eine Milch wäre jetzt das richtige,“ vermutete er und nahm einen Schluck. Jedoch reizte die kalte Flüssigkeit seine Schleimhäute noch mehr und provozierte einen lästigen Hustenanfall. Jetzt meldete sich wieder die Atemnot. „Besser, ich lege mich wieder hin“, beschloß er. Bald war er wieder eingeschlafen.

Kurz darauf drang ein störendes Geräusch an sein Ohr. Es klang wie eine heisere, blecherne Megaphonstimme. „Bleiben Sie in Ihren Häusern“, schnarrte es, „betreten Sie nicht die Straße!“ Was war denn das? Hatte es mit dem für den folgenden Tag beschlossenen Lockdown zu tun? Der Einzelhandel sollte geschlossen bleiben, Lebensmittelläden natürlich nicht. Aber auch Gaststätten, Baumärkte und Schulen, vor allem auch die gesamte kulturelle Szene würden betroffen sein. Hatte man die geplanten Maßnahmen verschärft? Die Situation war skurril und unübersichtlich. Als er das schräge Dachfenster öffnen wollte, um sich einen Überblick zu verschaffen, musste er feststellen, daß es sich nicht hochkippen ließ. Hatte man es etwa von außen verschraubt, um seine Flucht zu verhindern? Ein erneuter Schwindelanfall zwang ihn, sich wieder hinzulegen. Paul dachte daran, den ärztlichen Notdienst zu benachrichtigen. Den würden sie doch hoffentlich durchlassen. Aber er erinnerte sich nicht an die Rufnummer, er wußte nur noch, daß sie aus drei Ziffern bestand. Licht wollte er nicht anschalten, um nicht auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Man konnte nie wissen. Die Pandemie musste aus dem Ruder gelaufen sein. Anders konnte er sich diese rigorosen Durchsagen, die auf der Straße unaufhörlich wiederholt wurden, nicht erklären. An sich begrüßte er alle Schutzmaßnahmen. „Aber warum müssen sie auf diese brutale Art und Weise umgesetzt werden?“

In dieser Nacht, in diesen Stunden mussten die Wirkstoffe der beiden Impfungen von der Muskulatur in seine Blutbahn übergetreten sein, um dort die erwünschten Abwehrmechanismen in Gang zu setzen. Zugleich aber lösten sie eine psychotische Reaktion aus, die für Pauls unruhige Nacht verantwortlich war.

Als er am Morgen erwachte, hörte er den Lärm von Fahrzeugen auf der Straße. Drüben am Bach führte ein Mann seinen Hund an der Leine spazieren. Nichts deutete auf Zwangsmaßnahmen hin.

Das Fieber, wenn es überhaupt eines war, hatte sich wieder verflüchtigt. Paul fühlte sich ausgeschlafen. Alles musste ein Traum gewesen sein. Nur die beiden Einstiche an den Schultern waren etwas druckempfindlich. „Mein Gott, was für eine Horrordroge hat sie mir verpasst!“ Gleich musste Paul über diesen unsinnigen Einfall lachen. Schließlich war er selbst es gewesen, der die Spritzen in der Apotheke besorgt hatte.

In seinem Inneren schien es einen Teich zu geben, der angefüllt war mit den verschiedensten Sorgen und Befürchtungen, überlegte Paul, ein tiefes Gewässer, aus dem ein Traumwächter mal diesen Schrecken, mal jene Angst herausfischte und mit ihnen spielte, bis es ihm langweilig wurde, und er sie wieder tief auf den Grund des Unterbewusstsein hinab sinken ließ.

Das 17. Instrument

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