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Eine erste Bilanz – collateral damage

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Die Wochen auf der Intensivabteilung im Unfallkrankenhaus waren die wohl intensivsten meines Lebens. Die Agonie hat mir alles abverlangt. Geprägt vom Kampf ums Überleben war mein Körper ausgelaugt und leer. Obwohl man sich nicht bewegt, arbeitet der Körper ständig auf Hochtouren. Er ist rund um die Uhr damit beschäftigt, die durch den Unfall gebrochenen, zerfetzten, geprellten, zerplatzten Körperteile so gut wie möglich wiederherzustellen. Die Ärzte haben ihr menschenmöglichstes gegeben – nun ist der Körper an der Reihe die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Soviel ich in den Tagen nach dem Aufwachen von den Ärzten und Pflegern mitbekommen habe, war Folgendes bei mir kaputt: Mehrere Wirbel waren gebrochen (der 12. Brustwirbel komplett zersplittert), das Rückenmark wurde dabei stark in Mitleidenschaft gezogen. Es lag eine Trümmerfraktur im Bereich des Beckens vor, das linke Sprunggelenk ebenfalls gebrochen. Die Lunge wurde gequetscht, die Harnblase war gerissen. Erst in Bad Häring habe ich dann erfahren, dass ich mir auch zusätzlich 2 Rippen gebrochen hab (die anscheinend nach meinem Intensivaufenthalt schon wieder halbwegs verheilt waren) und knapp 1 Jahr später hat mir ein Arzt mitgeteilt, dass laut Unfallbericht auch mein Brustbein gebrochen war! Davon hatte ich vorher nie etwas gehört und weiß bis heute nicht genau, ob dies nun tatsächlich so war. Nun, bei der Vielzahl der Verletzungen ist es auch egal, ein Bruch mehr oder weniger… Also bei einem Auto würde man wohl sagen: Totalschaden – am besten gleich verschrotten!

Im Dezember 2012 hatte ich mir den detaillierten Unfallbericht des Unfallkrankenhauses Linz angefordert. Er umfasst 128 (!) Seiten.

Unfallort: Außengelände des Krankenhauses Wagner-Jauregg

Unfallzeitpunkt: 07.07.2011 – ca. 18.00 Uhr

Unfallhergang: Sturz aus 4m Höhe – Verletzung in Bereich des Brustkorbes und im Bereich der Wirbelsäule. (Notarzt Rotes Kreuz/Schockraum)

Ergänzung am 08.07.2011: Unfall ereignete sich angeblich in suizidaler Absicht

Diagnose (Die Diagnose mit ihren vielen lateinischen Fachausdrücken habe ich mir mal übersetzt):


Der Bericht liest sich für mich spannend wie ein Krimi – teilweise bekam ich beim Lesen Schweißausbrüche und mir wurde übel:

„… es zeigt sich die Dura (Anmerkung: Rückenmarkshaut) zerrissen und Rückenmarksanteile aus der Dura heraushängend… das Scrotum (Hodensack) zweifaustgroß aufgebläht…

… gegen Mitternacht extubiert der Patient sich selber und wird umgehend wieder intubiert. Daraufhin Schutzfixierung der Hände… “

Die durchgeführten Operationen:

07.07.2011 – 08.07.2011:

Spondylodese (Wirbelkörperversteifung) von TH11 bis L1 aufgrund Berstungsbruches des 12. Brustwirbelkörpers; Harnblasennaht nach Einriss der Harnröhre und Riss der Blase, Sprunggelenksfraktur mit Bohrdrähten vorübergehend fixiert;

Operationsbeginn / -Ende / -Dauer: 21.51 / 03.03. / 05.12

Anästhesiebeginn / -Ende/ -Dauer: 19.56 / 04.12. / 08.16

09.07.2011:

Bauchseitige (von vorne operierte) Versteifung der Verrenkung/Verschiebung mit Bogenbruch der Wirbeln C 2/3 (Halswirbeln), mit Knochenspan (Beckenspannentnahme rechts) und Platte versorgt.

Operationsbeginn / -Ende / -Dauer: 13.59 / 14. 59 / 01.00

Anästhesiebeginn / -Ende/ -Dauer: 13.28/ 15.21 / 01.53

13.07.2011:

Tracheostomie (Luftröhrenschnitt)

Operationsbeginn / -Ende /-Dauer: nicht bekannt

Anästhesiebeginn / -Ende/ -Dauer: nicht bekannt

19.07.2011:

Cage-Implantation (Titanwirbel) TH12, Vorderer Beckenring- und Schambeinverplattung (Bruch des oberen u. unteren Schambeinastes links, Schambeinfugensprengung); Verplattung des Kreuzbeines;

Operationsbeginn / -Ende /-Dauer: 08.29 / 11.23 / 02.54

Anästhesiebeginn / -Ende/ -Dauer: 07:11 / 11.54 / 04.43

25.07.2011:

Das linke obere Sprunggelenk mit 4 Schrauben fixiert + Unterschenkelspaltgips

Operationsbeginn / -Ende /-Dauer: 16.47 /18.53 /02.06

Anästhesiebeginn / -Ende/ -Dauer: 16.38 / 19.21 /02.43

Operationsdauer gesamt: 11 Std. 12 min


Anästhesiedauer gesamt: 17 Std. 35 min


Fazit: „Hals- und Beinbruch“ braucht man mir in Zukunft nicht mehr zu wünschen. Ich lehne dankend ab – denn das hatte ich nun schon hinter mir!

In einen weiteren meiner wirren Träume sehe ich mich während einer Operation in irgendeiner engen Schlucht in den Alpen auf einer Kreissäge liegen, mit der mein betäubter, regungsloser Korpus - wie tote Schweinehälften in einer Schlachtfabrik - zersägt und dann wieder notdürftig mit rostigen Riesennadeln zusammengeflickt wird.

Die ersten Tage waren auch geprägt von der Angst und der schrecklichen Vorstellung wie mein Körper nun aussehe. Ich getraute mir keinen Blick unter die Bettdecke, geschweige denn unter das Spitalshemd zu werfen. Ich glaubte, ich sei übersät von Narben, die sich kreuz und quer über mich ergötzen und in blau-violett-roten Farben dahin wuchern. Langsam, und mit zittriger Hand fasste ich schlussendlich meinen ganzen Mut zusammen und hob das kleinkarierte Leinenhemd etwas hoch. Zu meiner großen Erleichterung waren an der Vorderseite des Oberkörpers bis auf ein paar kleine Pflästerchen keine Narben und Hautnähte zu erkennen. Ein tiefer Blick zeigte meine extrem geschwollenen Oberschenkel in Kompressionsstrümpfe gezwängt. Wie dicke, starre Betonrohre lagen sie da, unbewegbar, taub, als gehörten sie nicht weiter zu mir.

Man fühlt sich so hilflos als Gefangener im eigenen Körper. Da liege ich im Bett – nur zwei Meter neben mir eine Zeitschrift, die mir ein Pfleger gebracht hatte: Es beginnt ein innerer Kampf in mir zu toben – ich gegen meinen Körper! „Komm schon, es sind doch nur ein paar kleine Bewegungen – aufstehen, drei kurze Schritte hin, drei kurze Schritte zurück, niederlegen!“ Er verweigert seinen Dienst, sosehr ich befehle, auffordere, ermutige, ansporne, … bitte, bettle, flehe…

Wenn man den ganzen Tag (und vor allem auch nachts!) - unfähig sich zu bewegen - auf dem Rücken liegt, auf die Decke starrt, und zum gefühlten dreitausendsten Mal zählt, wie viele Schlitze der Lüftungsschacht da oben hat (es sind sechzehn – das nur so nebenbei), wird die Zeit zur Qual. Der Lüftungsschacht in Form eines Ventilators brannte sich regelrecht in mein Gehirn – auch im Dunkeln und bei geschlossenen Augen verschwand er nicht in meinem inneren Bild. Doch man hat Zeit zum Nachdenken – schier unerschöpflich viel Zeit …. Gedanken über Vergangenes und über die Zukunft…

Über drei Wochen wurde ich künstlich ernährt. Thomas, ein tschechischer Pfleger, versorgte mich säckeweise mit der weißen Flüssigkeit, die mir intravenös verabreicht wurde – „Nun, was wünschen Herr Pammer heute? Wiener Schnitzel mit die Pommes oder lieber die böhmisches Gänsebraten?“, versteckte sich ein schelmisches Lächeln hinter seinem Dreitagebart. Die ersten Bissen der „normalen“ Nahrung waren dann ein Graus. An einem Stück Frühstückssemmel kaute ich minutenlang rum. Es hatte den Anschein, als würde mit jedem Mal kauen und bei jedem Schluckversuch das Brot mehr in meinem Mund. Ich konnte kaum Speichel produzieren – irgendwie, irgendwann rutschte der halbtrockene Teigklumpen dann doch den Hals runter, der Brechreiz schickte ihn umgehend wieder retour! Mir graute vor den Mahlzeiten. Am Abend erhielt ich Magerschinken und Käse, garniert mit einer kleinen Essiggurke. Eine Scheibe Wurst würgte ich runter. Den Rest verweigerte ich, bis auf einen Bissen der Gurke. Doch gleich nachdem ich mir ein kleines Stück in den Mund geschoben hatte und zu kauen begann, spuckte ich es aus. Ich empfand es als extrem sauer und bitter - es brannte im Hals. Meine Geschmacksknospen waren überreizt und wegen der Intubation und der Halswirbel-OP (dabei wurde von vorne der Hals geöffnet und der Rachen aufgeschnitten) alles verletzt und noch nicht ganz verheilt. Wegen der sehr geringen Mengen, die ich durch die Nahrung zu mir nahm, erhielt ich vorerst zusätzlich noch einmal täglich „die Wiener Schnitzel“ von Thomas.

Nachdem ich eines Tages auch von der künstlichen Beatmung am Vormittag „befreit“ wurde, besuchte mich meine Exfrau Sandra am Nachmittag. Das Sprechen fiel mir äußerst schwer und schmerzte, es war ungewohnt, meine eigene Stimme zu hören. Der Hals kratzte und beim Schlucken störte mich ein imaginärer Knödel. Der Luftröhrenschnitt wurde nur mit einem Plastikpflaster zugeklebt – dieses wölbte sich jedes Mal beim Ein- und Ausatmen, eines Frosches gleich. Nach einiger Zeit bat ich Sandra spontan um ihr Handy. Ich wählte Mamas Nummer und als sie annahm, sagte ich mit kurzatmiger, schwacher Stimme: „Hallo Mama, ich bin es, kann ich mal mit Celina sprechen?“ Meine Mutter war so froh meine Stimme zu hören – sie wusste nichts von meiner Beatmungsentwöhnung – ich merkte durchs Telefon wie sich die Tränen voller Freude in ihren Augen ansammelten. „Celina, der Papa kann wieder reden!“ Als ich Celinas schüchternes „Hallo Papa“ hörte, schnürte es mir den Rachen zu – ich blickte auf die Zauberprinzessin und versuchte meine Freudentränen zu unterdrücken… Die Ärzte und die Psychologen meinten, es wäre jetzt noch zu früh für die Kinder, mich zu sehen. All die Geräte und den hilflos daliegenden Papa so zu erleben, wäre vor allem für Fabienne noch nicht zumutbar gewesen.

Einmal, ganz überraschend und ohne Ankündigung, besuchte mich ein Pfarrer – ich nehme an es war ein Seelsorger, der im Auftrag der Anstaltsleitung Besuche abstattete – er war nur ein paar Minuten bei mir im Zimmer, fragte ein paar Belanglosigkeiten, woher ich komme, wie alt ich sei, etc. Dabei legte er seine Hände auf meinen Brustkorb. Zu meinem Unfallhergang stellte er keine Fragen (vermutlich wurde er vorab schon informiert). „Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut – Gott steht dir bei!“ Bevor er wieder ging, erteilte er mir Gottes Segen und gab mir ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Anschließend fühlte ich mich um einiges besser. Woher kannte ich diesen Pfarrer? Sein Gesicht und seine Stimme waren mir irgendwie vertraut. Ich grübelte eine Weile über diese nette Kurzvisite – dann wusste ich es: Er hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Mann, der mich damals im Dezember in meiner Arbeit im Parteienverkehr besuchte. Jener kleine grauhaarige Mann, der mir sagte, ich solle auf mich aufpassen, er sehe mir an, dass es mir nicht gut gehe! Damals hatte er so etwas von Recht! Heute denke ich noch häufig über diese beiden Begegnungen nach. Hatten sie tatsächlich stattgefunden? Ich zweifle noch manchmal an der Existenz dieses Mannes. Oder war es ein Bote, der mich leiten sollte? Ein Gesandter … Gottes?

Natürlich könnte ich nachforschen, einfach mal im Krankenhaus fragen, wer dieser Pfarrer denn gewesen sei… doch nein, ich möchte mich nicht meines schönen Gedankens, meiner Illusion berauben… Ich habe mir fest vorgenommen, falls ich ihn jemals wieder treffen sollte, werde ich mir die Gelegenheit nicht mehr entgehen lassen und mich ausführlich mit ihm über so manche Dinge unterhalten!

Einen Tag bevor ich die Intensivstation verlassen konnte, wurde mir eine weitere, fundamentale Tatsache vor Augen geführt: Eine der Schwestern hatte mir die Verbände gewechselt. Sie erzählte mir, dass sie erst seit ein paar Wochen hier auf der Intensivstation arbeitete und ich merkte eine gewisse Unsicherheit in ihrem Tun. Als sie fertig war, stand sie für eine Weile am Fenster und blickte in die Ferne. „Darf ich mal was fragen? Ich meine… nun ja… ich habe schon manchmal darüber nachgedacht… naja, wie ist das, wenn man da oben steht, ähm…, der Moment bevor man dann wirklich springt?“ sie wandte sich zu mir und sah mich mit fragenden, verwunderten und zugleich ängstlichen Augen an. „Wie fühlt sich das an? Ich kann mir das nicht vorstellen?“ Ich war ganz von der Rolle, habe mit solchen Fragen nicht gerechnet und sogleich war es der Schwester auch peinlich. „Oh, entschuldige. Das ist mir so rausgerutscht…!“ Sie verließ fluchtartig den Raum. Ich war ganz konsterniert – doch mit einem Schlag wurde es mir klar: Oh Gott, ich werde nun von der Welt da draußen als derjenige angesehen, der sich das Leben nehmen wollte! Bis jetzt war ich so sehr mit meinem Überlebenskampf beschäftigt, dass ich mir darüber noch gar keine Gedanken machen konnte. Nicht nur ich mit mir alleine musste ins Reine kommen. All die Mitmenschen gingen davon aus, dass ich also meinem Dasein ein Ende setzen wollte. In großen Lettern habe ich auf meiner Stirn SELBSTMÖRDER eingebrannt! Nun ja, er befindet sich wegen Depressionen in Behandlung, er springt wo runter – da braucht man nur eins und eins zusammenzählen – und es ist glasklar: Dem ist es zu viel geworden und er wollte einen Schlusspunkt hinter sein ach so verpfuschtes Leben setzen! Da habe ich wohl größten Erklärungsbedarf – und kaum Argumente, dies zu widerlegen! Ich werde für den Rest meines Lebens mit diesem schäbigen, beschämenden Stigma behaftet bleiben!

Hier in dieser Fruchtblase Intensivstation war ich abgekapselt – doch nun begriff ich endgültig, dass nichts mehr so sein werden würde, wie in meinem bisherigen Leben. Jetzt wusste ich auch, dass ich mit einem Schlag eine - naja - unrühmliche Berühmtheit wurde. Ich wohne in einem kleinen Dorf – nicht mal 2000 Einwohner hat Reichenau – und da verbreitet sich so eine tragische Nachricht natürlich wie ein Lauffeuer. Ich wurde sozusagen über Nacht das Ortsgespräch. „Hast du schon gehört? … Oh wie furchtbar … gerade der Andi… was ist da geschehen…warum und wie konnte er nur …?!“ Um Himmels Willen, wie schrecklich musste das für meine Angehörigen sein, all die Mutmaßungen und Gerüchte, das Getuschel der Leute! In meiner Arbeit gab es auch nur ein Thema… Später habe ich erfahren, dass die Direktion sogar kurzfristig ein Kriseninterventionsteam einberufen hatte.

Dabei wollte ich mich doch gar nicht umbringen – nie – never ever!!! Ja, das Donnerwetter in meinem Kopf war nicht mehr auszuhalten, die Sorgen und Probleme schienen mich zu zermalmen – und ich hatte panische Angst, mein Leben zermürbende Angst, Todesangst – aber VERDAMMT NOCH MAL: ICH WOLLTE LEBEN!!! Ich wollte wieder ein normales Leben führen, ohne all die von mir entfachten Flächenbrände, ohne die erlittenen tiefen seelischen Schnittwunden, ohne diese Unmengen an Problemen, ohne diese beschissenen Depressionen!

Ich wollte niemanden verletzen und habe mich dabei selbst am allermeisten verletzt!!!!!

Als die Schwester Stunden später etwas schüchtern wiederkam, habe ich sie angesprochen und ihr erzählt, dass ich ihre Frage nicht beantworten könne. Ich weiß nicht, warum ich gesprungen bin, ich habe keine Erinnerung daran, wollte das alles nicht! Ihr war es augenscheinlich noch immer sehr unangenehm, sie nickte, doch so richtig glauben wollte sie mir nicht.

Wie sollte ich das nur der Außenwelt beibringen???

Nach nur drei Wochen bin ich gezeichnet vom Muskelschwund – der Kreislauf ist im Keller – jede kleine Bewegung fällt schwer. Als ich meinen Oberarm betrachtete, erschien es, als hätte sich mein Bizeps mehr als halbiert. Am Brustkorb zeichneten sich meine Rippen deutlich ab (mein Körpergewicht war unter 70 Kilo gesunken – ich hatte also innerhalb kurzer Zeit mehr als zehn Kilo an Körpergewicht verloren!). Meine Augen waren in den Augenhöhlen versunken, die Haut dünn, blass und fahl, mein ganzer Körper blutleer, ausgelaugt, entkräftet.

Die Bilder des auf einen Stuhl fest geschnallten Tennisidols Thomas Muster, der nach seinem Unfall im Jahr 1992 trotz seines Gipsbeines den Ball übers Netz knallte - neben ihm liegen die Krücken – waren in meinem Kopf. Da lag ich nun, schwerst ramponiert – und doch dachte ich an mein „Comeback“ und hatte den innerlichen Drang, sofort damit zu starten, obwohl ich starke Schmerzen verspürte und mich kaum bewegen konnte. Ich erkundigte mich beim Pfleger Norbert, was ich tun könne und nach erstmaligem Abwimmeln erklärte er mir, er werde mal mit den Ärzten und den Physiotherapeuten des Hauses sprechen.

Daniela, die Physiotherapeutin brachte mir am nächsten Morgen eine 1-kg-Hantel. Ich solle damit versuchen, verlorene Muskelmasse – vorerst in den Armen – aufzubauen. Beginn mal mit 15 Wiederholungen – abwechselnd je dreimal pro Arm. 1 Kilogramm ist ja gar nichts, war mein erster Gedanke – ich musste an Seniorenturnen – um nicht zu sagen „Pimp-Your-Alt-Weiber-Jenseits-Der-90-Body“ - denken. Der Gedanke war nur von kurzer Dauer, als ich begann die „Fliegengewicht-Hantel“ mit der Hand von meiner Brust senkrecht weg zu stemmen. Nach rund 10 Wiederholungen legte ich schnaufend die Hantel zur Seite – ich war entsetzt von meinem erbärmlichen Zustand!!

Ich bat meine Mutter mir das Buch von Hermann Maier „Das Rennen meines Lebens“ zu besorgen. Anfangs fiel es mir sehr schwer, zu lesen. Die Zeilen und Buchstaben schienen zu vibrieren – mir wurde schwindelig und ich schaffte nur einige wenige Seiten. Doch ich war fasziniert vom Willen des „Herminators“, der im Schi-Weltcup als so gut wie unbesiegbar galt, bis er im August 2001 bei einem (unverschuldeten) Motorrad-Crash beinahe sein Bein verlor. Sein Kampfgeist, sein Comeback und viele Details dazu, welche in der Öffentlichkeit nicht so bekannt waren/sind, imponierten mir. Auch Hermann wurde zu einem meiner Vorbilder.

Mit Daniela übte ich das „Querbettsitzen“: Erstmals seit Wochen versuchte ich mich mit ihrer Hilfe aufzusetzen. Ganz langsam zog ich mich an ihrem Arm von der Liegeposition aufrecht, bis ich da auf dem Bettrand saß und meine Beinchen runterbaumelten. Ich hatte keine Kontrolle über sie. Sie hingen einfach nur runter, wie bei einer alten, verstaubten Marionette, deren Spieler längst das Interesse an ihr verloren hatte. Und vom Nabel abwärts konnte ich nicht die kleinste Bewegung bewusst steuern. Daniela sah mich an und ließ langsam meine Schultern los. „Keine Angst, du kannst nicht fallen, ich fang dich sonst schon auf!“ Ich blicke auf den graugrün melierten Fußboden, er kommt mir so unendlich weit entfernt vor, als stünde ich auf einem Wolkenkratzer. Der Boden beginnt sich zu drehen, alles rund um mich scheint zu wackeln, es nähert sich ein immer lauter werdender Orkan, der in den Ohren ein gewaltiges Sausen auslöst. Das gesamte Zimmer treibt in den Fluten des vom Sturm aufgepeitschten Ozeans. Keine weitere 10 Sekunden und mir wird schwarz vor den Augen. Mein Kreislauf sackt komplett zusammen, mein ganzer Körper folgt ihm! Daniela will mir etwas sagen, doch ihre Worte ersticken im tosenden Orkan. Rasch und trotzdem sehr vorsichtig bringt Daniela den beinah reglosen Leib zurück in die flache Ausgangsposition… Versuch fehlgeschlagen, geistert es, nachdem ich mich halbwegs erholt hatte, durch den Kopf. Doch Daniela war fürs erste zufrieden. „Wirst sehen, am Nachmittag wiederholen wir das Ganze – und schön langsam wird’s noch besser funktionieren!“ Tag für Tag wiederholten wir dieses Spielchen. Und tatsächlich, allmählich gewöhnte ich mich an die „Höhenluft“. Leichte Gleichgewichtsübungen wurden nach und nach eingebaut.

Nach einem knappen Monat kam ich endlich wieder in den „Genuss“ einer Dusche. Meine komplette Körperpflege wurde auf der Intensivstation von den Pflegern übernommen. Zähneputzen, Rasieren, Nägel schneiden. Ich konnte ja mein Bett nicht verlassen, daher wurden mir auch die Haare in liegender Position im Bett gewaschen. Und das Reinigen des Körpers mit dem Waschlappen war natürlich nicht mehr als „Katzenwäsche“. Jeden Vormittag dieselbe Prozedur. Natürlich spielte das Schamgefühl eine Rolle – speziell, wenn im Intimbereich gereinigt wurde, was mir nebenbei auch große Schmerzen verursachte, war doch durch den Blasenriss der ganze Bereich durch einen starken Bluterguss unterlaufen. Doch die Pflege war trotzdem eine willkommene Abwechslung und ich konnte mich mit den Pflegern / Krankenschwestern angenehm unterhalten. Nun, man kann sich vorstellen, es ist nicht angenehm, wenn man stark schwitzt und sich wochenlang nicht ordentlich waschen kann. Durch die ganzen Medikamente und Infusionen war die Körperausdünstung auch dementsprechend. Kurzum – ich stank wie ein Iltis! Behutsam wurde ich von vier Schwerstern und Pflegern auf eine Duschliege verfrachtet und in einen großen Waschraum geschoben. Das Ganze hatte etwas von einer Leichenwäsche. Pudelnackt lag ich da und wurde vorsichtig, aber gründlich eingeseift, geschrubbt und abgeduscht. Die anfangs beschriebene Scham hatte sich in den letzten Tagen doch gelegt. Für die Pfleger war dies ja was Alltägliches, dachte ich mir. Danach fühlte ich mich „wie aus dem Ei gepellt“ – der Schweiß, eingetrocknetes Blut und Sekrete, der Gestank, all dies wurde weggespült – es war wie eine Art Wiedergeburt, als wäre der abscheuliche Geschmack des Todes endgültig mit all dem „Dreck“ den Gully des Waschraumes runtergespült worden.

Im Hintergrund wurden die Vorbereitungen für meine Rehabilitation eingeleitet. Doch da ja bei mir ein vermeintlicher „Suizidversuch“ vorlag, wollte die Anstaltsleitung in Bad Häring eine psychologische Abklärung, dass bei mir nunmehr keine Gefahr eines Selbstmordes vorlag. Aus diesem Grund wurde beschlossen, mich in das Wagner-Jauregg zurück zu verlegen. Als mir dies mitgeteilt wurde, war ich nicht gerade glücklich über diese Entscheidung. Ich wollte nicht mehr zurück – all die furchtbaren Erinnerungen an diesen Ort waren noch so präsent! Doch ich hatte keine Wahl. Am 3. August wurde ich direkt von der Intensivstation des Unfallkrankenhauses in die Nervenanstalt transferiert. Noch dazu kam ich wieder genau auf dieselbe Station – NOZ3. Manche Patienten waren noch immer zur Behandlung dort und machten große Augen, als sie mich wiedererkannten und sahen, wie ich im Krankenbett liegend in mein Zimmer gerollt wurde. Für deren weitere Therapie war dieser Anblick wohl nicht gerade förderlich. Diese Abteilung war für einen Schwerverletzten wie mich natürlich nicht ausgerüstet! Die Pfleger hatten kaum Ahnung bzw. keine adäquate Ausbildung, wie man mit jemandem umgeht, der frisch von der Intensivstation kam, versehen mit multiplen Knochen- und Organverletzungen. Es war sehr anstrengend für mich. Vor allem die schrecklichen Erinnerungen waren eine enorme mentale Belastung und auch die Betten waren viel härter und nicht so individuell einstellbar. Das Schlafen fiel mir noch schwerer. Auch die Pfleger schienen überfordert – schließlich standen Verbandswechsel, Verabreichung von Infusionen, Einläufen, etc. an der Tagesordnung.

Konrad, der Pfleger der mich damals bei der Aufnahme betreute, unterhielt sich lange mit mir: „Andi, jetzt hast du wahrhaftig eine Aufgabe, ein Ziel, auf das du hinarbeiten kannst!“ Diese Worte bewegten etwas in mir, darüber sinnierte ich lange. Vor meinem Unfall spürte ich eine undefinierbare Leere, eine Unzufriedenheit und das Leben plätscherte so dahin. Die Situation hat sich nun schlagartig geändert!

So im Alter von 8 bis 12 Jahren hatte ich einen Kindheitstraum: Mein Talent war eindeutig der Sport. In den Turnstunden gab es kaum eine Disziplin, in der ich nicht der Klassenbeste war, stellte auch später in der Oberstufe mehrere Schulrekorde auf. Und in den sportlichen Wettkämpfen war ich von meinem Ehrgeiz angetrieben. Lehrer und Trainer erkannten mein Talent – vor allem in der Leichtathletik und im Schwimmen hatte ich meine Stärken. Ich wollte mich mit anderen messen, Höchstleistungen erbringen, an meine körperlichen Grenzen gehen – das war es, was mich anspornte und mir Spaß machte. Alle Berichterstattungen von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften hatten es mir angetan. Und bald hatte ich den Traum, einmal in meinem Leben eine Olympiamedaille zu gewinnen, als erfolgreicher Sportler gefeiert zu werden. Für ein Ziel schuften, schwitzen, kämpfen! Dies war damals als Schuljunge mein Traum …oder vielleicht auch nur eine Schwärmerei. Allmählich wurden aber dann andere Dinge wichtiger – ich musste mich mehr auf das Lernen in der Schule konzentrieren, mir wurde auch immer wieder eingebläut, dass man mit Sport alleine schwer genug Geld scheffeln könne, um sich seine Brötchen zu verdienen. Bis in die Weltspitze zu gelangen, dafür wird es vielleicht doch nicht reichen, kamen leichte Zweifel auf. Mit Freunden ausgehen und Party machen, Mädls kennen lernen und all die Sachen, die einem als Teenager so beschäftigen und interessieren, rückten in den Vordergrund. Auch wenn ich weiterhin sehr gerne und viel Sport betrieb, verblasste mein Traum, ein Spitzensportler zu werden, immer mehr.

Dass ich den schlimmen Unfall überleben konnte, verdanke ich vor allem, dass ich immer sehr sportlich gelebt und meinen Körper fit gehalten habe. Meine gute körperliche Konstitution war auch laut meinen Ärzten dafür verantwortlich, dies alles überhaupt zu überstehen. Mein Körper wurde extremsten Belastungen ausgesetzt. Ein starker Raucher oder ein stark Übergewichtiger hätte nicht den Funken einer Chance gehabt und wäre an den schlimmen Verletzungen gestorben, versicherte mir einer der behandelten Ärzte, kurz bevor ich ins Reha-Zentrum überstellt wurde. Nun befinde ich mich mitten in der größten Herausforderung meines Lebens! Auch wenn die Aufgaben schier unmöglich zu schaffen erscheinen – ich nehme die Herausforderung an! Kein vielleicht oder vielleicht doch nicht, mal abwarten, kein Morgen, Übermorgen, oder nächste Woche, …oder irgendwann einmal. Nein – ich war mittendrin – keine Zeit zum Überlegen, zum Zaudern, no time to lose! Jetzt - sofort geht’s los!!!

Es sind viele Schauplätze an denen ich gleichzeitig kämpfen werde – doch ich werde kämpfen, beißen, kratzen, attackieren, boxen, pushen… Full Power – No Excuses!! Ich werde es mir und allen anderen beweisen!!! Obwohl ich nun ganz unten angelangt war - mein Lebensmut wurde wiedererweckt.

Ich stand also vor einer neuen, riesigen Challenge, hatte ein neues Ziel – doch geht es dabei nicht um öffentliche Anerkennung, mein Prestige und Ruhm, Geld oder sich im Wettkampf mit Konkurrenten zu messen. Keine persönlichen Eitelkeiten, kein Aufpolieren des Images! Es geht für mich um substanzielle und richtungweisende Dinge – es geht um mein Leben und was ich noch aus diesem verbliebenen ICH herausholen kann.

Vor allem meine Eltern regten sich über die mangelhafte Versorgung in der Nervenklinik furchtbar auf – und nach Rücksprache mit den Ärzten, entschied man sich doch dafür, dass ich nach einer knappen Woche wieder ins UKH, allerdings in die offene Abteilung rückverlegt wurde. Doch in diesen Tagen im Wagner-Jauregg-Krankenhaus hatte ich die Möglichkeit nochmals mit Herrn Dr. Leber und dem Psychologen, Herrn Jesina zu sprechen. „Herr Pammer, was machen Sie denn für Sachen. Sie haben uns einen Riesenschrecken eingejagt!“ Irgendwie war die Situation komplett konträr, die Gespräche mit den beiden ergaben plötzlich einen Sinn für mich. Ich hatte die Scheuklappen abgelegt – und manchmal mussten wir sogar ein wenig lachen. Mir gingen in vielerlei Hinsicht die Augen auf. Ich konnte wieder klare Gedanken fassen, das Hamsterrad gehörte nun definitiv der Vergangenheit an. Nach den Gesprächen konnten die beiden mit gutem Gewissen die Reha-Tauglichkeit aus psychologischer Sicht bescheinigen.

Tief gefallen... ...ins Glück

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