Читать книгу Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth - Страница 12

1.2. Die erste Jugoslawienreise 1924 und ihre Folgen

Оглавление

Zunächst ging Reiswitz auf Reisen. Von August bis Dezember 1922 hielt er sich in Süddeutschland und Österreich auf. Viel Zeit verbrachte er mit seiner Freundin Auguste Sabine Lepsius (1899–?) und deren Schwester Sibylle (1902–?), den Töchtern des Malerehepaars Reinhold (1856–1922) und Sabine Lepsius (1864–1942). Im Salon der Lepsius’ verkehrten unter anderem der Soziologe Georg Simmel (1858–1918)136 und der Schriftsteller Stefan George (1868–1933). Die Erstausgaben seiner Werke durfte Reiswitz unter den „Bücherschätzen“ der Lepsius’ bewundern.137

Auf weitere Bücher traf er in der Bibliothek von Schloss Zdechovice in Böhmen, wo Reiswitz im August 1923 Hannah von Mettal (1884–1966), Freundin der Familie und Übersetzerin der Werke des irischen Autors James Joyce (1882–1941), einen mehrtätigen Besuch abstattete.138 Für die Reise in die Tschechoslowakei, die ihn auch nach Prag führte, hatte er sich eigens am 28.07.23 einen Reisepass ausstellen lassen. Auf Seite 11 des gegen eine Gebühr von 300 Mark ausgehändigten Dokuments befindet sich ein mit dem Datum des 25.08.1924 versehener Stempeleindruck des Kommissars der Eisenbahnpolizei von Maribor, welcher die erste Einreise von Reiswitz in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen bezeugt. Sein am 06.08.1924 von der jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin ausgestelltes Visum war bis zum 19.10.1924 gültig. Anders als die Tschechoslowakeireise im Jahr zuvor sollte die Jugoslawienfahrt einen Wendepunkt in seinem bis dahin eher unsteten Bohèmeleben bedeuten.

Reiswitz’ Sommerreise begann am 10.08.24 von Berlin aus. Einen Tag vorher hatte er eine zweihundert Seiten starke „hinreißende“ Reisebeschreibung über Dalmatien gekauft, die er mit großem Interesse zu lesen begann.139 Ebenso traf er sich an jenem Tag noch mit seinem Freund Kurt Sternberg (1899–?)140. In seinem Tagebuch schrieb er unter dem 10.08.24 über eine Reise, in die er „hineinwalle mit ganz erfüllter Seele.“

Von Berlin aus ging es zunächst mit dem D-Zug durch das Saaletal und den Thüringer Wald nach Nürnberg. Dort blieb er zwei Tage im Hotel „Roter Hahn“ in der Königstraße. Nürnberg verließ er dann mit einem Personenzug und fuhr acht Stunden durch die Fränkische Schweiz und über Regensburg an der Donau entlang nach Passau, wo er eine weitere Nacht verbrachte. Von Passau aus ging es nach Linz. Dort schiffte er sich flussabwärts ein und machte den nächsten Halt in Spitz an der Donau, nun bereits in Österreich angelangt. Hier nutzte er die Gelegenheit für eine 20km-Wanderung donauabwärts nach Krems. Danach reiste er weiter nach Wien. Er residierte im Zimmer 406 des Hotel Bristol in der Kärntner Straße und war von der Stadt sehr angetan. Er schätzte die großzügige Anlage der Stadt, die im Vergleich mit Berlin mindestens ein Stockwerk höheren Gebäude, und es fiel ihm auch auf, dass viel mehr Autoverkehr herrschte. Mehrere Tage verlebte er in Wien (20.08–26.08.24), während derer er u.a die Schlösser Belvedere und Schönbrunn besichtigte, aber auch einen Heurigenwirt auf dem Kahlenberg aufsuchte. Auch die Hofburg, den Stephansdom – gegen den die Münchener Frauenkirche seiner Ansicht nach in wenig günstigem Licht erschien – und den Prater besichtigte er mit Begeisterung. Dort mißfiel ihm aber – vielleicht in Erinnerung an die Tage des Spartakusaufstandes in Berlin – die verstärkte Anwesenheit von Angehörigen der Unterschicht: „Vielleicht, dass es vor der Revolution anders war, … jedenfalls waren genau dieselben Proletarier wie bei uns etwa ‚Unter den Zelten‘141 zu sehen u. wenig Wiener“. Er schob aber dann ironisch im selben Brief nach, dass dieser negative Eindruck vielleicht aber auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass ihm seine zu engen Schuhe Schmerzen bereiteten.

Seine Abreise aus Wien verzögerte sich etwas, weil ihm das Portemonnaie mit „sechs Pfennigen“ und die Kofferschlüssel gestohlen worden waren. Weiter ging es am 26.08. um 8 Uhr morgens mit dem Zug nach Agram, welches er lediglich „sehr interessant“ fand, obwohl die Fahrt dorthin mit der Eisenbahn „herrlich“ war, während derer er die Bekanntschaft eines „Schankwirtes“ aus Esseg machte, eine „Mischung von Jude, Ungar, Serbe“,142 welcher ihm das Hotel „Imperial“ empfahl, anstelle des bereits gebuchten „Palace“. Von Agram aus reiste er am nächsten Tag über Slawonski Brod, wo eine weitere Übernachtung im Hotel „Central“ anstand, in deren Vorfeld er „bei guter Musik und bei gutem Bier“ sein Abendessen einnahm.143 Von Brod aus brach er am 28.08. um früh morgens auf, löste ein Billet II. Klasse und kam nach zwölf Stunden Eisenbahnfahrt in Sarajevo an.

Aus der bosnischen Landeshauptstadt schickte Reiswitz dann mit Poststempel vom 06.09. einen mehrseitigen, mit Bleistift handgeschriebenen Brief, dem er noch zwei Postkarten mit Ansichten aus Sarajevo beilegte, an das „Fräulein Fresenius“, die er mit „Mein geliebtes Herze Kindel“ anredete, wohnhaft in der Burgstr. 9 in Auerbach (Bensheim, Hessen). Darin schilderte er ausführlich seine Eindrücke der ersten vier Tage in Sarajevo.

Vom 02. bis 05.09. war er jeweils für mehrere Stunden allein in der Stadt unterwegs, besuchte das Landesmuseum [Zemaljski Muzej], eine „türkische Kawana“ [Kafana; Kaffeehaus, Gastwirtschaft] und hatte am 05.09. schon Sprachunterricht: seine erste „kroatisch-serbisch-slawische Stunde“. Er war beeindruckt von der geographischen Lage Sarajevos, umrahmt von „1000–1700 m hohen Bergen“, die Stadt „terassenförmig an ihren Abhängen heraufkletternd“. Er erwähnte die „weißglühende“ Hitze und beschrieb die ethnische Vielfalt: „Bosniaken-Serben; Kroaten; Serben; Montenegriner; Herzegowiner; Kurfürstendammfiguren, Spaniolen, Derwische, Türkenfrauen, Slawenfrauen, Türkenmädchen, Slawenmädchen, Kurfürstendammfrauen, Kurfürstendammmädchen. Alle anders gekleidet, nie geschmacklos.“ Mit dem Kurfürstendammepithet meinte Reiswitz vermutlich, dass die so bezeichneten Frauen der von ihm nicht besonders geschätzten Mittel- oder Oberschicht nach westlich-hauptstädtischem Vorbild gekleidet waren.

Als begeistertem Gartenfreund144, der selbst ein Grundstück besaß in Bornim bei Potsdam, wo seit 1912 der ihm gut persönlich bekannte Gärtner und Staudenzüchter Karl Foerster (1874–1970) wirkte, stach ihm besonders die Geomorphologie und Vegetation ins Auge. Detailgetreu zeichnete er in dem Brief die Beschaffenheit des Kalksteins nach, „eine Masse, die sich rasch zersetzt, weiß glüht, braune Flecken bekommt, braun wird und zerfällt. Eine Masse, welche die groteskesten Formen annimmt. Eine Masse, die Schlupfwinkel bietet für alle Möglichkeiten der Vegetation (siehe Försters Steingarten, der aus nichts anderem besteht wie aus Kalkstein).“

Dann wandte er sich den in dieser Landschaft um Sarajevo herum wirtschaftenden Menschen und Tieren zu: „Auf dieser eingekrallten [sic] Kalk-Vegetation weiden unzählige Schafherden mit Hirten, die weite monotone Melodien auf seltsamen Holzflöten spielen. Vollkommene Urvölker in Sitten u. in ihrem Verhältnis zu ihrer Kulturmöglichkeit, die mich um Cigaretten anbetteln u. mit dem weithin schallenden Ruf danken ‚Heil Dir, Du großmütiger Spender‘, in ihrer Sprache“.

In seiner folgenden Beschreibung verließ er dann weiter die eigentliche Stadt: „Wenn Du auf einer Höhe stehst, so sieht das Land ringsum mit seinen Zwerghölzern aus wie eine Relief-Karte aus Gips, so übersichtlich. Die Flußläufe glänzen richtig ‚silbern‘ u. strahlend weiße Linien durchschneiden das Land als Wege.“

Schließlich aber kehrte er imaginär nach Sarajevo zurück. Er erwähnte die an den Berghängen anzutreffenden zahlreichen „Kawanen“, mit „überwältigender Aussicht“, wo „Citronenwasser“ und Kaffee in „in ganz kleinen Tassen“ ausgeschenkt werde, welcher zuvor in „kleinen offenen kupfernen Kannen zubereitet wurde.“ Zur besseren Veranschaulichung für Fräulein Fresenius fügte Reiswitz an dieser Stelle die Skizze eines typisch bosnischen Kaffeekännchens bei, einer „džezva“, mit dem Zusatz „so !“. Gereicht werde der Kaffee ohne Milch und mit viel Zucker, dazu „raucht man zahllose Cigaretten“. Er kam zu dem Schluss, dass „Nikotin und Koffein so stark sind, dass sie sich gegenseitig in Ihrer Wirkung aufheben“.

Es folgte dann eine vergleichende Übersicht über die wichtigsten für Besucher relevanten Preise, welche Kaffee, Melonen, Eier, Butter, Wein, eine Straßenbahnfahrkarte, sowie Enten und Gänse umfassten.

Als nächstes ging Reiswitz auf die Straßen und Häuser in Sarajevo ein. Besonders die Straßen an den Berghängen zeichneten sich durch „Romantik aber auch Schönheit“ aus, vermutlich wegen ihrer abenteuerlichen Führung. Ansonsten aber verglich er seinen Spaziergang mit dem Gang durch eine „einzige große Festung“, da alle Fenster zur Straße hin vergittert seien und zudem keine baulichen Zwischenräume bestünden, sodass man an „Festungsmauern mit stets verschlossenen Türen“ vorbeigehe. Der Straßenbelag bestehe lediglich aus „brauner Erde“, mit Kalksteinen angereichert, „so daß es zum Anfang eine Marter“ sei, sich zu Fuß fortzubewegen.

Die Häuser würden alljährlich weiß gekalkt, nur gelegentlich in „zartem rosa, blau, braun, gelb od. grün“. Reiswitz fertigte dann für seine Freundin Fresenius zwei weitere Skizzen an, um die unterschiedliche Dachform der türkischen und slawischen Häuser zu veranschaulichen. Aus den Skizzen ging hervor, dass die türkischen Dächer flacher und die slawischen deutlich steiler waren.

Steil seien auch die Straßen, deren Anstieg er mit einer weiteren Skizze dokumentierte, auf welchen aber in Ritzen und Fugen überall üppige Vegetation gedeihe.

Nun folgten Bemerkungen über die verschleierten „Türkenfrauen“ und die lange Kopftücher tragenden slawischen Mädchen, „die wir aus den Büchern kennen“. Die Länge der Kopftücher wurde durch eine weitere Bleistiftzeichnung im Brief veranschaulicht. Zahllose Kinder und mit Holz beladene Maultiere komplettierten das „Kommen und Gehen“ auf den Straßen der Stadt.

Gelinge es einem, einen Blick hinter eine geöffnete Tür zu werfen, so sähe man „durch den sekundenlang geöffneten Spalt „stille verwunschene Höfe mit Blumen u. Brunnen u. Frauen, die ängstlich die Schleier fallen lassen.“

Reiswitz beendete dann die Beschreibung seiner Eindrücke der ersten Tage in Sarajevo mit dem Versprechen, dass er im nächsten Brief mehr über die „Türken und Serben“ berichten würde. Ein wenig besorgt fügte er hinzu: „Hoffentlich ist dir das détail [sic] nicht langweilig“.

In den letzen Zeilen des Briefes ging Reiswitz auf seine Gastgeberin in Sarajevo ein. Er wohnte in einem Zimmer des Gebäudes, in welchem unweit vom Fluss Miljacka das deutsche Konsulat untergebracht war. Dies wurde ihm ermöglicht durch seine zehn Jahre ältere Verwandte, Mathilda „Tilla“ Bethusy-Huc, geb. von Zastrow, die Ehefrau des deutschen Konsuls Eugen Graf von Bethusy-Huc.145 Die Konsulsfamilie lebte mit ihren beiden Söhnen Karl-August (1909–?), Heinrich (1911–?) und der Tochter Maria-Elisabeth (1917–?) in einer benachbarten Villa.

Am 30.08.23 hatte Tilla Reiswitz bereits ausdrücklich eingeladen. Doch im Moment hätten sie nur eine kleine Wohnung in Sarajevo, und das Fremdenzimmer des Konsulats sei durch den neuen Kanzler belegt. Reiswitz könne aber ab Oktober kommen, alles hinge nur von seinem „persönlichen Mut“ ab. Man solle sich in Sarajevo nicht von den „hiesigen Spießern“ der deutschen Gemeinde verleiten lassen, die glaubten, man müsse in der bosnischen Landeshauptstadt ein Großstadtleben wie in Berlin führen. Sie versuchte Reiswitz den Besuch schmackhaft zu machen und schrieb in einem undatierten Brief aus dem Frühsommer 1924: „Das Land hat schon Charm [sic], aber er erschliesst sich schwer, wenigstens ging es mir so“. Jetzt habe sie aber nach einer dreitägigen Landtour, als „Zigeuner“, durch „wunderbare Gegenden“, angefangen das Land zu lieben. Es gebe dennoch „sehr viele Extreme“. Sie erwähnte auch den „Gleichmut der Orientalen“. Ihr Urteil über die örtliche Bevölkerung fiel aber insgesamt positiv aus: „An Menschen finde ich hier doch recht viel nettes, einen Katholiken, der Muhamedaner wurde, einen Muhamedaner, der Katholik wurde, die Kustoden des Museums, die das Land in und auswendig kennen“. Endlich, so lässt sie ihren jüngeren Verwandten wissen, habe die Familie auch ein adäquates Haus gefunden, sodass Reiswitz sofort aufbrechen könne.

In einem Brief vom 29.06.24 offerierte Tilla Reiswitz weitere politische und volkskundliche Anreize, Jugoslawien zu besuchen. Er solle die Mentalität der Südslawen kennenzulernen, „auf die wir in Deutschland ob kurz oder lang doch angewiesen sind“. Die Südslawen seien die „unkultiviertesten [von allen Slawen], und darum kann man sie am besten kennen lernen, weil die Unterschiede am meisten ins Auge fallen und die ganzen Charakterzüge sich am klarsten zeigen.“ Sie selbst wiederum war nun stark an Trachten interessiert: „Man kann hier bei den vielen Trachten unendlich viel Anregung haben und lernt Farben, Stoffe und vieles, was eben nur der primitive Mensch sieht, sehen; durch die Art wie er die Natur in seine Dienste stellt, und umarbeitet und braucht zur Anwendung. An den einfachsten Gebrauchsgegenständen lernt man die … Kunst-Natur-Gesetze.“ Aufschlussreich sind ihre Ausführungen über die Begehung des serbischen Nationalfeiertags, des Vidovdan, am 28. Juni, in Erinnerung an die Amselfeldschlacht 1389. Hier, so Tilla, offenbare sich die „Wesenfremdheit der Menschen“, sie sprach sogar von einer „Wesensfeindschaft“, weil zwar „öffentliche Feiern des Mordes [am österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand am 28.06.14]“ verboten seien, aber „ganz geschickt“ als Turnerfest organisiert werden, „von dem Verein, der vor dem Kriege hier die serbische Sache propagierte“. Die Konsulsfamilie hatte eine offizielle Einladung erhalten und auch angenommen, aber Tilla sträubte sich innerlich dagegen: „Wir haben mitfeiern müssen, da es ja nur ein Schauturnen war, und haben mit gelächelt. Lieber hätte ich geheult“.

Zwischen den Zeilen dieser Aussage verbirgt sich Tillas politische Einstellung Jugoslawien gegenüber. Wie die meisten ihrer deutschen Landsleute hatte auch sie die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg nicht verkraftet und sah in Jugoslawien vornehmlich weiterhin den ehemaligen Feindstaat Serbien. An einer anderen Stelle in diesem Brief führte sie aus, dass sie sich Deutschland vorstelle wie eine „ausgepresste Citrone, an der erst jeder drückt, und die dann langsam vertrocknet“.

Einen Monat später, am 24.07.24, schrieb sie erneut an Reiswitz. Er hatte am 19.07.24 sein Kommen in einem „begeisterten Ja-Brief“146 fest zugesagt und nun bat sie ihn, bis spätestens 15.09. anzugelangen, weil bis dahin Bergtouren noch möglich seien. Zudem fände am 20.09. ein Wallfahrtsfest statt, an dem „tausende und mehr Leute in Nationaltracht“ teilnehmen, eine Aussage, die Tillas Interesse an der Nationalkleidung unterstreicht. Dass die Familie Bethusy-Huc viel Freude an Unternehmungen an der frischen Luft hatte, geht auch daraus hervor, dass sie ihm dringend empfahl, sein Fahrrad mitzubringen: „Wir radeln hier alle, zum Entsetzen der Einheimischen“. Dann äußerte sie sich erneut zur religiösen Toleranz in Sarajevo: „Wir vertragen uns hier nämlich konfessionell sehr gut und alle Leute gehen zu allen Heiligen“.

Um Reiswitz’ den Aufbau eines Bekanntenkreises zu ermöglichen, solle er sich Empfehlungen eines Verlags oder einer Zeitung besorgen, „um intellektuelle Kreise leichter kennenzulernen“. Am vorteilhaftesten sei es anzugeben, dass er „hier etwas zu studieren“ habe, „um den Serben zu schmeicheln.“ Im Moment sei es, so Tilla, allerdings zu heiß: In Mostar „tropfen die Bleidächer“.

Auch in seinem Tagebuch beschrieb Reiswitz seine ersten Tage in Sarajevo. Am Tag nach seiner Ankunft erschien Reiswitz das Wetter zunächst „grau.“ Er war in einem Zimmer im deutschen Konsulatsgebäude untergebracht und erkundete direkt am Morgen des 29.08. auf eigene Faust die Stadt, gestand aber seinem Tagebuch, dass er sich ein wenig fürchtete, da er ja die Sprache nicht beherrschte. Tilla holte ihn mittags ab und beide streunten bergauf durch den muslimischen Teil der Stadt. Der orientalische Charakter wirkte auf ihn rätselhaft, aber faszinierend: „Ich sehe, wie meine große Reise vom schönen zum immer schöneren ging und nun ins seltene, zauberhafte übergeht.“ Auch am Folgetag, dem 30.08., war er gebannt von den Eindrücken des Orients. Er besichtigte mit Tilla die Baščaršija, das Geschäftsviertel im Zentrum der Stadt: „So etwas gibt es wirklich!“ Am 31.08. bestieg er zusammen mit den beiden Söhnen Tillas und deren Privatlehrer den 1.627 Meter hohen Berg Trebević südöstlich der Stadt. Einen Tag später besuchte er zum ersten Mal das Landesmuseum und begann dann über die nächsten Tage hinweg mit der von ihm so bezeichneten „Eroberung“ der einzelnen Stadtviertel, teilweise allein, manchmal in Begleitung von Tilla oder des Konsulatsdieners Purgstaller. Am 04.09. besichtigte er den jüdischen Friedhof. Tags darauf war er wieder im Landesmuseum und hatte seine erste Unterrichtsstunde in der Landessprache bei dem Konsulatsbeschäftigten Šober. Zwei Tage später ging es mit dem Hauslehrer und den Bethusy-Huc-Söhnen im Auto über Ilidža und die Bosnaquelle auf den Berg Igman mit anschließender Übernachtung in Veliko Polje.

Die Hitze machte dann auch tatsächlich Reiswitz zu schaffen. Am 12.09. meldete er an Frl. Fresenius, dass es um zehn Uhr morgens bereits 45 Grad habe. Zudem habe er „keine Ruhe zum Schreiben“, da sein Zimmer im Konsulat „zu laut“ sei. Es stinke nach „Zwiebeln, Knoblauch und Hammelfett“ und unmittelbar darunter wohne ein „Böttcher, der andauernd hämmert“. Auch im Hause Bethusy-Huc könne er nicht schreiben, da dort die Kinder „herrschen mit Geräusch“. Doch er trotzte diesen Widrigkeiten der Umstände. Am 08., 09. und 10.09. machte er zwar nur drei- bis vierstündige Exkursionen wegen der Hitze. Doch am 11.09. schwang er sich auf sein mitgebrachtes Rad und fuhr nach Pažarić, hin- und zurück, eine Strecke von insgesamt ca. 60 km.

Es war in ihm nun der Entschluss gereift, seine berufliche Zukunft, die ja nach Abschluss der Promotion 1922 noch völlig ungeklärt war, ebenfalls im auswärtigen Dienst zu finden: „Die Diplomatie ist für mich von der Absicht zum Willen geworden“. Er legte dar, dass „Gen“ – gemeint ist der Konsul Eugen Bethusy-Huc – eintausend Mark für seine Tätigkeit bekomme, und das in einer „relativ niedrigen Stellung“. Seine Dienstpflichten beanspruchten nicht mehr als drei Stunden täglich. Obwohl „Gen“ selber kein Vermögen habe, verfüge er in Sarajevo für seine Familie über einen Hauslehrer, eine Gouvernante und drei Dienstboten. Fräulein Fresenius möge diese vertraulichen Informationen aber für sich behalten, „vor allem nicht diesen“ – nicht weiter benannten – „Demokraten“ oder aber ihrer Mutter darüber berichten.

Aus den Tagebucheintragungen des Jahres 1924 von Reiswitz im Vorfeld der Reise erschließt sich dieser konkrete Berufsswunsch nicht eindeutig. Ein Paradigmenwechsel, was sein Forschungsinteresse anbelangt, ist allerdings erkennbar in einem Eintrag vom 02.04.24: „Ich befand mich in einem seltenen Rausch. Es gibt für mich nichts erschütternderes als das Schauen des Zusammenprallens der Kulturen. Heute wurde mir West-Asien klar! Die Assyrisch-Babylonische; die Medisch-Persische; die Arabische, die Osmanische u. die Indische Kultur. Wie wenig wissen wir doch! Jenes Spiel der Kultur-Giganten! Wie wichtig ist es. Wie unerhört packt mich das Schauspiel ihrer Thesis-Antithesis u. Synthesis. Heute mehr denn je wurde ich in die geistige Lage versetzt wieder das Auswärtige Amt zu besuchen. Ich war in einem Rausch, der fast unerträglich schön war. Stunden hindurch saß ich im Ledersessel u. rauchte u. sah die großen Kulturen u. ihre Zusammenhänge.“

Am 07.04. tat er kund, dass er „jetzt energisch mit … der Kultur beginnen will.“ Sein Lesepensum in der Folgezeit gibt einen gewissen Aufschluss über seine neu entfachten Interessen. So erwähnte er am 14. und 15.04. die Lektüre von „Die Kunst der alten Perser“, wobei es sich wahrscheinlich um das 1922 erschienene „Die Kunst des alten Persien“ des Orientkenners Friedrich Sarre (1865–1945) handelte. Zum anderen erwähnte er untern anderem am 12.06. und 21.06. „Spengler“ als Lesestoff, am 24.06. gab er sogar an, er habe „den ganzen Tag“ damit verbracht „Spengler“ zu lesen, womit er ohne Zweifel „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler meinte, dessen erster Band 1918 erschienen war. Doch waren die vom ihm im Vorfeld der ersten Jugoslawienreise rezipierten Werke, soweit dies dem Tagebuch entnehmbar ist, nicht nur kunst- und kulturwissenschaftliche Fachliteratur. Am 09. und 10.07. notierte er „Tiere, Menschen, Götter“, die in demselben Jahr frisch erschienenen, hinsichtlich ihrer Authentizität umstrittenen Erinnerungen des Schriftstellers und Forschungsreisenden Ferdynand Antoni Ossendowskis (1876–1945) über seine Zeit an der Seite des sogenannten „weißen Barons“, Roman von Ungern-Sternberg, der 1921 kurzzeitig über die Mongolei herrschte.

Reiswitz’ Hinwendung zum „Osten“ ist auch erkennbar im Tagebucheintrag vom 21.06.24. Dort schilderte er seinen Besuch einer Lehrveranstaltung von Otto Hoetzsch (1876–1946) an der Berliner Universität: „Es wimmelte von Politikern, Candidaten und auswärtigen Schmarotzern“. Er war von Hoetzsch positiv beeindruckt und versprach sich „viel von diesem Seminar“ des Osteuropahistorikers. Ominös fügte er hinzu: „Hoffentlich ist es keine Enttäuschung“. Am 17.07. vermerkte er einen weiteren Besuch im Osteuropäischen Seminar, was auf sein fortgesetztes Interesse schließen lässt.

Während seine Lektüre und die Besuche im Osteuropäischen Seminar noch keine Schlüsse hinsichtlich eines konkreten Berufswunsches zulassen, so verdichteten sich die Anzeichen am 31.07., als Reiswitz seinem Tagebuch anvertraute, dass er an diesem Tag im Auswärtigen Amt war, wo er mit den Legationsräten Dr. Herbert Freiherr von Richthofen (1879–1952) und Otto von Erdmannsdorff (1888–1978) sprach.147 Es schien sich um eine Art Vorstellungsgespräch gehandelt zu haben. Erdmansdorff sei „höflich“ gewesen, habe aber auch bemerkt, dass Reiswitz „sehr jung“ und ohne „dunklen Anzug“ sei und forderte ihn dazu auf, sich nach Abschluss der Jugoslawienreise wieder bei ihm zu melden – vermutlich im Zusammenhang mit dem Bestreben Reiswitz’, eine diplomatische Stelle zu übernehmen, um in die Fußstapfen seines Verwandten zu treten. Einem Brief seines Doktorvaters Ernst Troeltsch vom 29.12.25 ist die Information zu entnehmen, dass Reiswitz wohl eine Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte, da Troeltsch Erkundigungen im Auswärtigen Amt eingezogen hatte, ob Reiswitz einen zweiten Versuch starten könne. Dies sei wohl möglich, doch Reiswitz müsse ein gesondertes Gesuch stellen und eine Bescheinigung beibringen, dass sein „Versagen“ in der Englisch- und Französischprüfung auf eine kurzzeitige – wohl kriegsbedingte – „geistige Indisposition“ zurückzuführen sei.148

Die konsularischen Obliegenheiten Eugen Bethusy-Hucs müssen sich tatsächlich in Grenzen gehalten haben, da er Reiswitz in den folgenden Tagen und Wochen bei mehreren Ausflügen begleitete. Am 07.09. hatten beide zusammen den mehr als 2.000 Meter hohen Bjelasnica-Berg bestiegen. Der Weg zum Gipfel – wahrscheinlich von Ilidža aus – führte durch „richtigen Urwald“, so Reiswitz in einer Postkarte an Fräulein Fresenius vom 09.09.24. Im Tagebucheintrag vom 07.09.beschrieb er detailliert die Pflanzenwelt, die er beim Aufstieg gewahrte. Auf dem Gipfel angekommen packte er dann die mitgebrachte „Vossische Zeitung“ aus: „Ich hatte irgendwie Sehnsucht nach Charlottenburg.“149

Am 12.09. stand ein Familienausflug auf der Tagesordnung. Zunächst fuhr man nach Tarčin, westlich von Sarajevo. Von dort aus begann der Aufstieg nach „Mečkina Luka“150, an dem alle fünf Bethusys nebst Kindermädchen teilnahmen. Man ritt auf Maultieren, erneut durch einen „Urwald“, und übernachtete in einer Berghütte bis Montag, den 15.09.

Drei Tage vorher hatte anscheinend ein Bär der Lokalität einen Besuch abgestattet. Der die Ausflügler beleitende Forstmeister hatte zunächst Schwierigkeiten, ein Pferd zu bekommen, doch schließlich gab ihnen ein reicher Bauer nicht nur ein Pferd, sondern auch noch seinen Sohn als Begleiter. Reiswitz war beeindruckt von der „Stille des Waldes“, dem Alter und der Größe der Bäume. Aber nicht nur die Natur hinterließ bei ihm einen prägenden Eindruck. Die serbischen Bauern, so schrieb er an Fresenius, arbeiteten noch „wie zu Noahs Zeit, od. wie die Wilden Afrikas. Kaum ein einziger kann lesen u. schreiben.“ Ihr Pflug sei aus Holz und „dreschen tun sie, indem sie ein Pferd um einen Holzpflock herum über das Getreide, das darum liegt jagen. Von Dünger weiß man noch gar nichts u. Zeit haben sie immer. Sie führen ein völlig biblisches Leben.“

Ferner notierte er Völkerkundliches: „Bosnien ist bewohnt von Slawen. Aber aus diesen Slawen sind 2 total verschiedene Rassen geworden, die zum Islam übergetreten sind, die sogenannten ‚Türken‘ sind ehrlich, freundlich, kultiviert, wohnen nur an Stellen mit schöner Aussicht, haben die Städte gebaut und bewohnen sie überwiegend, geben z.B. Sarajevo den charakteristischen Stempel, sind in jeder Beziehung angenehme Menschen. Sie sind durch ihre Religion zu einer völlig eigenen Rasse geworden. … Die, die ihrem alten Glauben treu blieben, das sind die ‚Serben‘. Im Zustand unserer Merovinger Zeit … übertüncht europäisch, rasch degenerierend; (weil die Kultur der Slawen ja erst erwacht …) die Eigenart dieser Slawen, welche europäische Kultur und Zivilisation übernehmen, ist so stark, daß sie z.B. die Mode völlig eigen umformen; sie werden aber von den anderen Slawen verachtet u. es bekommt ihnen auch nicht sich in jene anorganische Jacke gezwängt zu haben. Entweder degenerieren sie vollkommen od. die alte Haut bricht wieder durch. Ein ‚Serbe‘ wird nie mit einem ‚Türken‘ zusammen im selben Lokal sitzen“. Bosnische Serben und Muslime seien wie Hund und Katze.

Sofort nach seiner Rückkehr von dem Ausflug nach Tarčin nahm Reiswitz sein Studium der Landessprache wieder auf, las das 1916 erschienene Buch „Die Türkei: Bilder und Skizzen von Land und Volk“ des Offiziers in osmanischen Diensten Franz Carl Endres (1878–1954)151 und notierte am 18.09.24, dass er Leopold von Rankes im Jahre 1829 erschienene „Serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mittheilungen“ (1829) zum Teil gelesen habe.152 Einen Tag danach gibt das Tagebuch darüber Auskunft, dass er Michail Lermontovs (1814–1841) romantisches Gedicht „Der Dämon“ gelesen hat, dessen Handlung im Kaukasus angesiedelt ist. Am 14.10. wiederum las er über byzantinische Geschichte.

Am 21.09.153 machte Reiwitz dann eine Exkursion nach Taorina, wo es aus einem festlichen Anlass viele Trachten zu sehen gab. Dem „Knes-Dorfschulzen“ mussten alle Frauen des Ortes die Hand küssen. Die Männer trugen alle Pistolen „so groß wie Kanonen“ die sie dann alle „vor Freude in die Luft“ abfeuerten. Das ganze Spektakel wirkte wie ein „Kriegszug“ auf ihn.

Die vielen Eindrücke, die er in den ersten Wochen von Sarajevo und Umgebung gewonnen hatte, gaben ihm schon am 12.09.24 Anlass zu folgendem Vergleich: „Hier ist kein Analogon zu Italien, sondern hier beginnt der Orient. Er setzt mit dem Geruch von Hammelfett ein, zudem sich weiterhin Kameldung in Kleinasien gesellen soll. Ich glaube auch, dass Italien ganz andere Nächte hat, sicher voll von Schönheit, aber nicht so voll von Märchen und Zauber. Sarajevo ist eben eine erste Türkenstadt, während die Dörfer, durch ich gestern mit dem Rade fuhr, slawischer waren; Diese weißen Mauern, Stufen und Stiegen im Mondschein, diese Veranden mit Gittern u. monotoner leiser Musik; diese türkischen Friedhöfe mit weißen Grabsteinen; wirr, ungepflegt u. gespenstisch, wenn der Mond auf jene Wiesen der weißen wirren Steine scheint.“ Vier Tage später fügte er in ähnlich romantisierendem Ton hinzu: „Dieses Land lähmt nicht, aber es versetzt mich in eine bisher nicht gekannte Ruhe der Kontemplation u. erregt die Phantasie bis an ihre Grenzen.“

Am 12.10.24 schilderte er, dann bereits in Dubrovnik angekommen, in einem längeren Brief an seine Freundin in Hessen, zusammenfassend seine bisherigen Erlebnisse in Bosnien. Zunächst berichtete er über eine Radtour mit „Gen“ von Sarajevo in das mehr als hundert Kilometer entfernte Višegrad, welche Reiswitz als „anstrengend“ bezeichnete. Am 01.10. war er nach Jablanica gefahren, um sich dort mit dem Konsul zu treffen zwecks Besteigung des „wilden“ Prenj-Berges. Gänzlich „wild“ wird es wohl nicht gewesen sein, da in der Baedeker-Ausgabe „Dalmatien und die Adria“ aus dem Jahre 1929 bereits Bergtouren im Prenjgebirge beschrieben sind, mit Nennung von Hütten. Allerdings heißt es dort auch: „Bergstock und Bergschuhe angenehm, von Hause mitzubringen; Mundvorrat nötig.“154 Reiswitz jedenfalls war vollauf begeistert und schrieb, dass „diese Tour, im Herzen der Herzegovina, das Grandioseste meiner ganzen Bosnien-Reise war.“

Am 03.10. hatte er Sarajevo nach mehr als einmonatigem Aufenthalt verlassen und war zunächst nach Mostar, „eine Oase mitten im uneigentlichsten trostlosesten Karst“, weitergereist, wo er zwei Tage blieb. Besonders auffällig war für ihn der Kontrast zwischen der unwirtlichen Umgebung der Stadt und der blauen Neretva.

In seinem Brief vom 12.10. lobte er ausdrücklich die „Genialität, mit der die Österreicher Straßen und Eisenbahnen durch diese wilde Welt bauten“. Von seiner Weiterreise am 05.10. um 4 Uhr morgens aus von Mostar nach Dubrovnik mit dem Zug war er besonders begeistert, vor allem, als sich eine Stunde vor Ankunft der Blick auf die „unbeschreiblich blaue Adria“ eröffnete.155 Von Gravosa aus brachte ihn ein Wagen in die eigentliche Stadt, in das von ihm gebuchte Hotel Odak, über welches der Baedeker des Jahres 1929 notiert: „Am Meer, östlich von der Altstadt, 10 Minuten vom Uhrturm, mit Aussicht auf Lokrum. 85 Betten.“

Erst nach einer Woche Dubrovnik, am 12.10., erkannte Reiswitz, „was so schön“ war an diesem Ort: „Bisher hat der Kontrast von Märchen zu Wüste zu Schönheit mich so geblendet, dass … die Begriffe versagten.“

Er setzte den Brief nach einem langen Gedankenstrich fort: „Wo sitze ich? Am offenen Fenster meines Zimmers. Es liegt im zweiten Stock, mit dem Blick auf die Adria u. Lacroma [Lokrum], über denen sich der vollkommende Nachthimmel wölbt; hell vom Mond beschienen. Der Mond scheint so hell, daß ich bei seinem Lichte schreiben könnte.“ Er beschrieb die Terassen und Bänke des Hotels, direkt am Meer, die „üppige Vegetation an Palmen, Kakteen, u. immergrüne Gewächse; an Blumen, Aloe“.

Nach diesen romantischen Bemerkungen wurde er deutlich prosaischer und erwähnte, dass sein Zimmer lediglich 2 Mark und ein Mittagessen „wie im Bristol in Berlin“ nur 1,25 bis 1,75 Mark koste.

Er fügte hinzu, dass er hier „arbeiten kann, als ob alle Arbeit nur ein Bad sei“. Um welche „Arbeit“ es sich handelte, verriet er nicht. Wohl aber berichtete er, dass er bedingt durch die „guten Empfehlungen“, mit denen er nach Dubrovnik gekommen sei, „viele Menschen kennenlerne“.

In Reiswitz’ Briefen und Postkarten an Fräulein Fresenius über die ersten beiden Monate seines Bosnienaufenthaltes zeigt sich ein neugieriger, durchaus aufgeschlossener und genau beobachtender Reisender, dem besonders die Natur und die Menschen ins Auge fielen. Er erwähnte zwar kurz die Besuche im Landesmuseums von Sarajevo, doch schien dieses zunächst keinen größeren Eindruck auf ihn gemacht zu haben, obwohl der auf vier Gebäude verteilte und 1912 fertiggestellte Komplex im Baedeker mit einem Sternchen als „besonders beachtenswert“ versehen war und im linken Flügel des nördlichen Gebäudes eine vorgeschichtliche Sammlung beherbergte. In der hauseigenen Fachzeitschrift erschien zum Zeitpunkt von Reiswitz’ Aufenthalt in Sarajevo der Artikel eines gewissen Georg Wilke mit dem Titel „Über die Bedeutung einiger Symbole an den Bogumilendenkmälern“. Dieses Thema sollte für Reiswitz kurze Zeit später eine besondere Bedeutung erlangen. Wilke nennt als eines der bogumilischen Symbole das Hakenkreuz und deutet es als als indogermanische Repräsentation des Mondes.156

Von den Naturschönheiten beeindruckten Reiswitz besonders die Karstlandschaften und Berge. Doch auch die Stadt Sarajevo hinterließ einen positiven Eindruck. Ganz anders empfand dies ein knappes Jahr später der Journalist Max Fischer (1893–1954), welcher ein guter Bekannter von Reiswitz war. In einem zweiteiligen Bericht über eine Reise nach Dalmatien und Italien urteilte Fischer, der bereits 1913 der Stadt einen Besuch abstattete: „Die einst so gepflegten Straßen sind verwahrlost, die Zahl der Bevölkerung ist zurückgegangen; die Verwahrlosung fast aller Gebäude übertrifft selbst die Berliner Zustände der Inflationszeit; die Verelendung aller Schichten ist offenkundig. … In keinem Ort Jugoslawiens, den ich auf meiner Reise berührte, äußerte sich bei den verschiedenen Schichten der Bevölkerung die Unzufriedenheit so einmütig und unverblümt wie hier in Sarajevo.“157

Wie anders hatte Reiswitz die Stadt wahrgenommen! Allerdings fehlte ihm jegliche Reiseerfahrung, da er bis 1924 außerhalb der deutschen Grenzen lediglich das Land seiner Geburt, die Schweiz, und die Tschechoslowakei bereist hatte. Während die Lektüre der Briefe Reiswitz’ an Fräulein Fresenius den Eindruck erweckt, als herrschte in Sarajevo ein morgenländisches, pastorales Idyll mit scheuen Musliminnen und flötenspielenden Hirten, so ergibt sich in dem 1922 erschienenen Band „Von Belgrad bis Buccari“ des Journalisten und Jugoslawienkenners Hermann Wendel ein anderes Bild. Er schrieb wie folgt über Sarajevo: „Aber die westliche Zivilisation ist fressende Säure; vor ihr löst sich alles Romantische, Mittelalterliche und Orientalische in Nichts auf. Heute geht man durch wohlgepflasterte Straßen mit hohen Häusern und geleckten Ladenscheiben und am Kai der Miljacka mit wuchtigen Amtsgebäuden entlang wie in Agram oder Laibach, wie durch Wien oder Budapest. Nur die verhüllten Frauen wandeln als Gespenster einer versinkenden Zeit über den europäerhaften Hintergrund dieser Stadt“.158 Der Sozialdemokrat Wendel, so sein Biograph, „begrüßte die Gründung des südslawischen Staates“ und „sprach sich für eine enge wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit“159 mit Deutschland aus und erhielt 1928 die Ehrendoktorwürde der Universität Belgrad – im gleichen Jahr, in dem er zusammen mit Reiswitz, den er im Laufe des Jahres 1927 persönlich kennenlernte, in Bosnien unterwegs war. Seine „Belgrad bis Buccari“ Schrift wurde sogar im westlichen Ausland, von einem der herausragendsten Südosteuropakenner, gelobt. Robert William Seton Watson (1879–1951), der 1922 den Lehrstuhl für „Slavonic Studies“ an der Londoner School of Slavonic and Eastern European Studies besetzte, bescheinigte Wendel im Juni desselben Jahres „intimate first hand knowledge of Jugoslav history, politics and literature“.160

Ganz in den Bereich des Sentimental-Romantischen und Klischeehaften zu verbannen sind Reiswitz’ Beobachtungen aber wohl nicht, obwohl ihm die sozialen und wirtschaftlichen Zustände in Sarajevo nicht sofort ins Auge sprangen, zumindest nicht in seinen Briefen an Fräulein Fresenius. Auch Wendel kommentierte anerkennend, wie Reiswitz, das gut ausgebaute Straßen- und Eisenbahnnetz: „So auf der Eisenbahn gemächlich durchs Land schaukelnd, auf glatten Straßen ohne Furcht vor Hals- und Beinbruch im Wagen rollend, … beginnt man etwas wie aufkeimendes Wohlwollen für die Oesterreicher zu empfinden. Sie haben Bahnen gebaut, sie haben Straßen gebaut – alles was recht ist!“161 In der folgenden Passagen tauchen die von Reiswitz beobachteten verschwiegenen Höfe der festungsähnlichen Häuser auf: „Auch kommt man in den Vorstädten an verschlossenen, abweisenden Landhäusern mit geschützten Veranden und verborgenen Gärten vorbei“.162

Wie informierte sich Reiswitz vor Antritt seiner ersten Balkanreise über Südslawien? Konkrete Quellen dazu liegen nicht vor, zumindest nicht aus der Zeit vor Reisebeginn. Folgenreich war aber sein erster direkter Kontakt mit Hermann Wendel im Februar 1927, etwas mehr als zwei Jahre nach Abschluss seiner ersten Fahrt. In einem Brief vom 04.02.27 schrieb Reiswitz: „Herr Horovic, Vertreter der südslawischen Studenten an der Universität Wien, macht mir Mut, endlich einmal an Sie zu schreiben. Wohl alle Ihre Bücher über Südslawien u. die Südslawen habe ich gelesen und verdanke Ihnen unerhört viel. Und so war es schon lange mein Wunsch, mit Ihnen Fühlung zu nehmen; zumal, da ich unter meinen Landsleuten keinen kenne, der wirkliches Wissen von den Südslawen … besäße.“

Bis zum Beginn von Reiswitz’ Jugoslawienreise im August 1924 hatte Wendel, geboren 1884 in Metz, bereits mehrere Ganzschriften über Serbien und Jugoslawien verfasst und den Balkan mehrfach bereist. So schrieb er im Geleitwort seines Buches „Südosteuropäische Fragen“ im September 1918: „Nicht unerwähnt bleibe, daß ich Land und Leute auf dem Balkan nicht nur vom Schreibtisch her kenne. 1909, 1910, 1911, 1912 tat ich mich in Serbien, Bulgarien, Montenegro und der europäischen Türkei um …“163 Während der Balkankriege hatte er als Korrespondent direkt aus Belgrad berichtet.164 Sein zweites Jugoslawienbuch erschien 1920 („Aus und über Südslawien“), ein Jahr später dann „Aus dem südslawischen Risorgimento“ und „Von Marburg bis Monastir“, gefolgt von „Von Belgrad bis Buccari“ im Jahre 1922. Ein Jahr später brachte er die beiden letztgenannten Bücher in einem Sammelband unter dem Titel „Kreuz und quer durch den südslawischen Süden“ heraus. Im Jahre 1924 hätte Reiswitz vor Reiseantritt vielleicht sogar noch die im selben Jahr veröffentlichten Bücher „Südslawische Silhouetten“ und „Die Habsburger und die Südslawenfrage“ studieren können.

Wendel selbst wiederum war, so der 2007 verstorbene serbische Literaturwissenschaftler Zoran Konstantinović165, stark beeinflusst durch den Philologen und Historiker Heinrich Gelzer (1847–1906), welcher im Jahre 1900 eine südslawische Einigung anregte: „Es wirkt unwiderstehlich komisch, wenn man sieht, wie die slawischen Gelehrten sich aufs hitzigste darüber herumstreiten, ob gewisse Kantone Ostmacedoniens serbisch oder bulgarisch seien. Die Bevölkerung selbst weiss es nicht. Man sieht, wie gewaltig diese völkerabsperrenden Schranken sind. Diese nationale Verbitterung, welche die einzelnen Balkanstaaten zerklüftet, ist ein Beweis für die politische Inferiorität der heutigen, in den Einzelstaaten herrschenden Generation. Vielleicht wird aber das neue Jahrhundert ein neues Geschlecht und neue Männer ans Ruder bringen, welche sich nicht in erster Linie als Serben, Bulgaren, Griechen, Rumänen u. s. f. fühlen, sondern welche in der Weise der Vorzeit das alte Banner des orthodoxen Glaubens wieder aufrichten. Wenn es möglich wäre, in diesem so siegreichen Zeichen wieder eine Solidarität der christlichen Balkanvölker zustande zu bringen, so wäre das ein Element von welthistorischer Kraft und würde eine glänzende Zukunft für diese so reichbegabten Völker verbürgen. Wenn sich aber die einzelnen Nationen und Natiönchen immer mehr in den unerquicklichen und geradezu selbstmörderischen Bruderfehden festbeissen, dann ist ihr Schicksal besiegelt“.166 Gelzer berücksichtigte in seinem obigen Ruf nach südslawischer Einigung allerdings nur die christlichen Ethnien, die Muslime in Bosnien zum Beispiel ließ er unberücksichtigt.

Wendel war sehr daran gelegen, dass es zu einem Umdenken in der deutschen politischen Öffentlichkeit kam. Bereits vor Ende der Kampfhandlungen 1918 mahnte er, dass „die saubere und glatte Teilung der Balkanvölker in solche, auf die wir ein Maschinengewehr richten müssen, und solche, mit denen wir einen Zwetschgenschnaps drinken dürfen, in gefährlicher Weise zum ungeschichtlichen Denken verführt“.167 Seiner Ansicht nach waren die „Benennungen wie Serben, Bulgaren, Kroaten, Slowenen in der scharfen Ausprägung von heute erst Bildungen des neunzehnten Jahrhunderts.“ Eine Stadt wie Ohrid werde, so Wendel, noch im 17. Jahrhundert mal Serbien, mal Bulgarien und mal Makedonien zugeordnet.168 Die südslawische Einigung war für Wendel ein Prozess, der letztlich unaufhaltsam sei, und der von Deutschland unterstützt werden solle, da auch Deutschland auf dem Weg zur Reichsgründung 1871 eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habe: „Solche Bewegung lässt sich hemmen, aber nicht ersticken, und wie die deutsche Nation die ihr von der Geschichte gestellte Aufgabe trotz der Selbstsucht der eigenen Dynastien und trotz der Eifersucht der fremden Mächte bewältigte, dringen Südslawen und Balkanvölker zu ihrem Ziele durch.“169

An dem Einschub über die „Selbstsucht der eigenen Dynastien“ ist indirekt bereits ein weiteres Merkmal von Wendels Südslawophilie erkennbar, nämlich seine Bewunderung für die demokratische Veranlagung der Südslawen, besonders diejenige der Serben: „Für Wendel war es Serbien, wo man die höchsten Anstrengungen für eine demokratische Gestaltung des Lebens unternahm, wo eine zutiefst entwickelte bürgerliche Courage zum Ausdruck kam und man Zeuge eines praktischen Positivismus werden konnte: in jedem Dorf befand sich eine Schule, in jeder Bauernhand eine Zeitung und in jedem Kopf eine ausgeprägte und klare politische Meinung.“170

Damit hob sich Wendel ab von den übrigen Journalisten, Philologen und Schriftstellern im deutschen Sprachraum der frühen 1920er Jahre, die sich mit Jugoslawien befassten, da in deren Texten – so sie überhaupt Serbien und den Serben positiv zugeneigt waren – oft der Serbe als tapferer Soldat im Vordergrund stand, dessen militärisches Heldentum im Ersten Weltkrieg angesichts der erfolgreichen Landesverteidigung gegen die österreich-ungarische Übermacht in der Anfangsphase der Kampfhandlungen 1914, angesichts der Rückeroberung Belgrads nach der kurzzeitigen Einnahme durch die k.u.k. Truppen, angesichts des opferreichen Marsches der serbischen Streitkräfte über Albanien nach Korfu außer Zweifel stand.

Diese Haltung vertrat auch klar der Publizist Friedrich-Wilhelm von Oertzen (1898–1944), der langjährige Freund und Untermieter von Reiswitz in der Carmerstraße 10 in Berlin-Charlottenburg, in seinem Beitrag „Der große Krieg und der südslawische Soldat“ für den von Franz Thierfelder (1896–1963) in Verbindung mit dem Südost-Ausschuss der zwölf Jahre zuvor gegründeten „Deutschen Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums“,171 kurz „Deutsche Akademie“, 1935 herausgegebenen Sammelband „Das Königreich Südslawien“.172 Sein Beitrag schließt mit den Worten: „Der deutsche Soldat hat in seinem serbischen Kriegsgegner einen Kameraden auf der andern Seite kennengelernt, gegen den zu fechten nicht leicht, und gegen den zu siegen deshalb besonders ehrenvoll war, weil ihm hier ein Gegner gegenüberstand, der ganz Hervorragendes auf militärischem Gebiet leistete.“173

Dieser Meinung schloss sich der Slawist Gerhard Gesemann (1888–1948) an, der ebenfalls im Thierfelder’schen Sammelband vertreten war, dessen selbsterklärtes Ziel es war, eine „Quelle sachlicher Unterrichtung über den südslawischen Staat der Gegenwart“ zu sein.174 Gesemann vertrat diese Meinung auch in seinem im selben Jahr erschienenen, dem serbischen Geographen Jovan Cvijić (1865–1927) gewidmeten Kriegstagebuch „Die Flucht“.175 Der in erster Ehe mit einer Serbin176 vermählte Gesemann war zur Zeit der ersten Balkanreise Reiswitz’ gerade ordentlicher Professor an der Deutschen Universität in Prag geworden. Gesemann gilt für die Zeit zwischen den Weltkriegen als der „beste Kenner der serbischen Volksepik, Sprache und Literatur und der bedeutendste Übersetzer serbischen Schrifttums ins Deutsche.“177 Der Serbe war für Gesemann der Idealtyp des tragischen, heroisch-patriarchalischen Menschen. Im Jahre 1928 unterschied er, auf den Balkan bezogen, in einer „Volkscharaktertypologie“ zwischen der balkano-byzantinischen, der italo-romanischen, der mitteleuropäischen, der mohammedanisch-türkischen und der patriarchalischen Zone. Die letztere umschließe Montenegro und Serbien südlich von Save und Donau. Grundlage der patriarchalischen Ordnung sei die Hausgemeinschaft, die Zadruga. Für Gesemann bestand eine „ausschlaggebende Bedeutung der patriarchalischen Volksmassen für die leibliche und geistige Struktur des serbokroatischen Gesamtvolkes“.178

Gesemann hat seine Studie ausdrücklich ausgerichtet an Jovan Cvijić179, der seit 1893 an der Hochschule und späteren Universität Belgrad lehrte. Cvijić sah den Balkan auf geodeterministischer Grundlage als ein humangeographisch zusammenhängendes Gebilde.180 Gesemann zitierte Cvijić ausführlich in seiner „Volkscharaktertypologie“. Bezogen auf die zivilisatorische Überlegenheit des patriarchalischen, also serbischmontenegrinischen, bzw. „dinarischen“ Typs heißt es: „Das sind die fruchtbarsten und expansivsten Stämme, aus denen fast ununterbrochen die Ströme der Siedlungen fließen und die benachbarten Landschaften überschwemmen. Alle sind zur Hauptsache Viehzüchter, Menschen voll Kraft und Stärke, meistens sehr hochgewachsen …: der schönste Schlag auf der Balkanhalbinsel. … Es gibt unter ihnen kaum degenerierte Typen. Noch mehr … verdienen sie Sympathie durch ihre feste, gebirglerische Moral, durch ihre ritterlichen, oft vornehmen Eigenschaften, durch ihr tiefes Empfinden für die Gemeinschaft und durch ihre Aufopferung, die vor den höchsten Opfern nicht zurückschreckt.“181 Gesemann formulierte hier eng angelehnt an Cvijićs 1918 im Pariser Exil erschienene Schrift „La péninsule balkanique. Géographie humaine“.

Wann genau Reiswitz die Péninsule gelesen hat, ist nicht eindeutig, aber nach seiner ersten Balkanreise, am 16. Oktober 1926, erhielt er von Cvijić die schriftliche Erlaubnis, sein Werk ins Deutsche zu übertragen und zu veröffentlichen.182 Daraufhin wandte sich Reiswitz am 20.11.26 an den Oldenbourg-Verlag, sogar an dessen Leiter persönlich: „Sehr geehrter Herr Oldenbourg! Seit 1918 liegt ein Werk des damaligen Rektors der Belgrader Universität, Prof. Jovan Cvijić, vor. … Dieses Buch enthält nach meinem Urteil die tiefgründigste und aufschlussreichste Zusammenfassung und Erklärung der historischen sowei der akuten Balkanprobleme und verdient darum unbedingt übersetzt zu werden. Ich möchte nun an erster Stelle Ihnen den Verlag … anbieten.“ In seiner Wortwahl folgte Reiswitz nahezu wörtlich den Formulierungsvorschlägen, die ihm sein Freund, der Orientalist Hans Heinrich Schaeder (1896–1957) geliefert hatte.183 Nach einer Vorstellung der Person und akademischen Karriere von Cvijić erläuterte Reiswitz dann den Sinngehalt des Werkes: „Das Buch … behandelt zunächst die so verwickelte Geographie der Balkanhalbinsel; entwirrt dann auf dieser im weitesten Sinne geographischen Grundlage das ethnographische Durcheinander der Balkanhalbinsel und gipfelt dann endlich in einer umfassenden sociologischen und psychologischen Charakterologie der vielen, verwirrend vielen Stämme, die auf der Balkanhalbsinsel neben-, durch- und übereinander leben. Das ganze Werk ist von einer bewunderungswürdigen Objektivität, selbst an den für einen Serben empfindlichsten Punkten, geleitet; und es wird gerade hierdurch zum Standartwerk [sic] jeder historischen Forschung im südöstlichen Europa. – Dass die ‚Péninsule Balkanique‘ noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, ist nur dem Unglücksjahr 1918 zuzuschreiben. Die südslawische Geschichte, – vor allem in ihrer Vermittlerrolle zwischen byzantinischer Zivilisation und westeuropäischer Kultur im Mittelalter; und in ihren sociologischen Rückbildungen der langen Türkenzeit; – dann aber auch in ihren gegenwärtigen Problemen; tritt immer stärker in den Brennpunkt des historischen und auch politischen Interesses. Die eigentliche südslawische Geschichtsschreibung beginnt erst. Und da wird die ‚Péninsule Balkanique‘, die in ihrer Tiefe und Breite eine Fülle von Aufklärungen und Anregungen vermittelt, weit über die zünftige [sic] Wissenschaft hinaus einem lebhaften Interesse begegnen.“

Reiswitz verband hier also klar zwei Aspekte, die Oldenbourg überzeugen sollten. Einerseits biete die Péninsule dem deutschen Leser die Möglichkeit, die Geschichte Südosteuropas besser im wissenschaftlichen Sinne zu verstehen. Andererseits gelte es aber auch für Deutschland, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs politisch Verpasstes aufzuholen, um sich wieder intensiver Südosteuropa zuzuwenden. Zudem sah er den Balkan als Brücke zwischen Ost und West an, als Transmissionsriemen zwischen Rom und Bzyanz, dessen Rolle es zu verstehen und zu würdigen gelte.

Reiswitz’ dem Verleger Oldenbourg gegenüber anvertraute Überlegungen waren durchaus auf der Höhe der Zeit. So wies der deutsche Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929) am 22.03.26 im Reichstag auf Folgendes hin: „Die zum Teil von anderen Seiten [Österreich] genährte ganz falsche Vorstellung von den Balkanstaaten, die Deutschland in der Vorkriegszeit immer zum Ausdruck brachte, hat viel dazu beigetragen, dass Nationen, die sich ihrerseits heldenmütig geschlagen haben, in diesem Weltkampf auf der anderen Seite gestanden haben.“184 Der jugoslawische Außenminister Momčilo Ninčić (1876–1949) brachte gegenüber dem deutschen Gesandten in Belgrad, Franz Olshausen (1872–1962), daraufhin seine Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass Serbien und der Balkan nun endlich in Deutschland mit anderen Augen wahrgenommen würden als vor dem Weltkrieg.185

Reiswitz wies Oldenbourg auch darauf hin, dass Cvijić sein Autorenrecht an der Übersetzung bereits abgetreten habe, doch teile er das „Copyright“ der französischen Ausgabe mit dem Verlag Armand Colin, mit welchem Oldenbourg dann verhandeln müsse. Schließlich stellte Reiswitz noch seinen Arbeitsplan vor, wonach er beabsichtigte, den ersten Teil bis zum 1. Januar 1927 zu übersetzen. Das Gesamtvorhaben könne bis zum 01.07., vielleicht sogar bis zum 01.05.27 abgeschlossen sein. Bescheiden merkte er an, dass er die Bestimmung seines Honorars dem Verlag überlasse. Eine Antwort Oldenbourgs ist im Nachlass nicht überliefert, allerdings geht aus dem Entwurf bzw. der Kopie eines unvollständig überlieferten, undatierten Briefes, den Reiswitz vom Kontext her zu urteilen zu einem Zeitpunkt um Mitte September 1927 herum an den jugoslawischen Gesandten in Berlin richtete, hervor, dass „die Copyright-Verhandlungen zwischen dem französischen Verleger Armand Colin und R. Oldenbourg zu einer Einigung geführt haben.“

Am 16.01.27 verstarb Cvijić in Belgrad, was Reiswitz’ Bemühungen allerdings keinen Abbruch tat. Zum Zeitpunkt seiner ersten Kontaktaufnahme mit Wendel im Februar 1927 hatte Reiswitz bereits tatsächlich, nach eigenen Angaben, die „Roh-Übersetzung“ des ersten Teil des Buches beendet und versuchte nun, Wendel davon zu überzeugen, ihm bei der Suche nach einem Verleger zu helfen: „Wie Ihnen Herr [Aleksandar] Horovic186 nach Ihrem Vortrage im Herrenhause wohl schon sagte, habe ich im November 1926 mit Cvijićs Erlaubnis u. wärmsten Interesse die Übersetzung seiner „Péninsule Balkanique“ begonnen, da ich dieses Werk für ein – wenn nicht für das Standardwerk halte. Heute abend bin ich nun mit der Roh-Übersetzung des ersten Teiles, den ich in diesem Jahre verlegen lassen möchte, fertig geworden. Was wir an Cvijić verloren haben, brauche ich hier nicht zu sagen. Die deutsche Ausgabe von Cvijićs Werk hat durch seinen Tod ihren Schutzpatron verloren, u. die Bitte meines Briefes soll sein, daß Sie hier an Cvijić’s Stelle treten möchten.“

In seiner Antwort auf Reiswitz’ Anfrage vom 14.02.27 drückte Wendel seine Freude darüber aus, dass Cvijić „den Deutschen zugänglich gemacht werden soll“ und bot „Rat und Tat“ an. Bevor er eine Antwort von Wendel erhielt, wurde Reiswitz selbst tätig und sandte am 26.02.27 einen Brief an den französischen Verleger, Armand Colin: „J’ai l’intention de traduire en allemand ‚La Péninsule balkanique‘“. Einen knappen Monat später, am 19.03.27, schlug Wendel dann vor, dass sich Reiswitz an den Verleger der ergänzten serbokroatischen Ausgabe der Péninsule187 wenden solle, um sich die Übersetzungsrechte zu sichern. Am 06.06.27 erkundigte sich Wendel bei Reiswitz nach dem Stand der Dinge in Sachen Übersetzungsrechte und unterstrich die Wichtigkeit von Reiswitz’ Vorhaben: „Was moderne Studien über Slavica [sic] angeht haben uns die Franzosen, die früher mühsam hinterherkeuchten, längst überholt, weil sie den Wert der Sache begriffen haben. Wir sind dichter dran und begreifen nichts.“

Nach dem Tode Cvijićs bemühte sich Reiswitz, neben Wendel auch den Cvijić-Schüler und Nachfolger als Ordinarius für Geographie an der Universität Belgrad, Borivoje Milojević (1885–1967), für sein Vorhaben einzuspannen. Bereits im Februar 1927 hatte er sich deswegen brieflich an den „Leiter des Instituts für Geographie und Geologie an der Universität Belgrad“ gewendet, wobei er seinen Zeilen als Rückendeckung sogar noch „ein beglaubigtes u. begründendes Schreiben des mir seit Jahren bekannten Vertreters der serbischen Studentenschaft an der Universität Berlin, Herrn Aleksandar Horovic“, beigab. Doch war darauf wohl keine Reaktion erfolgt, denn Reiswitz bat Milojević am 13.08.27, unter Hinweis auf sein Vorhaben, mit der Péninsule Übersetzung „in Deutschland weiteren Kreisen als es bisher möglich gewesen ist, das Verständnis für die südslawische Frage zu erleichtern und damit zugleich das Interesse an Südslawien zu steigern“, dass er ihm mitteilen möge, „wer der wissenschaftliche Nachfolger des Herrn Cvijić geworden ist und wer seinen wissenschaftlichen Nachlass188 verwaltet“. Milojević reagierte im für Reiswitz positiven Sinne bereits am 12.09.27 und bot, wie Wendel, „Rat und Tat“ an.

Am 24.08.27 ließ Reiswitz Wendel wissen, dass er die Roh-Übersetzung des zweiten Teiles der Péninsule nun beendet habe.189 Leider hatte der von ihm angesprochene Oldenbourg-Verlag wohl doch noch keinen Kontakt zu dem französischen Verleger aufgenommen. Reiswitz wollte nun einen anderen möglichen deutschen Verleger für Cvijićs Buch suchen, wusste aber nicht recht, an wen er sich wenden sollte. Am 17.10.27 entschuldigte sich Wendel dafür, dass erst an diesem Tag sein Brief an den jugoslawischen Gesandten in Berlin, Živojin Balugdžić (1868–1941), in die Post gegangen sei, in welchem er seine Unterstützung für das Reiswitz’sche Übersetzungsvorhaben zum Ausruck bringe. Kurz darauf, am 28.10.27, schrieb Resiwitz an Wendel, dass dessen „liebenswürdiges Schreiben an den Gesandten“, die „Carrière“ der Péninsule in deutscher Sprache gesichert habe und erwähnt einen Betrag von 100.000 Dinar. In Reiswitz’ undatiertem Briefentwurf an Balugdžić wurde ein Betrag von 6.000 Mark genannt, was in etwa den 100.000 Dinar entsprach. Hier gab Reiswitz auch einen Hinweis auf die Zielleserschaft in Deutschland: Studenten und „gebildete Laien“. Diese könnten das Buch aber nur zu einem moderaten Kaufpreis erwerben, den man nur durch den Druckkostenzuschuss, „bei Hintansetzung sämtlicher persönlicher Ansprüche meinerseits“, von 24 auf 15 Mark drücken könne. Schließlich meldete Reiswitz am 08.12.27, dass Balugdžić sein Gesuch um finanzielle Unterstützung befürwortend in das jugoslawische Außenministerium nach Belgrad weitergeleitet habe. Doch am 09.01.28 war Reiswitz enttäuscht: „Denken Sie, es ist noch immer keine Antwort aus Belgrad da, ob die Serben mir das Geld zur Péninsule-Herausgabe vorschießen!“ Zwei Monate später, am 06.03.28, war für Reiswitz das „Schicksal „seiner“ Péninsule noch immer ungewiß. Er habe zwar den Gesandten „schon oft“ getroffen, dieser habe auch neben dem offiziellen Gesuch noch zwei Privatbriefe an das Außenministerium in Belgrad geschickt, doch trage die „Dauer-Krise“ in Südslawien wohl zur Verzögerung bei.

Zu der erhofften finanziellen Hilfe ist es wohl nie gekommen, da Reiswitz’ Péninsule-Übertragung nie erschien – es haben sich lediglich im Nachlass Übersetzungsfragmente erhalten.190 In der weiteren im Nachlass erhaltenden Korrespondenz mit Wendel tauchte das Thema auch nicht wieder auf. Während des Zweiten Weltkriegs fragte Reiswitz seine Frau, ob sie daran gedacht habe „den Durchschlag von der Cvijić-Uebersetzung“ aus dem bombengefährdeten Berlin in Sicherheit zu bringen.191 Eine Übersetzung ins Deutsche hätte sicherlich ihren Markt gefunden, da Cvijićs Anthropogeographie der Balkanhalbinsel „für die deutsche Balkanforschung eine außerordentliche Wirkungsgeschichte nachzusagen ist“.192

Es steht außer Frage, dass es in den zwei Jahren nach Abschluss seiner Balkanreise – und womöglich auch schon vorher – die Werke von Cvijić und Wendel waren, die den größten Einfluss auf Reiswitz’ Vorstellung des Balkans und der Südslawen hatten. Beiden war sicherlich ihr vehementes Eintreten für die südslawische Einigungsbewegung gemein193 – Cvijićs Ansehen und Wirken war es 1919 zuzuschreiben, dass Jugoslawien in den Grenzen entstand, wie sie bis 1941 bestehen sollten194 und Wendel unterstützte später sogar, trotz seiner sozialdemokratischen Ausrichtung, die autoritären Bestrebungen König Alexanders, eine jugoslawische Identität weiterzuentwickeln.195 Für beide war Serbien das Piemont der südslawischen Einigung. Sehr unterschiedlich aber beurteilten beide den serbischen Nationalcharakter. Für Wendel stand das Demokratische im Vordergrund, für Cvijić und seinen Gefolgsmann Gesemann das Patriarchalisch-Heroische. Reiswitz sollte zukünftig aus beiden Quellen schöpfen.

Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)

Подняться наверх