Читать книгу Das 17. Instrument - Andreas O. Müller - Страница 14
ОглавлениеDas Motorrad
Er stand in seinem siebzigsten Lebensjahr, als ihn das Motorradfieber erfasste. Da Paul die Fahrlizenz bereits vor fünfzig Jahren erworben, wenn auch danach nur kurz beansprucht hatte, gab es keine behördlichen Probleme für ihn, und er konnte sich der merkwürdigen, wenn auch nicht seltenen Alterserscheinung hemmungslos hingeben, wie er es schon immer getan hatte, wenn etwas Faszinierendes seinen Weg kreuzte.
Paul war einige Jahre zuvor verwitwet, und nachdem es ihm gelungen war, sein Leben neu zu ordnen, war es nur folgerichtig, dass er dieser neuen Liebe verfiel, als sie ihm ganz unerwartet begegnete.
Obwohl er mit seiner verstorbenen Frau während siebenunddreißig Ehejahren sehr innig verbunden gewesen war, hätte er sich in seiner ungebrochenen Vitalität dennoch prinzipiell einer neuen Lebenspartnerin zuwenden können. Aber das wäre ihm emotional nicht gelungen. Er wollte keine solche Nähe mehr zu anderen Menschen. So hatte er die bedrängenden, ja aggressiven Annäherungen mehrerer Witwen in seinem Heimatort ziemlich schroff abgewehrt.
Doch dann hatte er einen Film über die Bergfahrt eines Bikers gesehen - wild hinauf im Nordwesten über zahllose steile, enge Kurven, und jenseits der Passhöhe die langgezogene Piste durch blühende Bergwiesen nach Südosten wieder hinunter. Er hatte sich Hals über Kopf verliebt. Verliebt in die wilde Alpenlandschaft, in die schmalen, abenteuerlichen Straßen und ungesicherten Wege, die mit einer schier grenzenlosen Freiheit lockten. Sein altes Herz hatte so freudig und jung geschlagen wie lange nicht mehr. Paul wußte, daß er das Ruder am Schiff seines Lebens noch einmal herumreißen konnte.
Nur zwei Monate später hatte er seinen Traum wahr gemacht. Er saß im Sattel seiner neuen Maschine. Von Anfang an empfand er es als erregend, ja beglückend, wenn der Fahrtwind gegen den Helm drückte und sein Gesicht kühlte, und die Landschaft an ihm vorbei nach hinten wegflog, wenn Regen eine Melodie auf dem Visir spielte, und das tiefe, brummende Arbeiten des Motors, das Stampfen der Kolben in den beiden großvolumigen Zylindern in seinen Beinen zu spüren war. Er liebte es, wenn der metallische Geruch der mattschwarz lackierten Krümmer zu ihm hochstieg, und ihn die in der Sonne blitzende Zwillingsarmatur vorne am Lenker blendete. Wenn die Räder surrend über knirschenden Schotter rollten, irgendwo in einer verlassenen Gegend, wenn Sommerwind ihn wärmte auf steigenden Serpentinen und den dampfenden Geruch von Asphalt zu ihm hochwirbelte, dann konnte er sein Glück nicht fassen, sog es tief in sich hinein, so wie der Hamster sich die Backentaschen mit Nüssen vollstopft, um lange davon zehren zu können. Das alles war so wirklich, so echt, so greifbar, daß ihm in der Sentimentalität seines fortgeschrittenen Alters die Kehle eng wurde. „Vor Glück weinen können“, dachte er, “das ist es.“