Читать книгу Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962) - Andreas Roth - Страница 16
2.3. Netzwerkbildung und die zweite Jugoslawienreise 1928
ОглавлениеVon April bis Dezember 1928 hielt sich Reiswitz in Jugoslawien auf. Kurz vor seiner Abreise eröffnete sich allerdings die Gelegenheit, seine seit 1924 vornehmlich autodidaktisch erworbenen Südslawienkenntisse in ein konkretes Beschäftigungsverhältnis umzumünzen. Eine Bekannte seiner Mutter aus Schlesien, die Baronin Ruth von Rother, wies Reiswitz am 15.04.1928 auf eine frei gewordene Assistentenstelle am zehn Jahre zuvor gegründeten Breslauer Osteuropa-Institut hin.301 Die Baronin, eine geborene von Schweinitz und Ehefrau des Rittergutsbesitzers und Verwaltungsbeamten Willy von Rother, hatte bereits mit dem Wirtschaftswissenschaftler Albert Hermann Hesse (1876–1965) gesprochen, der das dortige Institut von 1921 bis 1933 leitete.302 Die Stellung sei zwar „nicht glänzend dotiert“, doch könne sie Reiswitz als „Sprungbrett für die Zukunft“ dienen.
Zehn Tage später bewarb sich Reiswitz dann tatsächlich bei Hesse. Er verwies auf seine 1922 „mit 23 Jahren“ abgeschlossene Promotion und seinen Wunsch, sich mit einer Arbeit über südslawische Geschichte „möglichst bald“ zu habilitieren. Um seine Vorkenntnisse in Sachen Nationalökonomie hervorzustreichen, erwähnte er seine sechsmonatige Handelskammertätigkeit. Die hilfreiche Baronin hatte Reiswitz bereits wissen lassen, dass er „eine der slawischen Sprachen vollkommen beherrschen müsse.“ Diesen wunden Punkt ging er in seinem Bewerbungsbrief recht geschickt an. „Was die slawischen Sprachen betrifft, so befinde ich mich z.Z. auf einer für mehrere Monate berechneten Reise nach Südslawien, um in erster Linie Serbo-Kroatisch fliessend sprechen zu lernen. Da mir das Erlernen von Sprachen nicht schwer fällt, glaube ich, jede slawische Sprache, auf die das Ost-Europa-Institut wert legt, in relativ kurzer Zeit bewältigen zu können.“ Er kündigte schließlich noch an, von Belgrad aus, wo er am 01.05. eintreffen würde, einen ausführlichen Lebenslauf zu schicken, falls er für die Stelle in Frage kommen sollte. Offensichtlich jedoch hatte die Bewerbung keinen Erfolg.
Um die Reisekosten niedrig zu halten hatte sich Reiswitz bemüht, einen Freifahrtschein zu erhalten. Am 14.04.28 machte ihm aber die jugoslawische Gesandtschaft in Berlin wenig Hoffnung auf einen positiven Bescheid, woraufhin Reiswitz sich einen Tag später launig, aber resigniert dem „dankenswerten Pessimismus“ anschloss, aber angab, noch bis zum 22.04. in München erreichbar zu sein.
Aus einem Brief an „Onkel Ernst“303, den Onkel mütterlicherseits seiner Ehefrau, vom 13.05.28 geht hervor, dass Reiswitz um den 30.04. in Belgrad ankam: „Es ist hier unglaublich interessant. Belgrad ist eigentlich noch gar nicht da, sondern es wird noch gebaut. Ein großes türkisches Dorf erhält Asphalt und Zement-Straßen … Gearbeitet wird fleißig und man hat durchaus das Gefühl in einem aufsteigenden Staate zu sein.“ Nebenher versuchte er, größere Aufträge für die Firma Leitz zu akquirieren, was er „neben Archeologie [sic] u. Historie … als kleinen Ausgleich gegen Töpfe und Urkunden“ betrachtete.
Am 26.05.28 antwortete Reiswitz nicht „Onkel Ernst“, sondern Henri Dumur, der erste Prokurist der Ernst-Leitz-Werke und Großneffe des Firmengründers Ernst Leitz I. (1843–1920). Er begrüßte Reiswitz’ geschäftliches Engagement und erwähnte seine eigene Balkanerfahrung: „Es tut einem als Westeuropäer nur leid zu sehen, wie sehr diese Bevölkerungen durch die wiederholten Kriege heruntergekommen sind; es wird lange dauern, bis sie sich wieder erholt haben, und beim Anblick dieser Verhältnisse empfindet man erst, wie schwer es sein wird, auch nur ein wenig in der Vereinheitlichung von Europa vorwärts zu kommen, denn die Unterschiede sind auf jedem Gebiet doch zu krass.“
Beobachtungen dieser Art, besonders bezogen auf die Denkmalpflege, sollte Reiswitz bald selber machen. Zunächst aber logierte er in Belgrad im Hotel Moskau und war bester Laune: „… in gerade 14 Tagen Belgrad habe ich für meine Arbeiten so viel gewonnen, dass ich jetzt schon eine kleine Reise nach Makedonien machen kann. Morgen geht es los.“ Um welche „Arbeiten“ handelte es sich?
Im Jahre 1925 hatte Reiswitz in Berlin Aleksandar Horovic kennengelernt, der dort Chemie studierte und als Vertreter der serbischen Studenten fungierte304. Zunächst war Horovic lediglich Reiswitz’ Serbischlehrer und half ihm, Kontakte unter den in Berlin studierenden Jugoslawen zu knüpfen. Am 13.03.28 informierte Horovic, aus Belgrad schreibend, Reiswitz darüber, dass er in Sachen der „Obrenović Akten“ schlechte Neuigkeiten habe. Offensichtlich hatte Reiswitz Horovic gebeten herauszufinden, ob und wie man Zugang zu Archivalien bekommen könne, die die Regierungsjahre des Fürsten und späteren Königs Milan Obrenović betreffen, welcher von 1868 bis 1889 herrschte. Reiswitz’ Interesse an Milan fokussierte sich natürlich auf die preußischserbischen Beziehungen in jenen Jahren. Horovic ließ Reiswitz wissen, dass die serbischen Archive nach dem Weltkrieg generell „in ziemlicher Unordnung“ seien, dass das serbische Außenministerium „kein Interesse“ daran habe, „die Obrenović-Akten in Ordnung zu bringen“ und kam schließlich auf das besonders „Unangenehme“ zu sprechen, nämlich, dass „niemand die Erlaubnis bekommt Akten des Archivs“ einzusehen. Er warnte Reiswitz auch, dass die Akten ausschließlich in serbischer Sprache abgefasst seien.
Doch neun Tage später hatte sich die Lage gewandelt. Am 22.03.28 schrieb Horovic, dass er mittlerweile von „ganz zuverlässiger Stelle“ erfahren habe, dass lediglich ein Bittgesuch zu stellen sei, dann könnten die Akten eingesehen werden. Die Akten ab 1870 befänden sich im Außenministerium, die älteren Bestände im Staatsarchiv. Reiswitz konnte also zuversichtlich sein, zumal die Direktoren beider Einrichtungen ja bereits „Bekannte“ geworden waren.
Und so schrieb er auch am 14./15.05.28 an Wendel, dass es bald „an die Arbeit in den serbischen Büchern und Archiven gehen“ könne, „bei der Slobodan Jovanović und Stanoje Stanojević mich besonders unterstützen wollen. Ich denke, dass ich über die Außenpolitik König Milans arbeiten werde, so haben Slobodan Jovanović und ich uns jedenfalls bisher besprochen.“
Über Niš, wo er sich lediglich einen Tag aufhielt, reiste Reiswitz zunächst nach Skopje, wo er immerhin 36 Stunden veweilte305 und durch Vermittlung des „Politika“-Journalisten Budimir Grahovac den Direktor des dortigen Hygienischen Instituts, Dr. Milivoj Rankov, kennenlernte. Bis Skopje war Reiswitz mit der Bahn gefahren, nun ging es im Auto weiter, zusammen mit „fünf Geschäftsreisenden, in Shell-Oil, Garn, Papier und Bürsten“, wie er am 02.06.28 an Dumur schrieb.
Die Hauptaufgabe des Hygienischen Instituts bestand im Kampf gegen die Malaria. Zu diesem Zweck wurden in Makedonien seit 1925 Gesundheitszentren (zdravstvene stanice) eingerichtet, von denen sich unter anderem eine in Ohrid und eine im benachbarten Struga befand.306 Dort hielt sich Reiswitz vom 19.05. bis 24.06.1928 auf. Seine Frau Erna, „Böckschen“, traf am 25.05. ein, nach langer und umständlicher Anreise aus Wien, die letzte Etappe mit der „kleinen und wackeligen Feldbahn“ zurücklegend, welche Ohrid als „einziger Strang mit der Kultur-Welt verbindet.“307 Bereits am 21.05. bedankte er sich bei Rankov, dass er nach den „Wanzen-Nächten“, die er in Niš und Skopje verbrachte, nun „wohlversorgt u. wohlgeborgen in Ihrer Malaria Station“308 aufgenommen worden sei. So werde es ihm ermöglicht, „viel mehr von Makedonien zu haben u. weit besser arbeiten zu können“.
Die „Arbeit“ bestand zunächst vornehmlich aus dem Erlernen der Landessprache in örtlichen Cafés, wobei auf Familienfotos mehrfach die Kafana „Jugoslavija“ abgebildet ist.309
Einen Monat später, am 21.06.28, wandte sich Reiswitz erneut an Rankov und hob hervor, dass er statt zwei bis drei Wochen, wie ursprünglich vorgesehen, nun ganze fünf Wochen in Ohrid verbracht habe. Als Grund gab er an, dass ihn die „Pazifizierung Makedoniens durch die Hygiene“ eingehend interessiere. Doch dies war sicherlich nicht der Hauptgrund für seinen verlängerten Aufenthalt in Ohrid. In einem undatierten Briefentwurf an den Vater seines Freundes Horovic legte Reiswitz dar, dass ihn „in diesen ersten 14 Tagen“ seines Ohridaufenthaltes „die vielen archeologischen [sic] Fundstellen u. die Pazifierung Makedoniens durch die Hygiene“ am meisten interessiert haben. Mittlerweile war auch Böckschen eingetroffen, sodass ihn seine „tapfere junge Frau“ nun auf die für die nächsten zwei Wochen geplanten vier „größeren Exkursionen“ begleiten konnte.
An Dumur schrieb Reiswitz am 02.06.28 über die „unglaubliche Menge alter Kulturdenkmäler, deren Ursprung auf bulgarisch oder serbisch zu prüfen ist.“ Dies sei ihm wichtig für die Einleitung zu seiner Übersetzung des „schrecklich dicken geographisch-ethnischen“ Buches, welches nun endlich erscheinen solle. Gemeint ist natürlich die Péninsule Balkanique.
In einer dreiseitigen, handschriftlich verfassten chronologischen „Zusammenschau“ seines Ohridengagements, die von 1928 bis 1931 reicht, äußerte sich Reiswitz zu Beginn, bezogen auf 1928, wie folgt: „Ich bereise Südslawien. Finde überall Denkmäler u. keine Denkmalforschung. Will der Geschichte dies Material zugänglich machen und erhalten. Will unseren Deutschen diese Möglichkeiten erschließen. Am besten gefällt mir Gradište“.310
Mit „unseren Deutschen“ meinte er das Deutsche Archäologische Institut. Klar zu erkennen ist seine Zielsetzung. Die Altertümer sollten für alle Zukunft gesichert werden, die wissenschaftlich praktische Arbeit sollte in Zusammenarbeit mit deutschen Experten erfolgen, sodass sich ein gemeinsamer deutsch-südslawischer Nutzen ergab.
Im Mai 1928 hatte Reiswitz in Belgrad auf Vermittlung Wendels Vladimir Petković kennengelernt, den Direktor des seit 1923 der Öffentlichkeit zugänglichen Nationalmuseums in Belgrad. Ein knappes Jahr später begegnete Reiswitz Petković erneut, diesmal in Berlin, wo dieser an der Hundertjahrfeier des Deutschen Archäologischen Instituts vom 21.–25.04.29 teilnahm.311 Reiswitz fasste sein Gespräch später in einem sechsseitigen „Mündlichen Bericht an die Adresse des Herrn Professor Dr. Vl. Petković“ zusammen. Dort heißt es: „Etwa 3 km westlich von Ohrid, nördlich der Straße von Ohrid nach Struga, befindet sich ein Berg, im Volk ‚Gradište‘ genannt. Dieser Name fiel mir auf. Ich erfuhr von meinem Freunde Jovančić, Professor312 am Gymnasium in Ohrida, dass die Sage gehe, hier habe das alte Ohrid gestanden.“313 Da das Gebiet von Ohrid in der Antike von Illyrern besiedelt war, könnte es sich also bei Gradište um eine Illyrerstätte handeln? Reiswitz fuhr fort: „Er [Jovančić] selbst sei wohl einmal mit seinen Schüler da gewesen und sie hätten versucht die Steine aus einem Brunnen der sich auf der Kuppe dieses Berges befinde, herauszunehmen, da die Sage ginge, in diesem Brunne läge ein Schatz, – aber außer einigen belanglosen Mauerresten sei nichts zu entdecken gewesen.“ Wer war dieser Gymnasiallehrer, welcher Reiswitz den Hinweis auf Gradište gab?
Jovančić wurde 1893 im Banater Dorf Izbischte unweit der Stadt Werschetz314 geboren, wo er auch die Grundschule besuchte. Seine Reifeprüfung bestand er in Neusatz im Jahre 1912. Nachdem er ein Jahr in Budapest Medizin studiert hatte, schrieb er sich 1914 in Wien im Fach Philosophie ein. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde er wegen großserbischer Propaganda, „to jest zbog pevanja pesama koje slave srpski narod i podstiču ga na borbu protiv Austrougara“315 („das heißt wegen des Absingens von Liedern, die das serbische Volk feiern und es zum Kampf gegen die Österreich-Ungarn auffordern“), in Haft genommen, aus welcher er erst im September 1915 entlassen wurde. Kurz danach wurde er zur ungarischen Armee eingezogen und kam in Galizien zum Einsatz. Im Frühjahr 1916 geriet er in russische Gefangenschaft und wurde nach Kiew verbracht. Im Juni desselben Jahres wechselte er die Seiten und trat einer in Odessa aufgestellten serbischen Freiwilligenformation bei, mit der er bis 1919 unter anderem in der Dobrudscha zum Einsatz kam. Nach der Oktoberrevolution gelangte er über Sibirien und die Mandschurei nach Korfu. Nach Kriegsende ging Jovančić auf Kosten der serbischen Regierung nach Frankreich, wo er in Grenoble 1922 sein erstes Staatsexamen in den Fächern Chemie, Botanik und Zoologie ablegte. Nach seiner Rückkehr auf den Balkan im selben Jahr arbeitete er zunächst als Referendar und nach dem Bestehen der Staatsprüfung im September 1928 als Lehrer am Ohrider Gymnasium. In Ohrid gründete er ein Jahr später den Gesangsverein „Biljana“, für welchen er auch eigene Stücke komponierte. Auch seine Frau Bosiljka unterrichte am Ohrider Gymnasium die Fächer Zeichnen und Schönschrift. Sie wurde allerdings 1928 von ihrem Direktor getadelt „zbog nedovoličnog ponašanja“ („wegen unangemessenen Verhaltens“). Auch Jovančić selbst fiel in Ungnade, weswegen er 1929 nach Belgrad wechselte, um an einer Jungenschule zu arbeiten.316 Im Jahre 1933 veröffentlichte er eine Monographie über die Urgeschichte des Menschen.317 Nach dem deutschen Angriff auf Jugoslawien wurde Jovančić eingezogen, geriet aber am 13. April 1941 in italienische Kriegsgefangenschaft.318 Erst im Juni 1945 kehrte er nach Belgrad zurück, wo er seine schulische und später auch universitäre Lehrtätigkeit wiederaufnahm. Im Jahre 1960 promovierte er im Fach Biologie und wurde im selben Jahr pensioniert. Er verstarb kinderlos 1977 in Belgrad.
Zurück ins Jahr 1928. Reiswitz ließ sich von Jovančić Gradište persönlich zeigen und machte mehrere Fotos. Diese Fotos zeigen Mauerreste, die Reiswitz „mit 90%tiger Sicherheit [auf] eine archaische Siedlung mit Resten von Zyklopenmauern“ schließen ließen. Die Lage des Ortes in Zusammenhang mit den Arbeiten von Filow brachten ihn dazu, den Schluss zu ziehen, dass „ein systhematisches Nachgraben … zu sehr interessanten und wichtigen Ergebnissen führen müsste.“
Doch wies Reiswitz Petković darauf hin, dass dieses Fazit vertraulich zu behandeln sein: „Denn Sie und ich haben uns darüber geeinigt, dass die Durchforschung der Umgebung des Ohrid Sees … für eine Deutsche Koncession nach Möglichkeit gewonnen werden soll.“
Neben Gradište hatte Reiswitz 1928, so ist dem „Mündlichen Bericht“ zu entnehmen, bereits andere Altertümer in und um Ohrid „durchforscht“. Zunächst war ihm aufgefallen, dass es keinerlei Inventar der geistlichen Bauwerke am Ohridsee gab. Auch der Reiseschriftstellerin Rebecca West (1892–1983) war der schlechte Zustand der Sakralbauten in Ohrid aufgefallen: „Almost every Orthodox church looks as if the removal men have been at work on it, and that they have been inefficient.“319 Dies hatte, so Reiswitz, zur Folge, dass immer mehr Kunstwerke „durch Barbarei der Geistlichkeit oder Unachtsamkeit zerstört werden.“ Und für Ersteres bot er Petković auch ein konkretes Beispiel.
In der Nähe der Bahnstation Podmolje, nördlich von Ohrid, befand sich laut Reiswitz nicht weit von einem kleinen Bauernhof ein im Juni 1928 „frisch eingefasster“ Brunnen. Bei den Ausschachtungsarbeiten hatten die Bauern fast zwei Meter hohe Mauerreste entdeckt, dazu Dachziegel und einen „noch gut erhaltenen Altar“, ferner Scherben, Nägel, Brandschutt und ein „unbestattetes Skelett“. Reiswitz schloss daraus, dass es sich um eine Kapelle gehandelt haben musste, die vielleicht bei einem plötzlichen Überfall niedergebrannt worden war. Wäre ein Fachmann hinzugezogen worden, hätte man bestimmt auf weitere „Überraschungen“ stoßen können. Aber niemand anderes als der „Erzbischof“ selbst hatte für „eine rasche Zerstörung der Reste gesorgt“. Bei diesem Kleriker handelte es sich um Nikolaj Velimirović (1881–1956), der seit 1921 sein Amt in Ohrid bekleidete. Er hatte in der Schweiz und in England studiert, wandte sich aber nach dem Ersten Weltkrieg vom Westen ab. Einige Jahre nach Reiswitz lernte auch Rebecca West Bischof Nikolaj kennen: „He struck me … as the most remarkable human being I have ever met, not because he was wise or good … but because he was the supreme magician.“320 Bis heute ist Nikolaj unter anderem wegen vermeintlicher antisemitischer Äußerungen und seiner Nähe zu autoritären Regimen sehr umstritten: „In his post-1920 literary output, Velimirovic frequently invoked the image of Jews as murderers of Christ and a satanic people who betrayed God.“321
Für Reiswitz war der Bischof allerdings weniger ein Verräter Gottes als ein Verräter am Denkmalschutz. Nikolaj, so Reiswitz, „fände diese Sorge überflüssig, denn es gäbe um Ochrida herum noch so viele Kapellen und Kirchen, dass es auf eine mehr oder weniger nicht ankäme. Im übrigen wisse er, was seine Bauern wollten und das wäre: eine neue Kirche an Stelle der alten.“
Und so geschah es laut Reiswitz, dass die alte Kirche vollends dem Brunnenbau zum Opfer fiel, sodass nunmehr eine Ziegenherde allabendlich „fröhlich über die letzte Mauerreste“ setzte, während die Bauern begonnen hatten „oben am Berge“ eine neue Kapelle zu bauen, „um vom Bischof belobt zu werden“.322
Ein historisches Denkmal war für immer verloren gegangen, ohne jegliche Dokumentation. Lediglich in der mündlichen Überlieferung lebte die Kapelle fort. Eine alte Frau erzählte Reiswitz, dass die Kapelle „Sveti Nikola“ hieße und durch die Türken zerstört worden sei. Ihre Großmutter wiederum habe ihr erzählt, dass die Umgebung der Kapelle einst so dicht besiedelt gewesen sei, dass „an einem Tage 99 Hochzeiten gefeiert wurden.“ Natürlich war sich Reiswitz im Klaren, dass dieses wohl übetriebene Zahlen waren, doch betonte er, dass auch bei einem Wahrheitsgehalt von nur zehn Prozent solche oralen Überlieferungen „eine Fülle von Aufschlüssen und Fingerzeigen zu geben vermögen.“ Derartige Hinweise aus der Bevölkerung müssten systematisch verfolgt und dokumentiert werden, da sonst in wenigen Jahren alles „versiegt“ sein würde.
Mit dieser hellsichtigen Bemerkung kann Reiswitz als Vordenker des klassischen Philologen Milman Parry (1902–1935) gelten, der von 1933 bis zu seinem tragischen Unfalltod323 Jugoslawien bereiste und dort die Texte von fast 13.000 Volksliedern in achthundert Notizbüchern sammelte, welche er später der Harvard Universität hinterließ.324
Doch Reiswitz’ Bericht über die den Ziegen überlassene Kirche blieb nicht ohne Wirkung. Am 01.02.1930 berichtete die Zeitung „Vreme“ über die von der orthodoxen Kirche mitverursachte Vernichtung von Kulturdenkmälern am Ohridsee. Dazu zitiert wurde ausführlich Petković, der mit einigen konkreten Beispielen aufwartete. Er erwähnte eine persönliche Zusammenkunft mit einem „angesehenen Deutschen“ in Berlin, welcher ihn auf eine „zufällig gefundene Kirche bei Podmolje“ hingewiesen habe, welche von Bauern ausgegraben wurde, die die Genehmigung dazu von ihrem Bischof bekommen hätten. Obwohl Petković Reiswitz namentlich nicht erwähnt, steht außer Frage, dass er sich hier auf eben diesen berief.325 Daraufhin wandte sich am 06.02. das Büro des Bischofs an die Redaktion von „Vreme“ mit einer Richtigstellung, welche das Blatt in seiner Ausgabe vm 10.02.30 veröffentlichte. Darin hieß es, dass der Bischof keineswegs seine Erlaubnis zur Ausgrabung der Kapelle gegeben habe, sondern dass die Bauern beim Brunnenbau zufällig auf deren Mauern gestoßen seien und dann weitergegraben hätten.326
Neben der Kapelle Sveti Nikola erwähnte der besorgte Reiswitz dann Petković gegenüber noch zwei Marmorreliefs, die herrenlos im Glockenturm der Sveti-Kliment-Kirche herumstünden,327 und ein großes Fußbodenmosaik, welches neben einer Kirche im Ort Veleste, „unter dem Mist“ eines Bauerhofes, dem Verfall preisgegeben sei. Ferner wies er darauf hin, dass die Befestigungsmauern von Ohrid und die darin eingelassenen Einzelbauwerke weitgehend unerforscht seien und sich in großer Gefahr befänden, da einerseits bereits die Besitzer von fast hundert Wohnhäusern sich mit Steinen der Samuelsfestung als willkommenes Baumaterial eingedeckt hätten. Andererseits drohe durch die seitens der Ohrider Stadtverwaltung geplante Anlegung einer weitläufigen Parkanlage die Zerstörung vieler Altertümer. In diesem Zusammenhang verwies er auf das Beispiel der altmakedonischen Stadt Heracleia Lynkestis bei Bitola, wo ein Park mit „Restaurationsbetrieb … und mit Psevaptici [sic]“ eine „der wichtigsten Siedlungen der ausgehenden Antike … ohne jede Durchforschung zum weitaus größten Teil restlos vernichtet“ wurde.
Ende Juni 1928 verließ das Ehepaar Reiswitz Ohrid und blieb zunächst drei Tage in Bitola. Vom 28.–30.06. besuchten die beiden zusammen Thessaloniki, und vom 02.–05.07. stand Athen auf dem Programm. Dort trennten sich die Wege, da Böckschen direkt über Dubrovnik nach Sarajevo reiste, während Reiswitz erst nach Belgrad zurückkehrte, um dann Mitte August selbst in Sarajevo einzutreffen.
Der Reiswitz’sche Jugoslawienaufenthalt 1928 ist im Nachlass reich mit Fotos belegt. Den Motiven und vereinzelt auf der Rückseite angebrachten Angaben ist zu entnehmen, dass u.a. Dubrovnik, Trebinje, Kotor und Mostar – nebst der nahe gelegenen Bunaquelle in Blagaj mit dem dort befindlichen Derwisch-Kloster – besucht wurden. Auf einigen der Ablichtungen sind Bogumilengräber erkennbar. Die meisten Bilder zeigen aber Szenen aus Sarajevo, so zum Beispiel Menschen beim Straßenfest zu Anlass des orthodoxen Kirchenfestes Mariä Geburt im September.
Kurz zuvor hatte ein gemeinsamer Autoausflug mit Wendel stattgefunden, welcher auch auf einigen der Fotos abgelichtet ist. Am 22.08.1928, aus Sarajevo schreibend, bedankte sich Reiswitz bei Wendel für die „Auto-Einladung“, die „mitten in der Sarajevo-Zeit als die grosse und angenehme Unterbrechung sitzt.“ Reiswitz sprach von einer „unglaublich schönen Fahrt“ und kündigte an, dass er Wendel „ein paar recht gut geglückte Aufnahmen zuschicken“ werde.
Im selben Brief erwähnte Reiswitz, dass ihn auch der pensionierte General Friedrich von Taysen (1866–1940) in Sarajevo besucht habe: „Wir tranken einen Abend lang kernigen Rotwein“. Taysen hatte ein Jahr zuvor eine Schrift unter dem Titel „Das jugoslawische Problem“ herausgebracht, in welcher er auch Wendel nannte, genauer gesagt dessen Übersetzung des Buches von Stanojević über das Attentat von Sarajevo.328 Taysens 120 Seiten schmaler Band wurde positiv besprochen von Kurt von Regenauer (1888–1945), der zu dieser Zeit als Archivrat (höherer Dienst) im Reichsarchiv in Potsdam tätig war und als Balkanexperte galt, und von Mai 1941 bis Dezember 1943 in Belgrad als Beauftragter des Chefs der Heeresarchive für den Südosten329 dienstlichen Kontakt mit Reiswitz als Kunstschützer pflegen sollte: „Das für weitere Kreise bestimmte Buch ist von überragender neutraler Warte geschrieben“.330 Taysen meldete sich bei Reiswitz am 09.10.28, von Belgrad aus postlagernd an das deutsche Konsulat in Sarajevo schreibend. Er teilte Reiswitz mit, dass seine Frau und er von Sarajevo aus nicht wie geplant nach Ohrid gefahren waren, sondern zunächst Skopje besuchten, wo sie „wanzenfrei“ auf Reiswitz’ Empfehlung im Hotel Bristol übernachteten, um dann das Amselfeld zu besichtigen, wo der General a.D. „die Bataille von 1389 studierte“.
In Sarajevo ist davon auszugehen, dass sich Böckschen und Reiswitz mit der bekannten Bildhauerin Iva Despić (1890–1961) trafen. Reiswitz selbst hatte Despić bereits 1924 in ihrem Atelier kennengelernt.331 Sie war die Tochter des österreich-ungarischen Generals Julius Simonović und in Agram aufgewachsen. Einem Brief Reiswitz’ an Böckschen nach aus dem Jahre 1929 hatte Iva als „ganz junges Mädchen jahrelang dem gefangenen Pribicevic332 Essen ins Gefängnis geschmuggelt“. Im Jahr 1920 heiratete sie den Sarajever Unternehmer Aca Despić und zog nach Sarajevo.333 Aus zwei Briefen Reiswitz’ nach der Beendigung seines Sarajevoaufenthaltes 1928 an Iva Despić geht die enge Beziehung hervor. Er erkundigte sich nach ihren Kindern, ihrem Ehemann und der Katze und dachte mit Freuden an die „letzten Besuche abends, während der Corso-Zeit“ zurück, als man gemeinsam „auf eine Cigarette, einen Café“ ging. In diesem Brief erwähnte Reiswitz auch einen gemeinsamen Freund: Slobodan Jovanović, „für mich den liebenswürdigsten aller Südslawen“, dessen Grüße er Despić übermittelte. Anfang Januar 1930 schrieb Reiswitz erneut an Despić, diesmal von Pasing aus, „mitten im schönsten Weihnachtsschnee“. Er führte an, dass er in Belgrad alles erreichte, was er sich vorgenommen hatte, und teilte ihr mit, dass er „in Südslawien heute einige wirklich gute Freunde“ habe.
Die Freundschaft zwischen Iva Despić und dem Ehepaar Reiswitz blieb erhalten. Am 13.05.1932 schrieb sie an Reiswitz und bat ihn, sie doch in Sarajevo zu besuchen, wo sie sich im Stadtteil Vasin Han „ein kleines Häuschen“ gebaut habe „mit einem ziemlich großen Atelier.“ Auf ihrer Jugoslawienreise 1928 wohnte das Ehepaar Reiswitz in der osmanischen Villa der Despić, mitten im Herzen Sarajevos. Heute ist in dem Anwesen das bosnische Literatur- und Theatermuseum untergebracht. Auf einer zeitgenössischen Fotografie des Hauses im Nachlass hat Reiswitz „unser Apartement“ mit einem Kreuz gekennzeichnet. Ein Jahr später, am 11.12.33, schlug Reiswitz in einem Brief an seine Frau vor, Iva über Weihnachten auf den Oedhof ins Chiemgau einzuladen.
Kurz vor Kriegsausbruch mit Jugoslawien dann änderte sich die Lage. Im Frühjahr 1941 war Reiswitz besorgt um Iva: „Wenn wir blos nicht über Südslawien herfallen.“ Am 14.07.41 schrieb er, dass er „viel an Iva“ denken musste. Zwei Wochen später war er immer noch ohne Nachricht aus Sarajevo. Am 22.09.41 richtete Iva Despić ein Hilfeersuchen an Böckschen. Sie erwähnte das „grosse Unglück“, das sie heimgesucht habe. Unter anderem nannte sie den Krieg, der für sie ein „vollkommenes Debakel“ sei. In ihrem Haus seien 70 Evakuierte. „Wir sind nicht sicher für unser Leben, die Serben sind dauernd verfolgt, maltretiert wie die Juden.“ Dieser Brief erreichte Reiswitz in Belgrad und er entschied, sofort zu handeln. Am 20.12.41 bat er den SS-Sturmbannführer und Zahnarzt Dr. Ernst Weinmann (1907–1947334) herauszufinden, ob die Freundin noch am Leben ist und ob die „Möglichkeit besteht, sie aus Kroatien herauszubringen. Und weiter ob besser ins Reich oder nach Serbien“. Weinmann antwortete am 12.01.42 und teilte Reiswitz mit, dass sich Despić in Sarajevo aufhielte, allerdings „wenig Lust“ zeige, Sarajevo zu verlassen. Darüber war Reiswitz etwas pikiert und schrieb am 25.03.42 an Böckschen, dass er nichts weiter unternehmen könne, „wenn sie selbst nichts tun will, sondern gottergeben jammert“. Am 29.06.42 informierte er Iva Despić dann aber darüber, dass sie jederzeit zu seiner Frau in den Chiemgau kommen könne. Er bot auch die Hilfe seiner Dienststelle für eine Übersiedlung an. Am 31.03.43 teilte er Böckschen wieder mit, dass er „an Iva Despić in Sarajevo denke … aber bisher noch niemanden finden konnte, der hinfuhr.“ Zwei Monate später erreichte ihn dann endlich ein Brief von Iva vom 28.05.1943, den ihm ein Gefreiter Horst Reuther, der Despić in Sarajevo kennengelernt hatte, überbrachte. Sie äußerte darin lediglich knapp ihre Sorge um das Wohl von Böckschen, Reiswitz’ Sohn und Tilla Bethusy-Huc und ließ Reiswitz wissen, dass sie „am Lande“ lebe.
Dort hielt sie auch bis Kriegsende aus. Allerdings wurde sie im Juni 1945 als Royalistin verhaftet. Darauf hatte ironischerweise bereits Reiswitz in seiner Bitte an Weinmann hingewiesen, allerdings in diesem Fall, um seinen Einsatz für sie zu rechtfertigen: „Sie stand der königlichen Familie sehr nahe und hat ihren Einfluss stets im deutschfreundlichen Sinne geltend gemacht.“ Tatsächlich pflegte Iva Despić enge Beziehungen zum Königshaus, fertigte zum Beispiel eine Büste König Aleksandar Karađorđevićs an und erhielt von dessen Frau Marija einst eine Waggonladung Blumen für den Garten ihres 1931 errichteten „kleinen Häuschen“. Nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft arbeitete sie weiter, fertigte unter anderem eine Büste von Aleksa Šantić für die Stadt Mostar an, verstarb aber letzlich vergessen und verarmt in ihrem Atelier im Jahre 1961.335
In seinem ersten Brief an Iva Despić hatte Reiswitz die Zeit in Sarajevo von August bis November 1928 allerdings insgesamt negativ beurteilt: „In 14 Tagen Belgrad habe ich mehr erreicht und gelernt als in 2 Monaten Sarajevo“. In der Tat sind über diese Monate kaum Quellen im Nachlass vorhanden. Aus einem kurzen Briefwechsel mit dem Orientalisten Franz Babinger aus dem Dezember 1928 geht allerdings eine unangenehme Begebenheit hervor, die Reiswitz auf seine Tage in Sarajevo mit wenig Freude zurückschauen ließ. Kurz nach seiner Ankunft lernte er den Historiker und Schullehrer Hamdija Krešeljaković336 kennen, den er in einem Brief an den damaligen deutschen Konsul in Sararevo, Ernst von Druffel (1887–1961), der 1924 die Nachfolge Bethusy-Hucs angetreten hatte und bis 1932 in Bosnien wirkte, als einen „Bruder“ bezeichnete, dem er große Dankbarkeit schulde. Zur selben Zeit weilte Babinger kurzzeitig in Sarajevo, wo dessen Ehefrau mit Baron und Baronin von Reiswitz auf einem Familienfoto zu sehen ist.337 Scheinbar hatte Krešeljaković Bedenken, was ein Buch Babingers anbelangt. Er äußerte Reiswitz gegenüber den Verdacht, dass einige Passagen daraus aus einem türkischsprachigen Werk338 plagiiert worden seien. Reiswitz berichtete darüber wohl Babinger, welcher wiederum dafür sorgte, dass Krešeljaković Unannehmlichkeiten bekam, was wiederum Reiswitz verärgerte, da er selbst nun in den örtlichen Gelehrtenkreisen als nicht vertrauenswürdig galt. Dem Brief an Druffel ist aber zu entnehmen, dass sich die Wogen zunächst wieder glätteten.
Allerdings ist der Reiswitz-Babinger-Korrespondenz noch ein weiterer Vorgang zu entnehmen, der Anlass dazu geben konnte, dass Reiswitz seine Zeit in Sarajevo 1928 nicht in guter Erinnerung behielt. So übersandte Babinger am 19.12.28 Reiswitz die Abschrift eines Briefes, welchen Krešeljaković am 02.12.28 an den Präsidenten der kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste („Südslawische Akademie“), den Historiker und Byzantologen Gavro Manojlović (1856–1939), expediert hatte. Aus diesem Schreiben, welches offensichtlich Manojlović an Babinger in deutscher Übersetzung weitergeleitet hatte, reagierte Krešeljaković auf gewisse Vorwürfe, die Babinger in Korrespondenz mit Manojlović gegenüber Krešeljaković erhoben hatte. Manojlović hatte sich damit wohl an Krešeljaković gewandt. Diesen Vorwürfen zufolge habe Krešeljaković behauptet, „die südslawische Akademie sammle orientalische Handschriften nur scheinbar für sich, tatsächlich aber für Berlin.“ In diese Machenschaften sei Babinger verwickelt, da er die Handschriften unter Preis in Sarajevo erwerbe und mit Gewinn für sich selbst an die Akademie weiterveräußere, welche sie dann nach „Berlin“ abgebe. Welche deutsche Einrichtung sich hinter „Berlin“ versteckte, wird aus dem Brief nicht klar.
Krešeljaković gab gegenüber Manojlović an, dass der einzige, dem er über Babingers vermeintliche Machenschaften erzählt hatte, niemand anderes war als die Person, der er auch über Babingers angebliches Plagiat339 berichtete: Reiswitz.
Allerdings, so Krešeljaković, habe er Reiswitz gegenüber lediglich gesagt, dass Babinger die Schriften „billig erhalten“ habe, da der Anbieter sich „in sehr schwierigen materiellen Verhältnissen“ befinde. Er habe keineswegs Reiswitz gesagt, dass Babinger die Ware mit Profit weiterverkaufe: „Ein Universitätsprofessor ist darauf nicht angewiesen.“
Von wem aber hatte Babinger die Handschriften ursprünglich erworben? Es überrascht zunächst, dass es sich dabei laut Krešeljaković um den hochangesehenen und bibliophilen Orientalisten Safvet-beg Bašagić (1870–1934) handelte, welcher bis zu seiner Pensionierung 1927 als Kustos im Landesmuseum in Sarajevo gearbeitet hatte. Doch bereits 1926 verließ er – so zumindest schrieb Krešeljaković selbst in einem Nachruf auf den 1934 verstorbenen Bašagić340 – sein Bett nicht mehr, was wiederum eine Erklärung für dessen materielle Notlage sein könnte. Seine persönliche Bibliothek, welche sein Vater begonnen hatte, hatte er bereits an die Universität in Pressburg verkauft, wobei allein die Zahl der wertvollen Handschriften 266 betrug.341
Doch sei der Verkauf an Babinger – den „Handschriften-Acquisiteuer“342 – laut Krešeljaković nur ein Einzelfall gewesen, ohne dass System dahinterstecke, bosnisches Kulturerbe nach Deutschland zu schmuggeln. Dies könnten neben Bašagić selbst zwei weitere bekannte Intellektuelle aus Sarajevo bezeugen, der Büchersammler und Direktor der Zemaljska Banka, Aleksandar Poljanić (?–1948) und Vejsil Ćurčić, der bis 1924 auch als Kustos im Landesmuseum angestellt war, zehn Jahre später die Museumsleitung übernahm und bis 1945 ausübte.
Die Reiswitz gegenüber privatissime gemachten Anschuldigungen Krešeljakovićs an die Adresse Babingers, die letzterer, nachdem Reiswitz ihm davon unbedacht berichtet hatte, an Manojlović herangetragen hatte, führten bei Manojlović dazu, ein Exempel an Krešeljaković zu statuieren. 1929 wurde Krešeljaković an die bulgarische Grenze versetzt und ging 1932 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand. Der Schlusssatz seines Briefes an Manojlović vom 02.12.28 hatte Krešeljaković also nicht retten können: „Die südslawische Akademie und die Agramer Universität sind für mich als Kroaten Heiligtum, denen gegenüber ich … mich nicht versündigt habe.“343
Reiswitz, auf der anderen Seite, war zunächst äußerst verstimmt wegen Babingers Indiskretion. Am 19.12.28 teilte er ihm brieflich mit, „dass Sie die Sache Kr. nun doch vor Manojlović brachten war nicht schön von Ihnen. Ich sagte Ihnen schon in Sarajevo, dass Sie mir damit riesig schaden würden“. Doch aus dem bereits erwähnten Brief Reiswitz’ an den Konsul von Druffel aus dem Jahre 1930 geht hervor, dass Babinger und Reiswitz sich schlussendlich versöhnten: „Babinger und ich haben uns in diesem Jahr seit Sarajevo oft gesehen, eigentlich sind wir sogar jetzt befreundet und jetzt, wo ich ihn besser kenne, weiss ich auch, dass er nicht der grobe Egoist ist, für den ich ihn früher gehalten habe“.
Ebenso wenig wie es die Quellenlage zulässt, die Verdachtsmomente in Bezug auf Babinger abschließend aufzuhellen, ebenso wenig Klarheit gibt es hinsichtlich einer möglichen Nebenerwerbsquelle für Reiswitz selbst im Zusammenhang mit dem Transfer von Kulturgut. In einem Briefentwurf an seinen Vetter Hans Kurd Freiherr von Reiswitz und Kaderžin (1878–1949)344 vom 10.12.28 erläuterte Reiswitz sein Vorhaben. So habe er einen Tag vor seiner Abreise nach Deutschland mit dem Kustos Miodrag Grbić die Vereinbarung getroffen, dass dieser dem Vetter Hans „alle Antiquitäten, die das Museum selbst nicht kaufen kann, da es nicht viel Geld hat“ zum „Einkaufpreise“ anbieten werde. Monatlich habe Grbić ursprünglich sogar zehn Kleinplastiken offeriert, doch Reiswitz hielt drei für realistischer. Was die „Gewinnbeteiligung“ anbelangt, so möge Hans Kurd darüber befinden. Im weiteren Verlauf des Briefes betonte Reiswitz, dass er darauf bestanden habe, dass der zweite Kustos des Museums, Jozo Petrović, dieser Vereinbarung zustimmen müsse. Inwieweit diese angedachte Geschäftsidee in die Tat umgesetzt wurde, ist fraglich, ebenso wie die Legalität des Vorhabens. Es ist jedoch mehr als unwahrscheinlich, dass Reiswitz etwas Derartiges eruiert hätte, wenn es, in welcher Form auch immer, juristisch fragwürdig gewesen wäre.
Neben Krešeljaković lernte Reiswitz auch Derviš M. Korkut (1888–1969) in Sarajevo kennen. Korkut sollte im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielen im Zusammenhang mit der Rettung der mehr als 700 Jahre alten Haggadah von Sarajevo, einer ursprünglich aus Spanien stammenden jüdischen Handschrift, die Korkut 1942 dem deutschen Zugriff entzog, in dem er sie buchstäblich in letzter Minute aus dem Landesmuseum schmuggelte und bei einem Imam bis zum Kriegsende versteckte. Doch der muslimische Korkut rettete nicht nur ein jüdisches Buch, sondern auch ein jüdisches Mädchen, die Tochter eines verstorbenen Kollegen, Donkica Papo, die er in seinem eigenen Haus versteckte und als muslimisches Dienstmädchen ausgab.345 Für diese Tat wurde er 1994 zusammen mit seiner Ehefrau Servet von der Gedenkstätte Yad Vashem als einer der „Righteous Among the Nations“ anerkannt.346
Korkut übernahm 1921 die Funktion des Sektionschefs im jugoslawischen Kultusministerium, kündigte aber 1923, um in die Politik zu gehen als Generalsekretär der Muslimischen Partei (Jugoslovenska Muslimanska Narodna Organizacija). Doch am 05.03.1927 wechselte er wieder in den Staatsdienst als Bibliothekar am Landesmuseum.347
Reiswitz konsultierte Korkut offensichtlich im Kontext seiner Bogumilenrecherche. In einem Brief an Babinger vom 15.11.28 findet sich eine äußerst kryptische Passage: „Das Hasen-fell-Buch der Herren Korkut Vukovic Petronic348 stellte sich als eine der beliebten Wichtigkeitsblähungen heraus und hätte uns überdies beinahe einen noch einen Schwanz von Unannehmlichkeiten gebracht. Mit den Bogomilen hat es überhaupt nichts zu tun. Näheres mündlich.“ Einen Monat später erwähnte auch Babinger dieses mysteriöse Hasenfellbuch in seinem Brief an Reiswitz vom 11.12.28: „Ich bin mächtig gespannt, was Sie alles erzählen werden über das Hasenfell“.
Die zweite Erwähnung Korkuts erfolgte in Reiswitz’ Brief an Babinger vom 19.12.28. Augenscheinlich hatten Reiswitz und Korkut einen kameradschaftlichen Disput über die Erfindung des Luftschiffes: „Korkut behauptete mir gegenüber einmal, Graf Zeppelin hätte seine Erfindung von einem Kroaten namens Schwarz349. Ich erwiderte daraufhin, dass ich um Beweise bäte und ehe ich diese nicht hätte, nicht daran glauben würde.“
Schließlich erwähnte Reiswitz Korkut beiläufig noch einmal in einem Brief an Böckschen vom 25.07.29. Korkuts Visitenkarte hat sich im Nachlass erhalten, auf welcher sein Titel „Sektionschef “ durchgestrichen ist und handschriftlich „Kustos des bosn.-herz. Landesmuseums Sarajewo“ hinzugefügt wurde.
Während das Hasenfellbuch Reiswitz nicht weiterbrachte bei der Erforschung der Bogumilen, so lernte er 1928 zumindest eine weitere bedeutsame Person kennen, die ihm helfen konnte: Vladimir Ćorović (1885–1941). Der Historiker und „the last polyhistor“350 Ćorović stammte aus Mostar und hatte vor dem Ersten Weltkrieg im Landesmuseum von Sarajevo gearbeitet. Als Reiswitz seine Bekanntschaft machte, war er bereits Lehrstuhlinhaber in Belgrad. In seinem Brief an Babinger vom 15.11.28 urteilte Reiswitz wie folgt: „Was die Bogomilen betrifft, so habe ich in Corovic wirklich den Mann gefunden, den Sie schilderten und den ich brauche. Strotzend vor Lust an seiner Arbeit und in allem positiv … kommt er gleich in medias res und wird – überzeugt von der Wichtigkeit einer … Bogomilenbibliographie… alles tun, um mir Umwege zu ersparen.“ Ćorović ging in der Tat – allerdings erst in seinem opus magnum zwölf Jahre später – auf die Bogumilen in Bosnien ein.351
Wie sich die Bekanntschaft mit Ćorović entwickelte, ist nur bruchstückhaft überliefert. Am 29.03.36 schrieb Reiswitz an Böckschen, dass der Oldenbourg-Verlag seinen gerade veröffentlichten „Fahrplan“ – so der familieninterne Terminus für Reiswitz’ als Buch erschienene Habilitationsschrift – zur Rezension in Politika an Ćorović geschickt habe, obwohl Reiswitz als Politikarezensenten eigentlich seinen Freund, den Journalisten Predrag Milojević (1901–1999)352 vorgesehen hatte. Kurz darauf, am 30.04.36, meldete sich Ćorović in einem persönlichen, handgeschriebenen Brief bei Reiswitz: „Ich habe Ihr schönes Buch mit Dankbarkeit bekommen und schon gelesen. Das Buch ist höchst interessant und sehr gut. … Es wird uns sehr freuen, wenn Sie die nützliche Arbeit fortsetzen möchten; für weitere Ausgestaltung der deutsch-jugoslawischen Beziehungen werden solche Beiträge eine überaus fördernde Wirkung haben.“ Ćorovićs eigene historiographische Arbeit wurde allerdings im Jahre 1936 als für die Förderung der deutsch-jugoslawischen Beziehungen nicht unbedingt vorteilhaft angesehen. Woran lag das?
Sechs Jahre später, am 30.12.42, schrieb Reiswitz aus Belgrad, im 5. Stock des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) sitzend, an seine Mutter. Direkt vor ihm an der Wand waren Regale mit dem Bibliotheksbeständen von Ćorović angebracht. Nach seiner Flucht aus Belgrad und seinem fatalen Flugzeugabsturz über dem Berg Athos am 12.04.41 war Ćorovićs Buchbesitz konfisziert und ins DWI verbracht worden.353 Ćorović hatte sich, so Reiswitz, „leider als hochgradiger Freimaurer“ entpuppt, der „ins Ausland floh und dessen schöne Bibliothek wir infolgedessen als Feind-Bibliothek sichergestellt haben“.354 Allerdings ging es den deutschen Besatzern nicht vornehmlich um Ćorovićs bibliophile Schätze, sondern um sein 1936 fertiggestelltes Buch über die serbisch-österreichischen Beziehungen im 20. Jahrhundert355 und die dazugehörige Quellen- und Materialsammlung. In diesem Buch, dessen Auslieferung kurzfristig durch den jugoslawischen Ministerpräsidenten und Außenminister Milan Stojadinović (1888–1961) unterbunden worden war, identifizierte Ćorović Österreich-Ungarn als die alleinig schuldige Macht am Ersten Weltkrieg. Obwohl es sich bei Ćorovićs Werk um eine Auftragsarbeit der jugoslawischen Regierung aus dem Jahre 1930 handelte, mit der ursprünglichen Absicht zu belegen, dass Serbien unschuldig am Kriegsausbruch war, vermutete Stojadinović, dass diese Hauptthese Hitler vor den Kopf stoßen könnte. Die gesamte bereits gedruckte Auflage wurde einbehalten – was den jugoslawischen Steuerzahler 226.000 Dinar kostete.356
Reiswitz’ Brief an Babinger vom 15.11.28 gibt neben der Bogumilenthematik noch Aufschluss über eine Idee Reiswitz’ hinsichtlich der Verstärkung der zukünftigen deutsch-jugoslawischen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. So schrieb er: „Endlich die Instituts Pläne. Hier habe ich gleichzeitig bei Slobodan Jovanović, Stanoje Stanojević und unserem Gesandten Köster357 die Fragen berührt; dasselbe will ich auch bei Šisić358 und Manojlović in Agram tun. Bisher waren alle sehr für den Gedanken eingenommen, hielten aber die Zeit noch nicht für reif. Näheres mündlich.“ In einem späteren Brief an Babinger vom 09.12.28 bezeichnete Reiswitz das für Berlin angeregte Institut als „Balkan-Institut“, ohne allerdings auf Einzelheiten einzugehen.
Der gewählte Terminus „Balkan-Institut“ erinnnert an das 1919 gegründete interdisziplinär arbeitende „Oriental Institute“ der Universität von Chicago. Für dieses Institut führte seit 1926 der deutsche Archäologe Hans Henning von der Osten (1899–1960) eine archäologische Bestandsaufnahme Anatoliens durch, bestehend aus vier großen Forschungsreisen in die Türkei, insbesondere, um das Volk der Hethiter zu erforschen: „A thousand questions arose … one of the most important being that of the racial connections of the groups of peoples commonly called ‘Hittites’. The fact that at least one of their languages was Indo-European in character connects them with our own ancestry and invests them with a peculiar interest for us“.359 Konnten die Hethiter in einer ähnlichen Rolle als Kulturbringer von West nach Ost gesehen werden, wie Schuchhardt die indogermanischen Illyrer als Brücke zwischen Nordeuropa und dem Balkan ansah?
In Reiswitz’ Tagebucheintrag vom 08.05.1929 ist ein Treffen von Reiswitz mit von der Osten in Berlin belegt. Doch wird dies nicht die einzige Zusammenkunft der beiden gewesen sein, was jedoch nicht verifizierbar ist, da die Tagebuchaufzeichnungen von Reiswitz vom 01.04. bis 03.05. fehlen. Am 06.05. befasste sich Reiswitz laut Tagebuch mehrere Stunden lang mit den „Kulturzusammenhängen im alten Orient“ und schickte einen Brief an den amerikanischen Archäologen Carl Blegen (1887–1971), der zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren den Lehrstuhl für klasssische Archäologie an der Universität von Cincinnati innehatte. Dort heißt es in etwas holprigem Englisch – seine Oxfordstudien mit Jeanne Doe lagen immerhin schon vier Jahre zurück: „Dr. v. d. Osten … to whom I showed a plan for a systematic archeological [sic] survey of the Balkan-peninsula, told me that I should adress [you] on this behalf. I am already working several years on problem … The project which I have is similary [sic] to the survey of Anatolia now conducted by the Oriental Institute.“ Er bittet dann Blegen um ein persönliches Treffen, zumal Blegen ein „expert especially for the earlier pottery of the Balkan“ sei.360 Eine Antwort Blegens ist leider nicht überliefert. Der Brief und das Treffen mit von der Osten zeigen jedoch deutlich Reiswitz’ fortgeführtes Interesse nicht nur an den Bogumilen, sondern auch an der Vorgeschichte der Beziehungen des Balkans mit dem Rest Europas.
Woher aber stammte die Idee der Gründung eines „Instituts“ für Balkanstudien? Offenbar hatte Babinger in einem vorausgegangen Brief eine „Arbeits-Gemeinschaft“ als Vorläufer einer solchen Institutsgründung angeregt, eine Idee, die Reiswitz für „glänzend“ hielt. Involviert darin sollte Babingers Ansicht nach auch Konrad Schünemann (1900–1940) sein. Der in Berlin geborene Schünemann hatte dort 1922 – zur gleichen Zeit wie Reiswitz – seine Promotion über „Die Deutschen in Ungarn bis zum 12. Jahrhundert“ abgeschlossen. Während der Wirren 1918/1919 hatte er als Zeitfreiwilliger in der Berliner-Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Kampf gegen Spartakisten gedient.361 Anders als dem gleichaltrigen Reiswitz war es Schünemann aber schon frühzeitig gelungen, akademisch Fuß zu fassen. Seit 1927 war er in Berlin Privatdozent für Geschichte. Ein Jahr zuvor hatte Reiswitz zu Schünemann Kontakt aufgenommen, welcher ihm von dem Historiker Otto Hintze als jemand empfohlen worden war, der sich in Berlin mit Balkangeschichte befasste.362
Die Beteiligung von Schünemann hielt Reiswitz zumindest in der Gründungsphase der Arbeitsgemeinschaft bzw. des Instituts für keine gute Idee – Babinger habe ihn „mit Schünemann … einen kräftigen Schrecken eingejagt“, da Schünemann den Gedanken verfolge, ein „ungarisches Institut als Urzelle“ eines Balkan-Instituts zu wählen, was laut Reiswitz bei den Südslawen für „wenig Sympathien“ sorgen würde. In der Tat stand zu dieser Zeit Schünemann dem Deutsch-Ungarischen Institut in Berlin vor. Auf der anderen Seite begrüße Reiswitz aber durchaus einen friedlichen wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen Schünemann und ihm selbst, wozu ihm auch bereits im Februar 1928 Hoetzsch geraten habe. Bei einem solchen Wettbewerb, soviel scheint klar, war aus der Sicht des Jahres 1928 Schünemann allein aufgrund der Tatsache im Vorteil, dass er sich 1927 bereits habilitiert hatte.
Babinger hingegen dämpfte unmittelbar darauf Reiswitz’ Aktionismus. Am 11.12.28 erklärte er klipp und klar in einem Brief an den letzteren: „Von einer Gründung der Arbeitsgemeinschaft kann gar keine Rede sein in der nächsten Zeit. So wenigstens beurteile ich die Sachlage.“ Doch mit diesem Urteil lag Babinger falsch.
Etwas mehr als ein halbes Jahr später erwähnte Reiswitz Ende Juli 1929 in einem Brief an Böckschen363, dass er sich mit Schünemann im Romanischen Café in Berlin, einem von Reiswitz häufig frequentierten, beliebten Intellektuellentreffpunkt in unmitelbarer Nähe der Gedächtniskirche, zu einer langen Unterredung getroffen habe. Schünemann habe soeben ein Buch herausgebracht als erste Veröffentlichung einer „Arbeitsgemeinschaft für Südosteuropaforschung an der Universität Berlin“. Es handelte sich um seine Habilitationsschrift, „Die Entstehung des Städtewesens in Südosteuropa“. Dies werde für „großes Aufsehen“ sorgen, wenn nicht sogar einen „Krach“ und eine „Explosion“ hervorrufen, weil niemand über Schünemanns Vorhaben im Bilde war. Laut Reiswitz habe Schünemann die vom Ministerium noch gar nicht bestätigte Arbeitsgemeinschaft in Eigenregie in das offizielle Verzeichnis der Institute des Deutschen Reiches eintragen lassen. Schünemanns Monographie sollte die erste und einzige Veröffentlichung der omninösen „Arbeitsgemeinschaft für Südosteuropaforschung“ bleiben.364 Konrad Schünemann selbst fiel als Feldwebel am 10.06.40 in Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt war er als außerordentlicher Professor in Kiel tätig geworden. In einem kurzen Nachruf wurde er als „gründlicher Kenner der ungarischen Geschichte und der Geschichte des Deutschtums in Südosteuropa“365 bezeichnet.
Ob es die Unstimmigkeiten mit Babinger in Bezug auf die Krešeljaković-Affäre waren, oder Babingers Zurückhaltung in Bezug auf das von Reiswitz anvisierte Balkan-Institut, oder eventuelle weitere Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden: Reiswitz jedenfalls entwickelte eine immer stärkere Abneigung gegenüber Babinger.
„Nie hat ein Mensch mich derart vergiften können“, so schrieb er am 25.07.29 an Böckschen über Babinger. Nur wenig später, am 13.09.29 verglich Reiswitz Gerhard Gesemann, dem er am selben Tage in Prag zum ersten Mal persönlich begegnete, in einem weiteren Brief an seine Gattin mit Babinger: „Dieser Mann [Gesemann] ist tatsächlich der erste wirklich brauchbare Professor, Babinger ohne Egoismus.“366 Bei der Prager Zusammenkunft offenbarte Reiswitz Gesemann seine „Pläne“ und erhielt von Gesemann „manchen streng befolgten Rat“.367
Darüber hinaus befindet sich im Nachlass ein undatierter, unbeendeter handgeschriebener Briefentwurf Reiswitz’, welcher vom Kontext her, obgleich die Anrede nur „Sehr geehrter Herr Professor“ lautet, an Babinger gerichtet sein musste. Darin erwähnte Reiswitz die „schmerzlichen und bitteren“ Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre – sodass zu vermuten ist, dass die Zeilen aus dem Jahre 1930 stammen, welche darin bestanden, dass Babinger, so Reiswitz, „Verleumdung“ begangen habe und durch „unverantwortliches Geschwätz“ aufgefallen sei. Reiswitz teilte Babinger mit, dass er sich nun „definitiv“ von ihm zurückziehe.
Am 06.11.33 bemerkte Reiswitz dann nicht ohne Genugtuung gegenüber Böckschen, dass Babinger „wegen Arierparagraph und wegen seiner dauernden Stänkereien“ entlassen werden solle. Er sei sehr froh, dass Babinger „verduftet“ sei. Babingers Großmutter mütterlicherseits war eine geborene Jüdin. Babinger selbst versuchte seine Entpflichtung zu verhindern unter Hinweis auf seine Freikorpstätigkeit in München und seine persönliche Freundschaft mit dem SA-Chef Ernst Röhm (1884–1934).368
Mindestens einmal jedoch noch kreuzten sich Reiswitz’ und Babingers Pfade. Am 27.03.34 stand Reiswitz auf dem Weg zum Oedhof zufällig neben Babinger auf dem Bahnsteig in Berlin. Reiswitz teilt seiner Frau allerdings nur knapp mit, dass Babinger unterwegs nach Jugoslawien sei. Vermutlich war Babinger allerdings auf dem Weg ins Exil nach Rumänien. Am 12.12.34 informierte Reiswitz Böckschen über Schwierigkeiten im Zusammenhang mit seiner Zulassung zur Probevorlesung an der Berliner Universität, hatte aber diesmal nicht das Gefühl wie in „Babingersache vor vier Jahren“, dass ein Haus in ihm einstürze.
Doch sollen die Erfahrungen von Reiswitz mit Babinger in Sarajevo und danach nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Jugoslawienaufenthalt von Reiswitz 1928 insgesamt ein Erfolg war. Am 04.12.28 schrieb ihm der Germanist Dr. Momčilo Selesković (1890–1950), der bis 1939 als Lektor für die serbische Sprache an der Universität Berlin angestellt war und vorher in Dubrovnik deutsche Literatur gelehrt hatte.369 Er drückte seine Freude darüber aus, dass der „jugoslawische Aufenthalt“ von Reiswitz „positive Früchte“ getragen hatte, bedauerte allerdings ironisch Reiswitz’ „Frau Gemahlin“, da sie einen Mann habe, „der sich in den Kopf gesetzt hat, monatelang auf dem Balkan herumzukutschieren“. Im selben Brief fragte Selesković, ob Reiswitz bereits den Ethnologen und Historiker Professor Tihomir Đorđević (1868–1944) kennengelernt habe, der ihm bei seinem weiteren Netzwerkaufbau nützlich sein könne, da dieser „eine Masse Verbindungen“ habe. Bereits vor Antritt seiner Jugoslawienreise hatte Reiswitz den Lektor um Hilfe gebeten. Am 29.02.28 schickte Selesković ihm ein Empfehlungsschreiben für den Geographieprofessor Milojević in Belgrad, der „alles tun wird“, um Reiswitz „der Lösung näher zu bringen“. Offensichtlich war Milojević noch nicht dazu gekommen, Rat und Tat, wie am 12.09.27 gegenüber Reiswitz versprochen, zur Verfügung zu stellen, um die Veröffentlichung von Reiswitz’ Cvijić-Übersetzung zu begeben.
Reiswitz jedenfalls hielt den Kontakt mit Selesković aufrecht. Aus einem Brief an Böckschen vom 15.09.29, verfasst während seines dritten Jugoslawienaufenthaltes, geht hervor, dass er sich mit Selesković im Belgrader Nobelhotel Srpski Kralj zum Abendessen verabredet hatte. Auch sechs Jahre später noch tauchte Selesković auf, als am 15.12.35 Reiswitz Böckschen darüber ins Bild setzte, dass er gerade Selesković im Beliner „Jugoslawischen Klub“ getroffen habe, wo er „die Bescheinigung, dass ich bereits September 1929 fließend serbisch gesprochen habe“, von eben diesem „Lektor für Serbisch an der Berliner Universität“ erhalten habe.
Ein weiterer Dinergast im Srpski Kralj an jenem 15.09.29 war Vladimir Šifer, Generalsekretär der Apothekerkammer des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen. Bei Šifer, so zumindest schrieb ihm Reiswitz am 20.12.28, hatte die Jugoslawienreise 1928 begonnen und auch geendet: „Dass ich heute so ungetrübt und gern an diese 7 Monate SHS denken kann, danke ich an erster Stelle Ihnen“. In seiner Antwort vom 26.12.28 sprach Šifer darüber, dass er – als kroatischer Katholik – den Weihnachtsabend bei den „Gavrilovićs“ verbracht habe, die Reiswitz „herzlich“ für dessen „Grüße danken“. Auch Reiswitz erwähnte in seinem Brief an Böckschen vom 15.09.29 den Besuch bei der Familie Gavrilović im Belgrader Stadtteil Topčider. Bei diesem Ehepaar handelte es sich höchstwahrscheinlich um Milan (1882–1976) und Jelena (1895–1976) Gavrilović, die in der Straße Andre Nikolića Nr. 12 in besagtem Stadteil wohnten.370 Letzterer war von 1924 bis 1930 der Chefredakteur von „Politika“ und hatte noch 1922 als Erster Sekretär der jugoslawischen Gesandtschaft in Berlin gewirkt. Als Chefredakteur machte er „Politika“ zu einer qualitativ hochwertigen Tageszeitung, „poput londonskog Tajmsa, pariskog Figaroa I frankfurtskog Frankfurter cajtunga“ („wie die Londoner Times, der Pariser Figaro und die Frankfurter Zeitung aus Frankfurt“).371
Während Gavrilović nach dem deutschen Angriff auf Jugoslawien nicht von seinem Posten als jugoslawischer Gesandter in Moskau nach Belgrad zurückkehrte, sondern im Dezember 1941 nach London ging und als Justizminister in die Exilregierung von Slobodan Jovanović eintrat, blieb Šifer in Serbien. Mitte September 1941 traf Reiswitz ihn im Restaurant „Mali Pariz“ in der Dečanska-Straße Nr. 25. Reiswitz berichtete Böckschen darüber, dass Šifer nun in „seinem ehedem so beschimpften Serbien“ bleiben will, anstatt „in seinen ja nun unabhängigen Staat Kroatien“ zurückzukehren.372 In der Tat hatte Šifer früher kein Hehl daraus gemacht, was er von der offiziellen serbischen Politik hielt. Am 26.12.28 schrieb er an Reiswitz: „Die Serben haben für die Einigung aller Südslawen viel gemacht, aber sie sind wohl nicht mit reinen Gefühlen und Zielen in diese Einigung eingetreten. Wir [die Kroaten] haben schon vor 25 Jahren eine südslawische Ideologie vertig [sic] gehabt und die Serben können noch heute vom grosserbischen Standpunkte nicht einen Schritt weiter machen.“ Offensichtlich hatten sich die Vorzeichen der Zeitläufte gewandelt. Während Šifer 1928 mit den großserbischen Ambitionen unzufrieden war, so befürwortete er 1941 die großkroatischen ebensowenig, da er nicht im Unabhängigen Staat Kroatien leben wollte.
Nachdem es Reiswitz bei seinem zweiten Aufenthalt dank der vorbereitenden Mithilfe von Wendel und Horovic gelungen war, einerseits ein Netzwerk von Bekannten aus dem akademischen Bereich aufzubauen – die „Arbeiten“, von den zu Beginn des Kapitels die Rede war –, zu welchen vor allem Historiker und Publizisten zählten, galt es nun, konkret an die Arbeit zu gehen. Zunächst aber benötige er dazu finanzielle Mittel.