Читать книгу Häuptling Schlappschritt - Andreas Safft - Страница 9
ОглавлениеWie Ü90 an den Kasseler Bergen
Wie mich das kleine rothaarige Mädchen stehen ließ und meine weißen Laufschuhe ihre Unschuld verloren.
Elf Kilometer können verdammt lang sein. Vor allem, wenn man die Distanz zum ersten Mal an einem Stück läuft wie ich beim Schiffshebewerk-Volkslauf in Scharnebeck. Ungefähr fünf Minuten vor dem Start stellt sich die Sinnfrage verschärft. Der nächste Regenschauer geht nieder, der Südwestwind pfeift über den Sportplatz am Schulzentrum, der alles ist, nur nicht windgeschützt.
Ein paar dick eingemummte Kinder laufen zwei Sportplatzrunden. Einige werden von ihren Eltern angefeuert, einige gar begleitet – wie peinlich. Gut, dass meine Eltern knapp 200 Kilometer Luftlinie entfernt sind, wahrscheinlich gerade in aller Ruhe frühstücken und absolut nichts ahnen von meinen sportlichen Ambitionen.
In der Nacht zuvor habe ich kaum ein Auge zugetan. So nervös war ich zuletzt vor meiner Führerscheinprüfung. Und damals konnte ich wenigstens mit dem Auto fahren und musste mich nicht selbst bewegen. Zum Frühstück Kaffee wie üblich, um überhaupt wach zu werden. Wann bin ich das letzte Mal freiwillig sonntags vor acht Uhr aufgestanden? Aber darf ich Nervenwrack jetzt überhaupt Kaffee trinken, oder geht das schon zu sehr auf die Blase? Ob auch bei Volksläufen Dixi-Klos aufgestellt sind?
Ich habe bestimmt schon fünfmal meine Mütze auf- und wieder abgesetzt, meine Trainingsjacke an- und wieder ausgezogen. So viele Dehnübungen wie in der letzten halben Stunde schaffe ich sonst pro Monat. Anders formuliert: Ich bin nervös. Knapp 150 Frauen und Männer stellen sich auf. Jeder scheint genau zu wissen, wo er sich zu platzieren hat. Alle haben die landkreisinterne Hackordnung schon auf vielen Rennen ausgefochten. Ich aber bin das neue Hähnchen im Stall. Stelle ich mich zu weit vorn hin, werde ich wahrscheinlich auf den ersten zehn Metern gnadenlos niedergewalzt. Stelle ich mich brav hinten kurz vor den Walkern an, gebe ich mich ja schon kampflos mit Platz 120 bis 130 zufrieden. Nein, ich wähle ein Plätzchen mitten in der Mitte.
Ein Offizieller spricht. Ich höre nur „matschig“, „aufpassen“ und „vielen Dank auch an die Feuerwehr und das Rote Kreuz“. Fürs Einsammeln der Fußlahmen? Endlich der Startschuss. Innerhalb von zwei Sekunden bekomme ich drei Tritte in die Hacken, werde zweimal angerempelt – ich fühle mich wie ein holländischer Wohnwagenfahrer, der sich an den Kasseler Bergen auf die Überholspur verirrt hat. Und dabei haben wir den Sportplatz noch nicht einmal verlassen. Andere wollen gewinnen. Ich will durchkommen. Nicht Letzter werden. Mich von keinem Walker überholen lassen. Und wirklich niemals stehen bleiben.
Nach zwei Kilometern hat sich die Spreu vom Weizen getrennt. Ich bin eindeutig Spreu. Wenn ich nicht in der Altersklasse M40 laufen würde, sondern in der Gewichtsklasse Ü90, wären meine Chancen eindeutig besser. Ein Fall für die Anonymen Schweinshaxenfresser bin ich nicht gerade, aber rundherum machen nur Hungerhaken Dampf. Hätte ich mir die zwei Bananen vorm Start doch verkniffen.
Es geht auf kaum bis gar nicht befestigtem Weg quer durch die Feldmark. Der eiskalte Wind pfeift mir um die Ohren. Wie halten das einige Leute nur in kurzen Hosen oder Shirts aus? Das sind wohl die gleichen Zeitgenossen, die zu Neujahr ein Loch in einen See hacken und fröhlich lachend ins Wasser plumpsen. Allmählich spüre ich, warum ansonsten niemand eine Wollmütze trägt. Mir wird warm und wärmer im Oberstübchen. Die Ohren müssen mittlerweile so stark glühen, dass man mich auch als Leuchtturm an der Nordseeküste einsetzen kann.
„Das wird heute Hardcore“, hatte jemand vor dem Start geunkt. Kurz vor Nutzfelde weiß ich, was er gemeint hat. Schlamm, Modder, Pfützen. Zwei austrainiert wirkende Mädels passieren mich mit aufreizend lockerem Schritt. Die eine ist sehr bald außer Sicht, die andere bleibt ein paar Meter vor mir. Ich hefte mich wie Charlie Brown an die Fersen dieses kleinen rothaarigen Mädchens.
Kilometer fünfeinhalb, erste Verpflegungsstation. Im Laufen schnappe ich mir einen Becher Tee, zwei Drittel vom Getränk landen prompt auf meiner Jacke. Und das kleine rothaarige Mädchen setzt sich Meter um Meter ab, während einige ältere Herrschaften um mich herum schwächeln. Wie bin ich drauf? Die Beine machen halbwegs gut mit, der Atem hört sich schon etwas gequälter an. Jetzt bloß keine Seitenstiche.
Dann geht’s hoch zum Elbe-Seitenkanal. Ein paar Halbmarathon-Cracks, die schon die zweite Runde in Angriff nehmen, sind so unverschämt, sich fröhlich miteinander zu unterhalten, während sie an mir vorbeifliegen. Bei mir würde die Luft noch gerade für „Wasser!“ reichen. Das namensgebende Schiffshebewerk sehen wir nur aus großer Entfernung, denn schon geht’s wieder rein in das nächste Wäldchen.
Kilometer neun. Eine heimtückische Steigung voller Matsch – Typ Anstieg L’Alpe d’Huez bei Dauerregen – wartet. Meine ehemals weißen Schuhe sind eh mittlerweile dunkelbraun mit grünlichen Flecken, also renne ich hemmungslos mitten durch die Pampe. Ha! Der Kerl, der vor mir stehen bleibt und nach Luft japst, ist die beste Motivation, jetzt bloß nicht das gleiche zu tun.
Noch wenige hundert Meter. Jetzt geht es durch die Scharnebecker Außenbezirke zurück zum Sportplatz. Ausgerechnet hier steht unser Fotograf, der das Häuflein Elend, das ich zurzeit darstelle, für die morgige Ausgabe der Landeszeitung aufnehmen soll. Ich lege ein verzerrtes Grinsen auf. Den nach oben gereckten Daumen verkneife ich mir – allzu dreist möchte ich doch nicht lügen.
Eine letzte miese Steigung durch eine Wohnstraße. Das kleine rothaarige Mädchen ist so frech, das Tempo nochmals anzuziehen. Etwas warmen Applaus von einigen unentwegten Zuschauern kriege ich trotzdem noch ab. Danke fürs Mitleid. Ziel!
„Na, Sport machen ist doch anstrengender als über Sport schreiben“, begrüßt mich zirka 0,1 Sekunden nach meiner Ankunft Scharnebecks Vereinschef Ottfried Bitter mit spöttischem Grinsen. Wesentlich willkommener sind jetzt eine Decke und warmer Tee.
Ich habe es geschafft. Lächerliche 18:18 Minuten langsamer als der Gesamtsieger, aber immerhin 14:35 Minuten schneller als der schnellste Walker – so kann ich halbwegs erhobenen Hauptes in die Kantine des Schulzentrums humpeln. In der rechten Wade kneift’s. Doch ich habe keine Kraft, um auszulaufen. Amüsiert lausche ich viel lieber in der Aula, wie sich die Konkurrenz mit ihren Heldentaten brüstet. Angeber! Hoffentlich werde ich nie so zahlenversessen. 59 Minuten und 23 Sekunden können übrigens wirklich verdammt lang sein.
Am gleichen Wochenende, das lese ich später, hat der Kenianer Samuel Kamau Wanjiru für seinen Lauf in Den Haag 58:33 Minuten benötigt – Weltrekord im Halbmarathon. Meine Güte, der ist zehn Kilometer mehr als ich gelaufen und war trotzdem früher im Ziel. Aber in Den Haag gibt es bestimmt auch nicht so fiesen Schlamm auf der Strecke.