Читать книгу Das 17. Instrument - Andreas O. Müller - Страница 16
ОглавлениеPaul, Christian und Max
Es war ein kleines Dörfchen, durch das Paul und seine Kameraden fahren mussten, wenn sie von der Stadt bis zum Flußufer radeln wollten, um das dortige Strandbad zu besuchen. Am Ortsausgang kamen sie an der Umsteige-Haltestelle der Linie 4 vorbei, die ab hier einspurig verkehrte. An der Brücke über den bogenförmig verlaufenden, vom Hauptfluß abgetrennten Seitenarm lag eine Zwischenstation. Gleich hinter der Brücke machte die Straße eine leichte Biegung nach rechts, um dann geradewegs bis zur Endstation vor dem Eingang des Bades zu führen. Das Bahngleis begleitete die Straße wie eine lange, überdimensionale Leiter. Einen eigenen Fahrradweg gab es damals noch nicht, man hielt sich ganz rechts auf der Fahrbahn, immer in Furcht, von unvorsichtigen oder rücksichtslosen Autofahrern in die seitlichen Büsche abgedrängt zu werden. Wenn sich dann auch noch Gegenverkehr näherte, war es besser, abzusteigen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Schienen liefen an der Endstation links neben den Eingangsstufen zum Bad in eine weit ausholende, durch den angrenzenden Wald verlaufende Wendeschleife. Der holperige und schlaglochreiche Asphalt der Straße mündete in einen großen, von zahlreichen Kastanienbäumen beschatteten Parkplatz. Einige der Bäume trugen karminrote Blüten im grünen gefiederten Laub, auf die sich Paul wegen des lebhaften Farbkontrastes in jedem Jahr besonders freute.
Auf der rechten Seite der für Autos reservierten Sandfläche schloß sich eine Abstellmöglichkeit für Fahrräder an. Hier standen dicke, alte, knorrige Eichen. Vier Reihen von langen, durch Metallbänder miteinander verbundenen Balken wurden an heißen Sommertagen, besonders an Wochenenden, durch hunderte von Rädern völlig verdeckt. Es war nicht einfach, am Abend das eigene in mitten des Gewirres von unzähligen Speichen, Sätteln, Gepäckträgern und Lenkstangen ausfindig zu machen, wenn die Metallrahmen wieder einmal wie Dominosteine übereinander gefallen waren.
Max und Christian mussten schon früher angekommen sein. Paul erkannte eines ihrer Fahrräder an den seitlich am Gepäckträger angeschnallten, rot-grün karierten Satteltaschen. Er stellte seines daneben und drückte das bogenförmig um die Felge des Hinterrades greifende Speichenschloss zu. Mit seinem Matchsack über der Schulter ging er auf die Eingangstreppe zu, deren langgezogene Stufen zu den Kassenhäuschen hinaufführten. Links neben den Häuschen, stand ein ehemals weiss lackiertes, jetzt aber verrostetes und verschmutztes Drehkreuz, das jedesmal einen schrillen Schrei ausstieß, wenn man sich hindurchzwängte, um hinaus zu gelangen. Dort begann der Drahtzaun, der das ganze Badeareal umfing und zum Überklettern zu hoch war.
Es gab in dem kleinen Eingangsgebäude vier nebeneinander liegende, verglaste Kabinen, in denen Angestellte des Strandbades saßen und Eintrittskarten verkauften. Meist waren es ältere Frauen mit unfreundlichen, grauen Gesichtern. Jeweils in der Mitte dazwischen waren armdicke, verzinkte Metallrohre in den Boden eingelassen, um die bei sonnigem Wetter häufig langen Schlangen vor den Kassen voneinander zu trennen. Ungesehen an den Kassiererinnen vorbeizukommen, war so gut wie unmöglich, mehrere Versuche waren entdeckt worden, jedoch glücklicherweise ohne ernstere Konsequenzen geblieben. Einmal hatte sie einer der Bademeister, ein älterer, beleibter Mann mit einem weissen, struppigen Schnurrbart, erwischt, als es ihnen doch gelungen war, sich geduckt zwischen den Hosen und Röcken der Erwachsenen hindurch zu drücken und hineinzugelangen, weil eine der Frauen sich durch Streitigkeiten am Kartenschalter hatte ablenken lassen. Der Mann war ihnen aber nur ein paar Schritte gefolgt und hatte dann die Jagd aufgegeben. Sein kleines Lächeln war ihnen auf der Flucht verborgen geblieben. Paul und die anderen Jungen waren noch Kinder und hatten für das Eintrittsgeld lieber eine der Eistüten gekauft, die im Inneren des Bades an mehreren Kiosken angeboten wurden. Mädchen hatten sich an diesen kleinen Abenteuern nicht beteiligen wollen. In ihrem Kinderalter hatte das aber noch keine Rolle gespielt, ja es war sogar alles spannender und lustiger ohne sie. Später einmal würde sich das gehörig ändern.
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Das Innere des Strandbades war sehr weitläufig. Als es Paul endlich geschafft hatte, innerhalb der Sperren anzukommen, ging er mit seinem Gepäckstück, das jetzt unter seinem Arm klemmte, am Minigolfplatz vorbei und dann auf einem rotsandigen Weg nach links, bis er bei dem Restaurantgebäude auf Beton trat, der den weiteren Weg bedeckte. Das Restaurant konnte nicht nur von hier sondern auch von außen, von den Parkplätzen her, betreten werden. Deshalb wurden am inneren Eingang bei den Außentischen, die hinter einer grünen Hecke standen, die Eintrittskarten manchmal kontrolliert. Paul hatte es mehrmals miterlebt, wenn er zum Eisessen vorbeikam.
Es war noch am Vormittag, aber die Sonne stieg unaufhaltsam, und der rote Bodenbelag hatte schon begonnen, sich aufzuheizen. Später am Tag würde man ihn ohne Schuhe nicht mehr betreten können, ohne sich die Fußsohlen zu verbrennen.
Vor ihm lag nun, links neben dem Weg, hundert Meter weiter, ein mehrstöckiges quadratisches Gebäude mit langen Seitenwänden aus Holz. Nicht weit vor sich sah er zwei seiner Schulkameraden, die, ihre Bündel in den Händen hin und her schwingend, darauf zugingen. Sie konnten also nur kurz vor ihm eingetroffen sein. „He“, rief er, „he, wartet doch“. Sie drehten sich zu ihm um. Als sie ihn erkannten, lachten sie und fingen an zu rennen. Kurz vor der Eingangstür holte er sie ein, und sie boxten sich zur Begrüßung. Es war kein spöttisches oder gar gehässiges Lachen gewesen, eher eines, das Probleme, Mißverständnisse oder Meinungsverschiedenheiten auflöste, eine unbeschwerte, harmlose Art grundlosen Lachens aus einer unerklärlichen Stimmung heraus, die besonders bei Kindern auftreten konnte. Erwachsene waren dazu nicht mehr in der Lage, weil sie meist nicht ohne Hintergedanken oder zweideutige Absichten handelten. Das Leben hatte ihnen die kindliche Reinheit der Seele genommen, oder sie hatten sie selbst weggeworfen, weil sie einem erfolgreichen Vorankommen im Wege stand. Und nur darauf, mochten sie denken, kam es doch an.
„Warum habe ihr nicht auf mich gewartet?“, fragte Paul. Die Beiden zogen anstelle einer richtigen Antwort nur die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Ist doch auch egal“ ,sagte einer, „komm, wir gehen rein, die Badehosen anziehen.“
Eigentlich waren sie so etwas wie Freunde. Sie gingen zwar nicht in dieselbe Klasse und sahen sich deshalb nicht jeden Tag, wie es richtige Freunde in ihrem Alter taten. Aber hier im Bad waren sie doch wie ein dreiblättriges Kleeblatt, der zurückhaltende Paul, der zierlich gewachsene, sanfte Christian und der robustere Max.
„Habt ihr gesehen, wie die Betty aus der „fünf b“ gestern mit ihrem Zopf am Radlenker hängen geblieben ist?“
„So eine dumme Kuh.“
„Und dann hat ihr der Rothaarige geholfen.“
„Den Bernd meinst du?“
„Ja der.“
„Meint ihr, die geht mit ihm?“
„Nee glaub´ ich nicht, ich hab´ sie mal mit einem anderen gesehen, beim „Firenze“ Eis essen.“
„Was hast denn DU da gemacht?“
„Kann dir doch egal sein!“ Die Stimme von Max klang pampig.
„Ach so, du bist also auch hinter ihr her!“
„Idiot, blöder!“
Der Ton ihrer Unterhaltung war etwas gröber geworden. Sie streiften sich Hemden, Hosen und Unterhosen vom Leib und schlüpften in ihre Badehosen, das alles direkt neben den ankerförmigen Metallhaken, an die sie jetzt ihre Kleidungsstücke samt Schuhen und Taschen anhängten. Ein unfreundliches Streulicht erhellte den ganzen Raum nur spärlich, und die stützenden Balken oben am Dach vermittelten die Atmosphäre einer Fabrikhalle. Die Umkleidekabinen, die sich weiter hinten an den Wänden des hohen, halb dunklen Raumes befanden, benutzten sie nicht. Es war ja niemand sonst da. Sie zogen die Anker an Ketten drei Meter hoch und hängten die Enden an die dafür vorgesehenen Haken. Das hätte gegen Ratten geholfen, ein wirklicher Diebstahlschutz war es nicht.
„Gehen wir zum Rundlauf?“ Es war Max, der das vorschlug, denn er konnte an dem Gerät am besten im Kreis herumschwingen, weil er kräftiger war als die beiden anderen, und sich deshalb länger an den strickleiterähnlichen Sprossen festhalten konnte. Die Geschwindigkeit beim schnelleren Lauf um den Mast riß infolge der Fliehkraft gewaltig an den Armen, und vor allem Christian musste dann irgendwann loslassen und landete in dem weichen Sand des Bodens.
„Ne, ich will erstmal ins Wasser.“
„Ja, ich komm´ mit.“
„Ich auch.“
Ihre Stimmen hallten an den Wänden, und mit ihren nackten Füßen liefen sie um die Wette aus dem Gebäude, über den heißen Weg, die kleine Treppe hinunter und über die noch feuchte, kühlende Wiese. Sie liefen bis zum Ufer des Badesees um die Wette.
○○○
„Erster“ schrie einer, es war natürlich Max, der im nächsten Augenblick stolperte und klatschend auf dem Wasser aufschlug. Paul und Christian rannten an ihm vorbei, um dann mit langen Hechtsprüngen im See unterzutauchen. Einige Meter weiter kamen sie wieder an die Oberfläche hoch und schwammen gemeinsam auf den Ponton zu, der am flussseitigen, gerade verlaufenden Ufer des Badebeckens mit mehreren gedrehten Stahltrossen verankert war. Auf zwei langen, dicken Tonnen miteinander verschraubte, hölzerne Planken bildeten eine drei mal drei Meter große Plattform. Die Tonnen waren mit einer schwarzen Schutzfarbe überzogen. Über eine Eisenleiter kletterten die beiden hoch und warteten auf Max, der schon mit hastigen Zügen herankam. Schließlich standen sie alle drei zusammen oben, und ihre Badehosen tropften dunkle Flecken auf das ausgeblichene Holz der Plattform.
Max sagte: “Jetzt will ich aber mal sehen, wer von euch beiden Hasen sich traut, von da oben runterzuspringen.“ Er zeigte dabei auf die höhere Ebene, die auf Eisenfüßen stehend fast zwei Meter höher lag und über eine weitere, schmale Leiter erreichbar war. Bei Niedrigwasser hing dort ein Brett mit kantigen Haken auf der Rückseite, mit denen es die Sprossen versperrte. Auf der Vorderseite stand in roten Buchstaben „geschlossen“. Aber jetzt war der Wasserstand normal hoch, und der Weg nach oben war frei.
Maxens Stimme hatte einen verächtlichen Klang, aber er meinte es nicht so. Er musste nur seine Überlegenheit zum Ausdruck bringen, weil er bisher der einzige von ihnen gewesen war, der den Sprung gewagt hatte, und darauf war er sehr stolz.
Die Jungen hatten gelegentlich eine etwas grobe Ausdrucksweise, um ja nicht „weibisch“ zu erscheinen. Alle wußten es, und um sich zu beweisen, gerieten sie manchmal in einen Wettkampf. Wer die schlimmsten Wörter kannte, hatte gewonnen. Es war wie ein Ritual, das sie enger aneinander band wie ein gemeinsam verübter Streich.
Paul überwand das flaue Gefühl, das ihn zurückhalten wollte, und stieg die Leiter hoch. Christian klatschte überrascht in die Hände. Pauls zögernde Bewegungen veranlassten Max zu der Bemerkung: „laß´ doch, das wird ja sowieso nix.“
„Jetzt erst recht!“, dachte Paul verärgert, nahm die letzte Sprosse, machte zwei Schritte auf den Rand der Plattform zu und sprang ohne weiter zu überlegen kopfüber hinunter.
Kerzengerade drang sein schlanker Körper senkrecht in den gelblich-trüben See ein, in den die Sonne ein diffuses Licht zauberte. Da er unter Wasser die Augen offenhalten konnte, tauchte er ohne Unterbrechung unter den beiden algenbewachsenen Tonnen hindurch auf die Rückseite des Pontons. Dort zog er sich an einem der Halteseile leise an die Oberfläche und wartete.
Zuerst blieb es still dort oben, wo seine Freunde standen und darauf warteten, daß er hustend wieder hochkam. Aber auf der Wasseroberfläche eilten nur die Wellenringe auseinander, die der Sprung hinterlassen hatte. Sonst war nichts zu sehen. Sekunden vergingen, eine lange halbe Minute verginge, immer noch Stille. Dann wurde es oben unruhig. Christians Schritte tappten hin und her. Max rief: “wo steckst du Flasche?“ Es klang nervös, ungeduldig. Dann ängstlich: “Paul, Mensch, wo bist du denn, mach doch keinen Quatsch!“
Paul kicherte in seinem Versteck. “Das hast du davon, Du Angeber“, dachte er. Aber dann wurde ihm klar, daß seine Freunde Angst um ihn hatten.
„Hier bin ich doch, du Hase“, rief er laut und es lag kein Spott darin, eher eine versteckte Wärme, da es ihm gut getan hatte, daß sie sich um ihn sorgten.
Christian beugte sich zu ihm herunter und rief erleichtert“ Mensch Paul“. Und um nicht für sentimental gehalten zu werden, fügte er hinzu: “du bist so ein Riesenkamel!“
Bloß nicht heulen, ja keine Schwäche und kein Gefühl zeigen- das war in dem Alter ein ungeschriebener Ehrenkodex unter Jungen, den man respektieren musste, wenn man nicht sein Gesicht verlieren wollte. Und sie waren doch alle noch Kinder. Sie wußten nicht, woher dieses Gesetzt stammte. Als Angehörige der letzten Kriegsjahrgänge wuchsen sie in der frühen Nachkriegszeit auf, die von Durchhalteparolen geprägt war. Nur wer die Zähne zusammenbiß und durchhielt, hatte eine Chance zu überleben. Und überleben wollten sie alle. Fast alle jedenfalls.
Max erkannte seine Chance. Ohne auf Pauls mutigen Sprung einzugehen, der seine Vorrangstellung in Frage stellte, forderte er frech: “du schuldest uns jetzt aber ein Eis!“. Christian nickte zustimmend. „Ich hab´ aber doch kein Geld mehr“, sagte Paul verlegen. „Wir auch nicht, darum haben wir’s ja bei dir probiert“.
Sie lachten wieder zusammen. Ihr Lachen klang so jung, so frei, wie es nur in diesem Alter klingen konnte, wenn die Seele noch ohne Schatten war, soweit man das voraussetzen durfte. Sie waren sich ihrer knabenhaften Unschuld nicht bewußt. Wie auf ein unsichtbares Kommando streckten sie ihre Arme und spannten den Bizeps an, jeder so gut er konnte, die Gesichter rot vor Anstrengung. Viel war nicht zu sehen an den noch schmächtigen, dünnen Gliedmaßen, aber das kümmerte sie nicht, denn sie sahen sich nicht so. Es war eine Art unbewußter Friedenszeremonie, die sie nicht als solche verstanden, aber das war unwichtig. Sie waren zusammen, und ein ganzer Tag in Freiheit lag vor ihnen. Nur das zählte.
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Überall lagen jetzt Badegäste auf ihren Decken, auf Handtüchern oder direkt im Gras der Liegewiese vor dem See. Unter den Pappeln, die in mehreren Reihen bogenförmig verteilt hinter dem Uferweg standen, saßen Mütter mit ihren Kindern im Schatten.
„Seht mal, da hinten ist Mara.“
„Wollen wir hin?“
„Ach ne, keine Lust. Die ist doof!“
„Und langweilig“.
„Ja, außerdem wollten wir doch auch noch zur Rollschuhbahn!“
In Wirklichkeit waren sie alle drei zu schüchtern, auch Max, und hätten nicht gewußt, was sie mit den Mädchen reden sollten. Und ein Eis spendieren - dafür fehlte ihnen sowieso das Geld. Womit sonst also hätten sie ihnen imponieren können. Paul sagte nichts. Er fand Mara sehr nett, weil sie ihn einmal angelächelt hatte. Obwohl er dabei rot geworden war, hatte es ihm gefallen. Aber das zuzugeben wäre gegen den Ehrenkodex gewesen, an den er sich immer noch gebunden fühlte. So tröstete er sich mit der Hoffnung, Mara vielleicht bei einer anderen Gelegenheit zu treffen. Ohne die anderen. Mit dem Standpunkt „Weiber sind doof“ konnte er nichts anfangen, darüber war er schon hinausgewachsen in seiner ganz persönlichen sensiblen und introvertierten Natur.
Ja, er fühlte sich zu Mädchen hingezogen, weil sie verständnisvoller sein konnten als die unsicheren, selbstgefälligen Jungen. Ihre Art, sich zu bewegen, beeindruckte ihn. Es tat ihm gut, in ihrer Nähe zu sein. Paul ahnte noch nicht, was sich da in ihm zu entwickeln begann.
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Der Mittag kam und machte die Luft sichtbar. Flimmernde Hitzefäden standen über der Liegewiese am See, wo sich die Jungen niedergelassen hatten. Sie nahmen ihre Decken und zogen unter eine der mächtigen Pappeln. Dort dösten sie träge im Blätterschatten weiter. Die Zeit löste sich auf. Keiner sagte mehr etwas. Paul blickte sehnsüchtig zu dem Kiosk hinüber, der hinter den Baumreihen durch das in runden, großen Buchstaben geschriebene Wort „MILCH“ ins Auge fiel. Heute konnten sie sich alle drei keine Milch und keine eisgekühlte Limonade leisten. Seine Freunde behaupteten zwar immer, sie bekämen doppelt so viel Taschengeld wie er, aber auch sie waren immer blank. Da Pauls Taschengeld jedenfalls längst aufgebraucht war, wäre es sinnlos gewesen, hinüberzugehen. „Mit einem Eis wird’s wirklich nichts heute“, murmelte er vor sich hin und griff nach der Flasche, die ihm seine Mutter zusammen mit einem Käsebrot eingepackt hatte. Er nahm einen Schluck von dem inzwischen warm gewordenen Wasser.
„Pfui Teufel,“ dachte er. - Hatte er laut gedacht? Max fragte: „was ist?“
„Ach nichts, ich hätte nur so gern eine kalte Milch.“
„Wer nicht“, sagte Max.
„Träum´ weiter!“,“ meinte Christian bedauernd.
Dann schlief die Unterhaltung wieder ein. Paul musste daran denken, wie herrlich kühl es im letzten Sommer in der Schweiz gewesen war, als er seinen Vater auf einer Bergwanderung begleiten durfte. Unbekümmert war er Schritt für Schritt auf einem schmalen Brett über die Gletscherspalte gegangen, deren grüner, eisiger Abgrund kalte, frische Luft geatmet hatte. Daran musste Paul in diesem Augenblick denken. Das Wasser in seiner Flasche schmeckte daraufhin noch schrecklicher.
In der Vorstellung jener erfrischenden Kühle musste er eingeschlafen sein. Abrupt riß er die Augen auf, als etwas Nasses, Flüssiges über sein Gesicht rann. Max und Christian hatten mit ihren Händen im See Wasser geschöpft, waren die Wiese hochgeeilt und hatten es über ihm ausgeschüttet. Sein Erschrecken machte ihnen einen Riesenspaß. Sie ahnten nicht, aus welch angenehmen Träumen sie ihn herausgeholt hatten. „Das hat aber gesessen“, sagte Paul, „sehr erfrischend, Ihr könnt gleich nochmal gehen, Leute“. Dabei setzte er sich hoch. Die Hitze hatte nachgelassen. Er dachte nicht darüber nach, ob der Überfall eine späte Reaktion auf seine Taucheskapade sein sollte. Er drehte sich um und sah nach der großen Uhr ganz oben an der Fassade des Restaurants. „Was, so lang hab´ ich gepennt? Was habt Ihr denn gemacht die ganze Zeit?“ Sie durften nicht zu spät losfahren. Es dauerte fast eine Stunde mit dem Rad nach Hause, und keiner von ihnen hatte seine Schulaufgaben schon vorher gemacht.
„Was werden wir schon gemacht haben. Dein Käsebrot aufgefressen, natürlich“, meinte Max und freute sich über Pauls schon wieder erschrockenen Gesichtsausdruck. „Das war doch nur ein Spaß, Paul, wir haben bloß nachgesehen, was du heute dabei hast“, sagte Christian bsänftigend.
„Kommst du noch mal mit schwimmen?“
„Na klar, ich bin doch sowieso schon nass.“
Später machten Paul, Max und Christian noch einen Spaziergang um das ganze Schwimmbecken, das eine Länge von etwa zweihundert Metern hatte. Stromaufwärts kamen sie an dem schlichten, niedrigen Häuschen der Rettungsschwimmer vorbei. Ein kleiner, asphaltierter Weg lief zwischen dem Badesee und dem Fluß, begleitet von einer schnurgerade ausgerichteten Reihe alter, knorriger Pappeln, die hoch aufragten und an ihren Spitzen vertrocknete Äste hatten. Nach stürmischen Tagen lagen überall herabgestürzte Zweige herum.
Von dem Weg führten lange, steile Treppenstufen wie in einer römischen Arena hinunter zur Wasserfläche des Sees. Hier konnte man im Schatten sitzen und von der obersten Stufe aus die Schleppkähne sehen, die Kohle, Sand und andere Güter flußaufwärts und flußabwärts transportierten, manchmal in langen Ketten hintereinander. Die Drei setzten sich oben auf die Treppe und beobachteten die Schwimmer und die Leute auf ihren bunten Tüchern.
„Seht mal, da ist wieder Mara.“
„Wo denn?“
„Da unten neben dem Schild.“ Max zeigte mit der Hand in eine Richtung jenseits des Sees.
„Ach ja, jetzt seh´ ich sie auch.“
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Sie wurden in ihrer Unterhaltung durch ein hastiges Herbeilaufen vieler Menschen unterbrochen, die an der untersten Treppenstufe zusammentrafen. Ein Bademeister und zwei Rettungsschwimmer kamen von verschiedenen Seiten dazu. Einer von ihnen trug einen Metallkoffer. Alle zusammen bildeten, aufgeregt gestikulierend, eine menschliche Mauer.
Etwas mußte da passiert sein. Paul sah von oben zwischen den Beinen und Leibern der Schaulustigen hindurch einen hellen Fleck, wie ein Stück bleicher, weißer, Haut. Jemand bewegte Arme in regelmäßigem Rhythmus auf und ab. Das Blickfeld wechselte ständig, weil die Umstehenden nach links und rechts traten und so immer wieder andere Ausschnitte des seltsamen, beunruhigenden Geschehens preisgaben.
Christian rückte näher an Paul heran. Dann saß er ganz still. Seine Augen waren weit geöffnet, der Mund stand offen, den Oberkörper hielt er nach vorne gebeugt. Seine Körpersprache verriet, wie betroffen er innerlich von dem noch unverstandenen Geschehen war. Sie blieben auf ihrer Stufe sitzen, und Paul sagte: „du, ich glaub´, da haben sie einen aus dem Wasser gezogen!“ Er hatte schon von Badeunfällen gehört, war aber noch nie so nah dabei gewesen. „Das muß ich sehen!“ Max sprang die Treppenstufen hinab und verschwand in der Menschenmenge.
Dann wurde ein Körper fortgetragen, bedeckt mit einem großen, weißen Tuch, das fast bis zum Boden reichte. „Der Größe nach ist es eher ein Mann als eine Frau“, dachte Paul. Max kam die Stufen herauf. „Ein Mann ist ertrunken. Er ist tot“, sagte er kleinlaut. Sein stämmiger Körper wirkte fragil, wie in sich zusammengefallen.
„Vielleicht hat er was gegessen vor dem Schwimmen gehen“, sagte Paul. Er wußte, daß man nicht mit vollem Magen schwimmen gehen durfte. Das wußte er. Aber er wußte nicht, warum man es nicht sollte.
Als sich die Menschen-Barriere auflöste, standen auch die Jungen auf. Mara drüben auf der Wiese, die Rollschuhbahn gleich neben dem Milch-Kiosk, ja der ganze Tag, alles war ihnen plötzlich egal. Sie waren traurig und enttäuscht. Der Tag hatte seine Farbe verloren.
Lustlos gingen die Jungen ihre Sachen holen, die sie im Schatten der Pappeln liegen gelassen hatten. Im Umkleideraum ließen sie die Anker herunter, zogen sich schweigend ihre Sachen an und verließen das Freibad. Sie zwängten sich durch das Drehkreuz am Ausgang, das einen quietschenden Klagelaut von sich gab, und gingen die Treppe hinunter zu den Parkplätzen.
Die Stimmung war gedrückt und Paul wollte etwas Lustiges sagen. Doch bevor ihm etwas einfiel, bahnte sich das nächste Unheil an. Christians Rad war nicht mehr da.
„ Ich hab’s doch genau neben deins gestellt, Max, stimmt doch, oder?“
„Ja ja, stimmt,“ sagte Max. „Es wird schon irgend wo sein.“
Sie gingen die ganze Reihe entlang, zweimal, einmal hin und wieder zurück. Aber weder dort noch in den anderen Reihen konnten sie Christians Rad entdecken. Es war einfach nicht mehr da. „Dann hat’s halt einer geklaut“, sagte Max. Paul konnte sehen, wie Christians Gesicht blaß wurde. Seine Sommersprossen wirkten dunkler als sonst. Er begann zu weinen, seine kindhafte Männerfassade war eingebrochen, aus Angst vor seinen Eltern. So frei von Schatten blieben Kinderseelen also doch nicht. Die beiden konnten ihrem Freund nicht helfen. Sie wußten nicht, wie sie ihn hätten trösten sollen, womit auch.
„Mein Alter haut mir den Arsch voll“, schluchzte er. Wut und Traurigkeit schwangen in seiner kläglichen Stimme. „Ja, den Arsch!“, betonte er bewußt langsam. Die Wiederholung klang eher trotzig, man konnte eine Erleichterung heraushören. Die verbale Entgleisung hatte ihm gut getan. Max lachte laut auf, Paul schaute betreten zur Seite, aber seine Mundwinkel zuckten.
„Wenn du´s dir gefallen lässt…,“ sagte Max dann grob. Paul warf ihm einen feindseligen Blick zu.
„Du hast ja gut reden, du bist allein mit Deiner Mutter.“
„ Aber ich hab´ doch recht“, beharrte Max.
Auch Pauls Bemerkung war nicht besonders rücksichtsvoll. Der Vater von Max war nicht aus dem Krieg zurückgekommen, und seine Mutter musste sehen, wie sie mit ihrem einzigen Sohn zurecht kam, der keine väterliche Autorität kannte.
„Jetzt hör´ mal auf, wir müssen wirklich los.“
„Gib her!“ Max nahm Christians Bündel und stopfte es in eine seiner Packtaschen. „Komm, Christian, hock´ dich bei mir auf die Stange“, sagte Paul. So machten sie sich auf den langen Rückweg in die Stadt.
Es hatte Paul sehr verletzt, daß Max so rücksichtslos, so ohne Verständnis für die Situation war, in der sich Christian befand. Er wußte aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlte, wenn man sich fürchten musste, nach hause zu kommen. Er erinnerte sich zwar nicht, jemals geschlagen worden zu sein. Aber er kannte die Angst, mit der er abends unter seiner Bettdecke Schutz gesucht hatte und auf das unausbleibliche Donnerwetter seines Vaters wartete, wenn ihm eine Klassenarbeit mißlungen oder eine Jacke abhanden gekommen war. Eigentlich war das doch alleine schon schlimm genug. Pauls Mutter hatte es nie verhindern können, daß ein fürchterliches Gewitter über ihn hereinbrach, auch wenn es schon Nacht geworden war. Eine eigentliche Strafe folgte nie, aber die schreckliche Angst wollte nicht weichen. So war das bei ihm zuhause.
Während sie auf der schmalen Straße über den abgeschnittenen Flussarm radelten, stieg eine Art Glücksgefühl in Paul hoch, weil es diesmal nicht ihn getroffen hatte, sondern jemand anderen. Er atmete tief ein und freute sich auf sein Abendessen.