Читать книгу Häuptling Schlappschritt - Andreas Safft - Страница 8
ОглавлениеUm- und Abwege
Warum Leichtathletik doof ist und warum ich nie Kreismeister im Weitsprung geworden bin.
Ich laufe jetzt also. Machen ja Millionen Deutsche. Dabei habe ich Laufen über viele Jahre ignoriert, ja gehasst. Schuld daran war vor allem der Sonnenberg am Ortsrand von Seesen/Harz. Und mein Sportlehrer in der 7. Klasse.
Ein Pädagoge, der seine Schutzbefohlenen vom Jacobson-Gymnasium bis nach Engelade rennen lässt und dann über den sicher gut 50 Meter höher liegenden Sonnenberg zurückjagt, macht sich nicht unbedingt Freunde unter zwei Dutzend pubertierenden Mädchen und Jungen. Wenn dieser sogenannte Pädagoge die Quälerei gemütlich aus seinem Auto heraus verfolgt, dann hat er den Grundstein für eine lebenslange Lauf-Phobie endgültig gelegt. Bei mir jedenfalls.
Er verteilte gern Fünfen und Sechsen an die Schüler, die den Sonnenberg Sonnenberg sein ließen und lieber von Engelade aus zurücktrampten. Kaum zu glauben, wie viele Jugendliche in einen VW Golf passten.
Ich begann Leichtathletik zu verabscheuen. Erstens wegen des Pädagogen vom Sonnenberg. Zweitens mangels eigenen Talents – Bundesjugendspiele waren für mich schlimmer als Zahnarzt, Latein-Vokabeltest und Besuch bei der dicken Tante im Weserbergland zusammen. Und drittens wegen des obskuren Völkchens, das zu meiner Jugendzeit diese olympische Kernsportart repräsentierte.
Rennende Apotheken. Muskelberge unbestimmten Geschlechts. Langstreckler, gegen die jede russische Kunstturnerin wirkte wie ein Fall für die Weight Watchers. Oder mein ganz besonderer Freund Jürgen Hingsen. Ein Zehnkämpfer, gesegnet mit Muskeln für eine ganze Busladung, aber mental nicht in der Lage, bei Olympischen Spielen einen 100-Meter-Lauf pünktlich zu beginnen – und das bei drei Versuchen. Eine Sportart, so glaubwürdig wie Mitternachts-Quizsendungen auf Nepp 5.
Schlimmer aber sind doch die Cracks vor Ort, denn diese kann man nicht einfach wegzappen. Schwer atmend machen sie wehrlose Wälder unsicher, hüllen sich in atmungsaktive Gewänder, in denen sie modetechnisch Mitte der Neunziger in Eisenhüttenstadt auch nicht weiter aufgefallen wären. Legen für schreiend buntes Plastikkram, das ihre zarten Füßchen vor Malaisen schützen soll, das Monatsgehalt eines rumänischen Facharbeiters hin. Ausgemergelte, lustfeindliche Gestalten, die kein Stück Schokolade mehr futtern dürfen, weil sie in dreieinhalb Monaten beim Halbmarathon von Bienenbüttel in der Altersklasse M55 unbedingt unter die ersten Drei kommen wollen.
Böse Vorurteile? Diese Sportskanonen nervten mich schon im Gymnasium. Der Sportlehrer scheuchte uns auf den Platz, brüllte: „Heute Weitsprung auf Noten!“, ohne auch nur ansatzweise auf die richtige Technik und auf den optimalen Anlauf einzugehen, geschweige denn, einen Sprung vorzuführen.
Ich rannte wie ein Wilder Richtung Grube, bekam auf halbem Weg fast einen Wadenkrampf, hob mit einem Seufzer ab, setzte zum Flug an und plumpste zirka eine Zehntelsekunde später in den Sand bei drei Meter irgendwas, während die Sportskanonen lässig Anlauf nahmen, kängurugleich abhoben und sich ihre Eins abholten, ohne auch nur eine Schweißperle zu vergießen.
Weitaus mehr habe ich 75-Meter-Läufe gehasst. So sehr, dass ich sie komplett aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Kein weiteres Wort also zu diesem Thema.
Ich schwamm lieber und feierte grandiose Erfolge bei den Meisterschaften des Schwimmkreises Gandersheim. Über „50 Brust Knaben“, diese Urkunde habe ich tatsächlich aufgehoben, wurde ich als Siebenjähriger in 1:21,9 Minuten auf Anhieb Jahrgangsmeister – es soll ein zweiter Knirps mitgeschwommen sein, weitere Unterlagen über dieses epochale Sportereignis in der Vor-Internetzeit liegen mir leider nicht mehr vor. Vielleicht war ich doch einziger Starter im Jahrgang 1964.
Ich zog zum Studieren nach Göttingen, wählte als drittes Fach trotz aller Demütigungen am Sonnenberg und auf dem Schulsportplatz Sport, drückte mich dabei aber, so weit es irgendwie ging, um Leichtathletik.
Vorm Schwimmtraining stand beim ASC Göttingen regelmäßig eine Laufrunde um den Kiessee an – wundersamerweise hatte ich zu dieser Zeit immer irgendeine Vorlesung zu besuchen. Ach ja, vielleicht hätte ich beim Göttinger Tageblatt gern volontiert – die Wahl des Chefs fiel aber auf eine stadtbekannte Leichtathletin. Da konnte ja nur ein Laufhasser aus mir werden. Der Hass hielt aber nur so lange, bis ich das Laufen wirklich, wirklich dringend nötig hatte.
Was wäre aus mir wohl ohne den Sportlehrer vom Sonnenberg geworden? Wahrscheinlich auch ein Läufer, aber ohne Jahrzehnte lange Umwege.