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Rettungsanker Nervenklinik?

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Es ist Mittwoch, 22. Juni 2011. Ich fahre meinen Computer runter und beschließe endgültig, was ich schon hin und wieder in Erwägung gezogen habe: Nach dem morgigen Fronleichnamstag, also am Freitag werde ich mich in die Nervenanstalt zur Behandlung einliefern lassen! Ich schaue noch mal eine letzte Runde im Büro zu meinen Arbeitskollegen. Einigen ist sicher aufgefallen, wie ich mich in den letzten Wochen mental und auch körperlich verändert habe. Immerhin habe ich rund 10 Kilos innerhalb von 2 Monaten abgenommen. Manche haben mich vorsichtig auf meine Veränderung angesprochen. Ich blockte ab und hab versucht, sofort das Thema zu wechseln. Noch vor ein paar Monaten war ich immer gut aufgelegt, habe Späße betrieben. Jetzt ist meine ansteckend positive Arbeitseinstellung ohne es zu wollen flöten gegangen. Wann werde ich die Kollegen, von denen mir manche sehr ans Herz gewachsen sind, wiedersehen?

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag mache ich wieder so gut wie kein Auge zu – auf dem Weg zum Arzt frage ich mich, wie lange ein Mensch es wohl ohne Schlaf aushält, ohne zusammen zu brechen oder verrückt zu werden! Das Warten kommt mir unendlich vor, wieder bohren die Blicke der wartenden Patienten faustdicke Löcher in meine Seele, Schweißperlen tropfen in die müden Augen, ich zittere – dann komm ich endlich an die Reihe. Meinem Arzt schildere ich in Kurzform meine Symptome und die Verschlechterung meines elenden Zustandes seit meinem letzten Besuch nach Ostern. Mit sorgenvoller Miene blickt er mich an und tippt einige Zeilen in seinen Computer. Er meine, er könne mich für 2 bis 3 Wochen krankschreiben und ich könne mich daheim erholen. Ich weiß aber, dass ich zuhause nicht abschalten kann, die privaten Dinge belasten mich vor allem zuhause. Ich benötige ordentliche, professionelle Hilfe – ich will in die Landesnervenheilanstalt Wagner-Jauregg nach Linz. „Okay, dann ist das wohl besser so!“, die Augen ganz ernst und die Stirn mit einer tiefen Falte. Auf die Frage, ob ich den Rettungsdienst in Anspruch nehmen will, verneine ich, lass mir den Einweisungsschein ausstellen und verlasse ganz aufgewühlt die Ordination. Die Ordinationshilfe wünscht mir noch gute Besserung – ich denke, das sei wohl ihre Standardverabschiedung, würde wohl in ihrem Beruf immer gut passen – wie solle sie auch wissen, wie schlecht es mir tatsächlich geht.

„Mama, ich hab ein Burn-Out, ich fahr jetzt ins Wagner-Jauregg!“ Für einen Moment sprachlos entgegnet mir meine Mutter am Telefon, dass Papa und sie mich in die Anstalt bringen werden. „Das ist viel zu gefährlich. Du darfst nicht selber fahren! Andi, warum hast du denn nicht viel früher etwas gesagt…!??!“ Am Weg nach Linz quälen mich meine Eltern mit Fragen nach dem Warum, ich schweige dazu, wische mir Tränen von den Wangen… Nach einer halben Stunde am Ziel angekommen, springe ich mit meiner Tasche aus dem Auto und laufe geradewegs in die Anstalt. Mama erzählte mir später, ich sei regelrecht geflüchtet. Ich melde mich bei der Empfangsdame an, ich heule, schäme mich, bin ganz aufgelöst. Einige Monate früher habe ich eine nahe Bekannte hier besucht und ich hatte eine gewisse Abneigung gegen diese Institution gespürt. All den Patienten konnte man an ihren Gesichtern ihr Leid ansehen. Blasse, leere Gesichter. Damals war ich froh, als der Besuch vorbei war und hoffte, hier nie wieder auf Besuch, geschweige zu einer Behandlung herkommen zu müssen. Nun bin ich also genau hier gelandet, es schnürt mir wieder meinen Brustkorb zusammen. Die Dame drückt mir einen Zettel mit der genauen Abteilung in die Hand, erklärt mir den Weg und gibt mir zugleich ein bemitleidendes Lächeln mit auf diesen. Ich irre durch die Gänge und Hallen, gelange an offene und verschlossene Türen, es erscheint mir wie ein Labyrinth, bis ich nach mehrmaligen Nachfragen und einer gefühlten Ewigkeit an der richtigen Stelle ankomme. Ich wiederhole meine Geschichte bei einer Ärztin, bemerke, dass mein Pulli feuchte Stellen vom Schweiß und Tränen aufweist. Nach dem Ausfüllen von Formularen und Zetteln, Fragen nach Symptomen, Vorerkrankungen, Medikation, etc., etc. und ein paar internen Telefonaten die ernüchternde Aussage: „Nun, wir sind stark überbelegt, Sie haben die Wahl, entweder Sie kommen nächste Woche wieder und wir reservieren Ihnen vorab ein Bett, oder Sie legen sich einstweilen auf der Station auf den Gang in ein Notbett!? Mir platzt fast der Kragen, muss mich beherrschen um nicht los zu brüllen, als ein Arzt mit etwas längerem, graumeliert-lockigem Haar und modischer Brille mit Gläsern ohne Fassung auf der Nase reinkommt. „Dr. Leber“ steht auf seinem Namensschild seines weißen Mantels. Er macht einen sehr sympathischen Eindruck auf mich, sehr sicher im Auftreten, eloquent. Er sieht mich an, erkundigt sich bei seiner Kollegin nach der Situation, führt ein kurzes Telefongespräch und erklärt mir, dass ich auf seiner Station aufgenommen werden könne, da er heute zwei Patienten entlassen werde. „Kopf hoch, das kriegen wir schon wieder hin!“

Ein Zivildiener nimmt meine Tasche und begleitet mich in die Abteilung NOZ 3 – wenigstens muss ich mich nicht alleine auf den Weg machen – ich fühle mich nicht imstande in diesem Labyrinth das angegebene Ziel zu erreichen. Mein Orientierungssinn hat mich im Stich gelassen. Lange, dunkle Gänge, Stiegen auf, Stiegen ab, Aufzüge rein und raus, der typische Krankenhausgeruch… da sind wir. Irgendwo im letzten Eck des Irr(?!)gartens befindet sich die Abteilung NOZ 3. Wieder langes Warten, Anmeldungen, Formulare, die gleichen Fragen... Hin und wieder schleichen Gestalten im grünen Anstaltspyjama vorbei und werfen mir Blicke zu, die geprägt sind von leerer Gleichgültigkeit. Ich sehe in Augen hinter denen sich die Ängste manifestiert haben, durch Medikamente aber weit ins Innere der Seele zurückgedrängt wurden. Andere Patienten wirken überraschender Weise ausgesprochen fröhlich. Später lerne ich von der manischen Depression.

Konrad, ein Stationspfleger, strahlt eine positive Energie aus. Er will mir Mut zusprechen. „Solche Phasen macht fast jeder mal im Leben durch. Das geht vorüber – wirst sehen!“ Während wir noch auf das Freiwerden des Zimmers warten, erzählt er mir ein paar Anekdoten aus seinem Leben (welche ich aber nicht mehr im Gehirn gespeichert habe, irgendwas von seiner Fußballkarriere, die durch eine Verletzung beendet wurde). Konrad ist ein lustiger Typ, lacht viel. Ich denke, dass man solch fröhlichen, starken Charakter braucht, um hier in der Klapsmühle zu arbeiten. Meine trübe Stimmung kann er nur sehr bedingt anheben. Nach unendlich langer Zeit (wie bereits erwähnt war mein Zeitgefühl schon sehr eingeschränkt – gefühlt dauerte es aber mehrere Stunden) werde ich in mein Zimmer gebracht. Ist das jetzt meine ersehnte Oase, in der ich endlich meine Ruhe finden kann – in der sich der Geist, die Seele und mein Körper regenerieren werden und ich wieder fit für die Arbeitswelt und das grausame Leben da draußen werde?

Schlafen kann ich sowieso nicht, also drehe ich eine Runde in der Abteilung. Sie wirkt trostlos, finster, kalt. Anders als die Abteilung und das helle Zimmer in dem ich noch vor ein paar Wochen den Besuch abgestattet hatte. Ich bin im sogenannten Altbau untergebracht – die Gemäuer stammen aus den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts. Erst allmählich wurde die Nervenanstalt ausgebaut und modernisiert. In den Gängen hängen große Bilder in schwarz-weiß aus den Anfängen der Klinik. Die Bilder versprühen zusätzlich Angst. Sie erinnern eher an Tierversuche als an Behandlungen von psychischen Erkrankungen. In den Katakomben wurden die Irren damals geknechtet und geknebelt, versucht die bösen Geister aus ihnen auszutreiben, um sie wieder „normal“ werden zu lassen. In Sichtweite der Rezeption erblicke ich viele kleine Monitore. Auf jeden einzelnen ein Raum, vielleicht zehn Quadratmeter groß. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Kästchen – und jeweils ein Patient. Ein Gefängnis…! „Das ist die Geschlossene – für die harten Fälle!“ erzählt Konrad. „Einige wollten sich das Leben nehmen. Und zu ihrem eigenen Schutz werden sie jetzt mal ne Weile da drinnen verbringen.“ Wieder überkommt mich ein Gefühl des Kotzens. Die Leute da drinnen werden rund um die Uhr überwacht – „die Geschlossene“ … weggeschlossen und alleine gelassen im Kampf mit der faulig-kranken Seele! So gut wie alles wurde ihnen abgenommen. Keine eigene Kleidung, kein Gürtel, keine Krawatte, keine Schnürsenkel – also keine „gefährlichen“ Gegenstände, mit denen sie sich selbst schädigen könnten. Das Essen wird natürlich ohne Messer serviert. Die Einnahme von Tabletten wird streng überwacht. Oh Gott – nur nicht da drinnen landen – das ist die Vorkammer zur Hölle!

Schon bald merke ich, dass dies hier drinnen nicht die von mir ersehnte Erholungsstätte sein wird. Immer wieder und wieder muss ich meine „Geschichte“ vortragen – diversen Ärzten und Therapeuten. Es ist Freitagabend – das Wochenende solle ich mal nur da sein, es nützen um Ruhe zu finden – die Therapien gehen erst montags los – na toll! Nein, es wird in der Tat keine Erholungsstätte!

Ich treffe Mitpatienten – manche sind schon wochenlang hier herinnen. Großteils schwer Drogen- und/oder Alkoholabhängige. Ich denke an das Namensschild des Arztes: Doktor LEBER – echt passend! Sollte da mein Arzt nicht besser Doktor HIRN oder Doktor SEELE heißen?! Würde das Ganze nicht mich selbst betreffen, so müsste ich jetzt wohl schmunzeln. Mein Zimmerkollege Josef ist schon zum dritten Mal hier. „Es ist nicht schlecht. Man kann reden – und ist vom Alk weg. In ein paar Tagen bin ich wieder raus. Mal schaun wie lang ich es dann aushalte. Hahaha…! “ Er ist nur ein wenig älter als ich, hätte ihn aber um mindestens 10 Jahre älter geschätzt – der ständige Alkoholkonsum hat ihn schwer gezeichnet, faulige Zähne, aufgedunsenes, rotes Gesicht. Er hat ein auffällig lautes Lachorgan, lacht über alles, ob es nun tatsächlich lustig ist oder auch nicht. Man hört ihn schon von der Ferne, man glaubt sein Zwerchfell schlägt Saltos. „Gute Nacht, haha, schlaf gut, hahaha…!“ Leider ist nicht nur sein Lacher, sondern auch sein Schnarchen extrem. Na super, da ist an Schlaf wieder nicht zu denken, schießt es mir in den Kopf, als er innerhalb von wenigen Minuten einschläft und der Raum zu beben scheint. Nach einer Stunde hole ich mir Ohropax vom Abteilungsstützpunkt – nur 2 bis 3 Stunden seichter Schlaf ist mir in dieser ersten Nacht gegönnt.

Andere „Mitstreiter“ sind ungepflegt und stinken. Alle paar Tage werden sie von den Pflegern zum Duschen zwangsverpflichtet. Auffällig ist auch, dass viele einen „Tick“ haben. Manche kratzen sich ständig. Ein relativ junger Bursche wirft ununterbrochen sein Feuerzeug von einer Hand in die andere und greift sich dazwischen immer wieder in den Schritt. Nicht mal beim Essen lässt er das Feuerzeug aus. Ein Kurde, der aus seiner Heimat flüchten musste, läuft den ganzen Tag den Flur rauf und runter. Nur manchmal bleibt er stehen, wackelt mit dem Kopf hin und her und läuft dann wieder weiter. Er wird nach Josefs Entlassung mein Zimmerkollege. Einmal schnorrt er mich um eine Zigarette und um ein paar Euro an. Dabei sieht er mit seinen rotgelben finsteren Augen durch mich hindurch. Der Geruch des kalten Rauchs, vermischt mit einer penetranten Körperausdünstung kriecht in meine Nase – wieder dieses Kotzgefühl. Er ist um 2 Köpfe kleiner als ich, der Versuch mir einzureden, wie arm und hilflos er sei, schlägt fehl – ich habe große Angst vor ihm. Zigarette habe ich keine, die 5 Euro schenke ich ihm, damit er mich in Ruhe lässt - nicht, dass er mir noch etwas antut!

Oh Gott, wo bin ich da gelandet? Die sind ja alle komplett verrückt! Es beginnt mir allmählich zu dämmern – ICH bin auf dem besten Wege, auch verrückt zu werden.

Pünktlich um 7 Uhr werden wir geweckt. Wobei dies wohl der falsche Ausdruck ist – liege ich doch schon seit Stunden wach und warte angespannt auf den Pfleger, um mich von meiner Nachtunruhe zu befreien. Kurze Katzenwäsche und ganz bleiern trotte ich in den Speisesaal. Er ist fast vollständig gefüllt – und doch herrscht eine unheimliche Leere und beängstigende Stille im Raum. Nur vereinzelt nehme ich das Klappern des Geschirrs oder das Räuspern und Schlürfen der Patienten wahr. Keine Gespräche – niemand will seine Innenwelt mit anderen teilen… Nach dem Frühstück, Blutdruck messen und Tablettenverteilung geht’s zur täglichen Morgenrunde. Dabei sitzen alle Patienten mit den Ärzten und Therapeuten im Kreis und jeder einzelne soll ein paar Sätze erzählen, warum er hier ist, welche Therapien er am Vortag hatte, was auf seinem heutigen Stundenplan steht und wie es ihm heute denn so gehe. Ich hasse solche Vorstellrunden, finde sie lästig und unangenehm und halte mich darum immer so kurz wie möglich. Es geht keinen etwas an, was mit mir passiert ist und wie es in mir drinnen aussieht. Ich merke dabei auch, dass so ziemlich alle Patienten der Runde andere Probleme haben als ich. Es ist in erster Linie von Süchten und Zwängen die Rede. Kann ich hier überhaupt die für mich angemessene Therapie erhalten? Würde ich nicht in einer anderen Abteilung viel besser aufgehoben sein? Ich fühle mich ausgebrannt und von Angstviren befallen – und habe keine Abhängigkeit von irgendwelchen Suchtgiften!

Es tut einfach nur so weh …zu lachen, obwohl man lieber weinen würde …zu schweigen, obwohl man lieber schreien würde …zu essen, obwohl man lieber kotzen würde …zu kämpfen, obwohl man lieber aufgeben würde!

Mein Stundenplan sieht relativ verwaist aus. Meist sind nur zwei, drei Einheiten pro Tag eingetragen. Somit versteht sich von selbst, dass sich so ein Tag zieht wie ein Strudelteig. Morgens eine Einheit Musiktherapie, dann Sporttherapie, nachmittags dann vielleicht noch eine Stunde Kunsttherapie. Stunden werden zu Tagen – Tage fühlen sich wie Wochen an. Nein, ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt! Ich dachte, ich werde ständig dabei sein, mit diversen Beschäftigungstherapien und Gesprächen mit Psychologen einen Weg aus der Krise, der Depression, dem Burn-Out, dem Tief oder wie auch immer man es bezeichnen will, zu finden.

Gespräch Dr. Jesina – Psychotherapeut

Mitte der ersten Woche habe ich dann doch mein erstes längeres Gespräch mit einem Psychologen. Ich habe ein gemischtes Empfinden. Kann er mir helfen? Wie würde dieser Seelenstriptease verlaufen? Nun, rein von der Optik spielt es sich anders ab, als wie man sich eine Therapie beim Psychologen vorstellt. Ich liege weder auf einer dunklen Couch, noch hat der Psycho-Doc einen weißen Kittel an, noch sind irgendwelche weisen Sprüche oder abstrakte Bilder aufgehängt. Herr Jesina ist um die Fünfzig, groß mit einem „Wohlstandsbäuchlein“. Er wirkt lässig, mit ausgewaschener Jeans, Poloshirt und Lederjacke. Ich könnte mir vorstellen, dass er ein Kumpeltyp ist, mit dem man gerne nach der Arbeit mal auf ein Bierchen geht und sich gemütlich ein Fußballspiel anschaut. Er begrüßt mich mit einem äußerst kräftigen Händedruck und geleitet mich in ein Zimmer im hinteren Bereich der Abteilung. Mit Schreibblock und Kugelschreiber bewaffnet nimmt er gegenüber von mir Platz. Die Sonne scheint durchs Fenster und blendet mich. Ich bitte ihn, die Vorhänge vorzuziehen, da meine Augen extrem lichtempfindlich reagieren.

„Herr Pammer, ich habe mich kurz über Sie informiert, weiß aber nur das, was hier in ihrer Akte steht. Das interessiert mich vorerst mal nicht. Erzählen Sie mal, was in Ihnen so vorgeht, warum Sie hier sind und wie Sie meinen, dass ich Ihnen helfen kann!“ Einige Zeit sitze ich da und stammle nur vor mich hin. Eigentlich habe ich das alles ja eh schon gefühlte fünfzig Mal in den letzten Tagen erzählt – ich erzähle von den niedergeschlagenen Phasen, der Gereiztheit und Überforderung, von meinen großen privaten Problemen, den Schlafstörungen, etc.

Herr Jesina hört mir aufmerksam zu, macht sich Notizen, kratzt sich hin und wieder am Kinn und stellt mir kurze Zwischenfragen. „So, jetzt haben Sie mir ja schon eine Menge erzählt. Nun möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Doch bevor ich beginne und Sie antworten, sollten Sie wissen, dass absolut alles, was Sie mir erzählen, nicht nach außen dringt. Ich kenne Sie nur seit ein paar Minuten, ich mache hier meinen Job. Ich bin kein Richter, kein Schuldzuweiser und Sie müssen mir gegenüber keine Rechenschaft ablegen. Das soll heißen, Sie können sich mir voll anvertrauen, mir alles entgegenwerfen, was sie belastet, Sie beschäftigt, was Sie so erlebt und getan haben. Nur wenn Sie sich mir öffnen, habe ich die Chance Ihnen zu helfen, okay?“ Mit einem Augenzwinkern und einem kurzen Lächeln vermittelt er mir ein Gefühl einer gewissen Sicherheit. Anfangs ist es so, als ob er nur meine Personalien aufnimmt. Alter, Wohnort und Wohnsituation, Familienstand, Schulbildung, Arbeit, Eltern, Krankheiten in der Vergangenheit, Hobbys, Freundeskreis, etc. Alles notiert er penibel genau. Ich frage mich, wozu er wohl all diese scheinbar unwichtigen Infos braucht. Es ist, als wolle er ein „Täterprofil“ erstellen. Allmählich beginnt mich die Fragerei zu nerven. Ich dachte, wir würden an meinen aktuellen Problemen arbeiten, er könne mir Ratschläge geben und Wege und Mittel aus meinem Dilemma zeigen.

„Wie war Ihre Kindheit, Ihre Jugend, gab es bestimmte außergewöhnliche Ereignisse?“ Ich entgegne, dass ich eine sehr schöne und unbeschwerte Kindheit genoss, es mir an nichts fehlte. „Sie haben Geschwister, Herr Pammer?“ „Eine jüngere Schwester, zu der ich ein sehr gutes Verhältnis habe – und ich hatte einen Bruder der bei einem Autounfall ums Leben kam.“ Der Psychologe ist noch bei der letzten Notiz, als er aufsieht und fragt: „Ach so? Das tut mir leid. Erzählen Sie bitte davon.“

Und so schildere ich, was sich am 14. Oktober 1980, so um die Mittagszeit, unweit unseres Elternhauses in Reichenau zutrug. Wie ich mit meinen erst sechs Jahren mit ansehen musste, wie mein um eineinhalb Jahre älterer Bruder Martin beim Queren der Straße frontal in ein Auto rannte, durch die Luft geschleudert wurde und auf der Stelle tot war. „Das Ganze nur wenige Meter von mir entfernt!“ Hmm, bei diesen Schilderungen merke ich, dass ich dieses schreckliche Ereignis schon lange nicht mehr so detailgetreu in meine Erinnerungen gerufen habe und ganz weit hinten in meinem Kopf abgelegt und gespeichert wurden. Sie wurden sozusagen ad acta gelegt, doch sind die Bilder des Zusammenstoßes, der entsetzten Gesichter, des Chaos, der Verzweiflung und Trauer noch glasklar abrufbar. Auch das Quietschen der Autoreifen, der Knall, der Aufschrei meines Vaters (er hatte es von der Ferne hilflos mit ansehen müssen) schallen noch in meinen Ohren. Da liegt er, mein geliebter, toter Bruder! Regungslos, tot. Die folgenden Momente mit Notarzt, Blaulicht, die Menschentraube, die sich um das Geschehen gebildet hat, das Weinen und Wimmern der Eltern, Bekannten und Verwandten auf der Beerdigung – all das läuft nun wieder ab wie in einem Spielfilm. Ich erzähle auch, wie ich kurze Zeit nach diesem traumatischen Ereignis zum Bettnässer wurde. Ich hatte Schlafstörungen und bin oftmals schlafgewandelt…

Dieser Vermerk in Herrn Jesinas Notizblock war etwas ausführlicher und mit einem dicken Rufzeichen versehen.

Auch an meine Erinnerungen an die Schulzeit ist Herr Jesina interessiert. Er versteht es, mich mit gekonnten Fragen allmählich von meiner Fassade hervor zu locken. Und so kommt es, dass ich ein Thema anspreche, über das ich höchst ungern rede: Diese Zeit in der Schule, da war dieser Lehrer, gleichzeitig auch mein Klassenvorstand - ein kleiner, abgezwickter Gnom, mit Glatze und Schnauzbart. Ich erinnere mich noch an den Geruch seines billigen, immer mehr als reichlich aufgetragenen Rasierwassers. Die Demütigungen, dieser entwürdigende Umgang mit mir. Zu diesem Lehrer hatte ich seit unserer ersten Begegnung kein gutes Verhältnis. Er war mir von Anfang an unsympathisch. „Einen wuuunderschönen guten Mooorgen. Ich heiße Magister … und ich bin euer Klassenvorstand. Wir werden vermutlich die nächsten fünf Jahre gemeinsam hier herinnen verbringen dürfen.“ Sein Grinsen hatte sich über die Jahre in mein Hirn gefressen – pfui Teufel! Tja „Einen wuuunderschönen guten Mooorgen“, das war seine tägliche Begrüßung – ich hasste diese Worte aus seinem Maul, da es keinesfalls und niemals ein schöner Morgen wurde, wenn ich sein Antlitz erblicken musste. Nein, ich mochte ihn nicht. Doch dass diese nächsten fünf Jahre mein Leben so negativ prägen würden – darüber war ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Klaren. Und als ich dann auch noch die erste Schularbeit vermasselte und als einziger ein „Nicht Genügend“ ausfasste, hatte er mich auf seiner Schaufel. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchte er mich vor der ganzen Klasse bloß zu stellen. Ich musste an der Tafel vorrechnen, hatte ich einen Fehler, kamen Meldungen wie „Tja, der Pammer, was mach ich nur mit dir? Komm setz dich nieder, du kapierst es sowieso nie!“ Ich gehörte zu seinen – wie er sie immer nannte – Kellerkindern. Problemkind Numero Uno: Pammer! Es verging keine Lehrstunde, in der er nicht mindestens einen abwertenden, beleidigenden Kommentar oder eine Geste nach dem Motto „du Nichtsnutz“ in meine Richtung ließ. Oft musste ich vor der Klasse laut vorlesen und bei dem kleinsten Fehler oder Unsicherheit lachte er laut auf: „Nicht mal ordentlich lesen kannst du!“ Montags kamen oft so Bemerkungen wie: „Na, habt ihr gestern wieder beim Fußball verloren? Hundstruppe! Wäre besser, du würdest diese sinnlose Zeit zum Lernen nutzen.“ Ständige Sticheleien, Beleidigungen standen an der Tagesordnung. Und es machte ihm sichtlich Spaß zu sehen, wie ich mich aus Scham, Angst und Unsicherheit immer weiter in mein Schneckenhaus zurückzog. Er ergötzte sich förmlich an meinem Leiden und dem Schaden den er mir durch sein perverses Verhalten zufügte. Problemkind Pammer – ich hatte nicht nur ein Problem, ich bin das Problem!

Allmählich verlor ich mein ganzes Selbstbewusstsein und aus der Unsympathie entwickelte sich purer Hass gegen diese Person. Vor jeder Stunde mit diesem Monster hatte ich Angst und es war eine Erleichterung, wenn die Pausenglocke die Unterrichtseinheit beendete. Ich wünschte diesem Unmenschen alles Schlechte. Wenn ihn doch der Blitz treffen könnte oder ihm ein Felsbrocken auf seine Glatze donnern würde…! Sobald ich ihn erblickte, drehte sich mein Magen um und Angstschweiß schoss aus meinen Poren. Ja, dieser „Pädagoge“ hat mir damals jeglichen Selbstwert genommen. Manchmal habe ich mir überlegt, ob ich nicht sein Auto manipulieren sollte oder sonst welche schlimmen Gedanken kamen mir in den Sinn. Zuvor – in der Hauptschulzeit – hatte ich kein Problem damit, vor mehreren Leuten zu sprechen. Ich war eher einer, der gerne im Mittelpunkt stand, Klassensprecher, Rädelsführer, Mädchenschwarm. Doch dies änderte sich immens. Noch viele Jahre nach der Matura hatte ich daran zu leiden, hatte bestimmte Komplexe und traute mir wenig zu. Lange Zeit hatte ich Alpträume, in denen mich immer wieder dieser Arsch verfolgte! Ach, wie ich ihn verabscheute.

Herr Jesina folgt meinen Erzählungen aus dieser Zeit. Er merkt wie unangenehm es mir ist, über dieses mentale Martyrium zu sprechen. So intensiv und genau hatte ich mich nie mit jemandem über diese Zeit Anfang der Neunziger Jahre unterhalten. Den Mitschülern fiel damals dieses unfaire Verhalten natürlich auf, doch etwas dagegen zu tun schien ihnen nicht möglich. „Lieber nicht anstreifen, sonst werde ich womöglich auch zum Problemkind!“ Auch meinen Freunden und Eltern habe ich mich nicht voll anvertraut, höchstens kurze Anmerkungen gemacht. Ich habe still und heimlich gelitten.

„Wissen Sie, Herr Pammer, wie man das nennt, was dieser „Lehrer“ mit Ihnen da angestellt hat?“ kam es von Herr Jesina nach einer Weile, nachdem er eine lange Notiz niederschrieb. Unsicher hebe ich meinen Blick vom Boden, die Fratze des Lehrers vor meinem geistigen Auge. Ich empfinde wieder dieses Kotzgefühl, den Krampf in meiner Bauchhöhle und zucke unsicher mit den Schultern. „Missbrauch! Er hat die autoritäre Stellung benutzt um Sie psychisch zu missbrauchen! All seine Probleme und seinen eigenen Müll hat er sozusagen auf Sie abgeladen.“ Herr Jesina nimmt seine Lesebrille ab und sieht mich mit ernstem Blick an. Wie versteinert sitzen wir einige Sekunden da und starren uns an. „Also ganz ehrlich Herr Pammer, von einer unbeschwerten Kindheit und Jugendzeit kann man in ihrem Fall bei Gott nicht sprechen! Diese Ereignisse stecken ganz tief in ihrem Unterbewusstsein. Sie haben großen Schaden angerichtet, richten auch weiterhin Schaden an und gehören dringend aufgearbeitet und bereinigt! Das sind negative Dateien auf ihrer Festplatte des Unterbewussten!“ Ganz steif sitze ich da. Das alles war doch für mich Schnee von gestern. Ich war der Überzeugung, dies alles schon längst vergessen zu haben und über diese seelischen Verletzungen längst hinweg zu sein.

Herr Jesina teilt mir mit, dass der Unfall meines Bruders damals ein sehr einschneidendes Ereignis für meine ganze Familie war und es damals vor mehr als 30 Jahren leider noch kaum Institutionen für die posttraumatischen Aufarbeitungen von solchen Schicksalsschlägen gab. „Ihre Eltern und vor allem Sie hätten psychologische Hilfe dringend benötigt. Sie mussten hautnah miterleben, wie Ihnen Ihr bester Freund und Spielkamerad, Ihre damals wohl wichtigste Bezugsperson und ihr Wegbegleiter, auf furchtbar tragische Weise entrissen wurde!“ Auch habe er in seiner Zeit als Psychologe leider schon oft von ähnlichen Fällen gehört, in denen ein Lehrer den eigenen Frust an seinen scheinbar unterlegenen Schülern abgelassen hat und diese Tyranneien tiefe seelische Wunden an den noch nicht ausgereiften Persönlichkeiten der Schüler hinterließen.

„Wie gesagt, das sind Dinge, mit denen Sie sich in Zukunft leider nochmals genauer und intensiv beschäftigen müssen, damit wir diese negativen Ereignisse dauerhaft aus Ihrem Unterbewusstsein verbannen können. Sie sind sicherlich auch mit Auslöser Ihrer aktuellen Situation. Jetzt haben aber die gegenwärtigen Probleme Vorrang und denen werden wir uns in den nächsten Tagen widmen. Aber es ist notwendig, sich diesen Themen aus vergangenen Tagen nochmals zuzuwenden, wenn es ihnen wieder mal bessergeht! Für heute lassen wir es mal gut sein.“

Ich führe mit Herrn Jesina einige Tage danach nochmals ein ausführliches Gespräch. Er sagt mir Dinge, die mir in einer gewissen Art und Weise die Augen öffnen. Dinge, über die ich eine fest eingefahrene Meinung habe. Dinge, die ich nur aus meinem (bereits eingeschränkten) Blickwinkel sehe – und die sich von einem anderen – seinem - Standpunkt ganz anders darstellen. Das Gespräch verläuft äußerst gut. Er versucht mich sachte aus meinem verworrenen Irrweg wieder zurück auf die „Siegerstraße“ zu geleiten.

Wenn ich nun so auf die Worte, Tipps und Ratschläge, Meinungen und Ansichten von Herrn Jesina zurückblicke, muss ich feststellen, dass sie mir zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr helfen konnten. Vermutlich war der Zug mit mir bereits in die falsche Richtung abgefahren und die Weichenstellung, der Kurs meines Denkens und Fühlens nicht mehr zu korrigieren. Doch kann ich sagen, dass ich mir vieles erst Monate später zu Herzen genommen habe und diese Psychotherapie sehr geholfen hat, heute da zu stehen, wo ich bin bzw. so zu sein, wie ich bin! Über dieses und jenes habe ich lange Zeit nachgedacht und so denke ich, die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar!

Tief gefallen... ...ins Glück

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