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Interview mit Holger Hübner und Thomas Jensen

Holger, Thomas – erst einmal herzlichen Glückwunsch zur 20. Auflage des Wacken:Open:Airs. Wenn ihr die letzten knapp zwei Dekaden Revue passieren lasst und euch in Erinnerung ruft, wie ihr eigentlich als ganz normale, unbedarfte Metal-Party-Organisatoren angefangen habt und aus dieser Wald-und-Wiesen Party das mittlerweile größte Heavy Metal-Festival der Welt geworden ist – was geht einem da durch den Kopf?

Thomas: Das Ganze ist für mich einigermaßen surreal: Einerseits scheinen die ersten Partys in der Kuhle gar nicht so weit zurückzuliegen. Andererseits hat die Veranstaltung Dimensionen angenommen, die wir uns nie im Leben hätten träumen lassen.

Holger: Es verblüfft uns, wie das Ganze gewachsen ist. Wir begannen ja tatsächlich erst einmal nur aus dem Spaß an der Freud, eine eigene Party aufzuziehen. Daraus entwuchs dann eine wechselvolle Geschichte: Es gab Perioden, da standen wir vor einem finanziellen Scherbenhaufen, mussten neu anfangen, haben einen Partner mit ins Boot geholt, der uns wieder zurückwarf, sodass wir erneut von vorne Anfangen mussten … Erst ab Ende der Neunziger ging es richtig nach vorne los: „Metal“ war wieder „back“, durch das neue Medium Internet offenbarte sich ein neues Promotion-Werkzeug, mit dem wir schnell auch rund um den Globus zum Inbegriff einer fanfreundlichen Party avancierten. Das motivierte uns wiederum, immer noch neue Höhepunkte zu suchen, die allerdings so langsam immer rarer werden nach 20 Jahren. Aber nun sind wir erst einmal beim Jubiläum angekommen. Natürlich sind wir froh, dass wir einigermaßen glimpflich die Tiefen überstanden haben, sind stolz auf das Erreichte – nämlich darauf, dass sich ein Hobby zu einem weltweit derart beachteten, professionellen Event mauserte. Trotz der vielen Nerven, die wir in all den Jahren lassen mussten: Wir sind glücklich, dass wir immer noch in der Lage sind, den Metalheads ein tolles Festivals unter dem Motto „Von Fans – für Fans!“ bieten zu können.

Als Aktivposten für das, was als Hobby begann, fungierten anfangs auch eure Kumpels von der Top-40-Band Skyline …

Holger: Richtig. Thomas spielte in dieser Band Bass, der Andy Göser, ein weiterer Aktivposten der frühen Tage, trommelte in dieser Band. Und ich fuhr zu manch ihrer Gigs mit und legte in ihren Spielpausen als DJ Platten auf – andere Kumpels reisten mit, um auf- und abzubauen und anschließend groß abzufeiern. Darüber hinaus düsten wir gemeinsam zu Konzerten nach Hamburg oder zu anderen Metal-Partys. Wir waren also schon damals eine eingeschworene Gemeinschaft vieler musikbegeisterter Metalheads, die versucht hatten, Partys zu zelebrieren, wo es nur ging. Irgendwann kam dann die Idee auf, selber mal etwas auf die Beine zu stellen, zumal wir hier gleich am Dorfrand über ein wunderschönes Gelände verfügten. Darüber hinaus besaßen wir viele Kontakte zu Kumpels, die unsere Leidenschaft für den Heavy Metal vielleicht nicht in dem Maße teilten, die uns aber gerne unterstützten in dem Bestreben, im eigenen Dorf selbst Aktivitäten zu organisieren. Als die Idee dann konkreter wurde, sagten wir uns: „Okay, eine Band haben wir schon fürs Billing: Skyline! Die brauchen gar nicht erst groß anreisen!“ Alles Weitere ergab sich dann peu à peu und „learning by doing“ …

Thomas: Das war schon fast ein Dominoprinzip. Denn bereits in den Achtzigern dürstete es uns nach Metal-Partys. Nur: Hier in der ländlichen Gegend passierte diesbezüglich fast gar nichts. Bei den Dorf-Discos am Wochenende konntest Du froh sein, wenn punkt Mitternacht mal ‚Smoke On The Water‘ oder ‚Black Betty‘ von Ram Jam gespielt wurde. Maximal noch ‚Child In Time‘ für die Mädchen zum Schmusen … Deswegen mieteten wir von Skyline eben mal selbst Gasthöfe an, zogen unsere eigenen Feten durch: Wir zockten das Greatest-Hits-Programm runter, Holger legte als DJ auf. Und irgendwann fragten wir uns, ob wir das alles nicht auch mal etwas größer aufziehen könnten – so Open-Air-mäßig wie die Biker, die dort in der Kuhle regelmäßig abrockten.

Wobei ihr bereits bei euren ersten Veranstaltungen dem Wahnsinn mit Methode gefrönt habt: Es wurde aufgefahren, dass selbst so manch verpflichtetem etabliertem Act in den Jahren 1992/93/94 die Augen herausgequollen sind ob der exzellenten Technik, die ihr dort zu stehen hattet!

Thomas: Ich wusste ja selbst nur zu gut, was sich Musiker wünschen: Die wollen auf einer möglichst großen Bühne unter möglichst viel Licht stehen und über eine möglichst laute Anlage spielen!

Holger: Selbstverständlich wollten wir das von Anfang an auf so professionelle Füße stellen wie nur möglich. Und da unterstützten uns dann auch unsere Freunde sehr stark. Der Firma Zeltbau Landsberger, die übrigens immer noch als Ausrüster des Festivals mit dabei ist, schwatzten wir zum Beispiel die Giebel und Überdachungen für die erste Konstruktion ab: „He, Manni – wir brauchen da mal was. Aber ob wir dich dafür bezahlen können, wissen wir noch gar nicht!“ Einer örtlichen Spedition, die Spedition Lagerpusch, leierten wir auf dieselbe Weise einen Trailer aus dem Kreuz, auf den wir die Boxen platzierten – diese Firma unterstützt uns bis heute, indem wir dort einen Großteil unserer Trailer parken dürfen. So zog sich das wie ein roter Faden durch alle Bereiche – jeder ließ seine Kontakte spielen und haute seine Kumpels an.

Thomas: Andy und ich wiederum sind zu der Firma City-Sounds gepilgert und baten die Jungs, uns mal was Tolles hinzustellen. Der Nächste rückte dann mit 150 statt mit 100 Lampen an. Im dritten Jahr meinte Uli Thiessen, der noch heute als Toningenieur für uns tätig ist: „Na, heuer könnt ihr endlich mal das bezahlen, was wir euch da so alles hinstellen!“ Also klapperte ich, der in seiner Spielpause hinter dem Tresen Bier ausschenkte, die Getränkestände ab, machte Kasse und drückte Uli dann das Geld in die Hand – in Fünf-Mark-Stücken! In den ersten Jahren betätigten wir uns alle als Allrounder: Gitarrentechniker, Drum-Roadie, Mischpult – es gab nichts, was ich nicht mal irgendwann bediente, obwohl ich von vielem kaum Ahnung hatte. Irgendwann hatte ich sogar mal für die Jungs von Overkill Chili con Carne gekocht. Und als Ordner fungierte ich auch mal. Obwohl: Da bin ich dann meistens weggelaufen, wenn es ernst wurde!

Holger: Auch auf- und abgebaut hatten wir meistens alles selbst. Und das machte in den ersten Jahren am meisten Spaß, denn dabei wurde schon ordentlich vor- und nachgefeiert. Das war halt ein großes Happening – eins, das natürlich in dieser naiv-unbekümmerten Art heutzutage nicht mehr möglich ist.

Thomas: Bis einschließlich 1993 funktionierte die gesamte Organisation auf ehrenamtlicher Basis. Das hatte aber zur Folge, dass sich dann auch jeder abseilte, sobald er keine Lust mehr hatte: Der eine wollte mit seinen Kumpels einen saufen, der nächste war zu müde und ging einfach nach Hause …

Kam euch in dem Bemühen, ein eigenes Event auf die Beine zu stellen, auch mit zu Gute, dass der traditionelle Heavy Metal ab Anfang der Neunziger von der Industrie zunehmend vernachlässigt wurde und ihr letztlich die einzigen Freaks gewesen seid, die Gleichgesinnten noch „ihre“ Mucke boten?

Holger: Ich würde eher sagen, dass wir schon frühzeitig versucht haben, uns vom Mainstream abzusetzen. Bon Jovi, Van Halen oder sogar noch Metallica – also das, was damals noch wahlweise unter „Stadion Rock“ oder „Pussy Rock“ rangierte: Dem setzten wir solch exklusive Sachen wie eben Fates Warning, Tiamat oder die U.K. Subs in unserem Aufgebot entgegen. Solche Bands „passierten“ sonst nirgends – es gab höchstens noch die eintägigen „Summer Metal Meeting“, und das war’s! Dementsprechend konzentrierten wir uns dann spätestens nach unserer ersten Umorientierung ab Anfang 1994 ausschließlich auf die Metal-Szene, nachdem wir in den Jahren zuvor versuchten, die Biker mit in unsere Aktivitäten einzubinden – ein Schuss, der aufgrund der unterschiedlichen Interessenslagen gehörig nach hinten losging. Dieses Setzen der Prioritäten beim Metal zahlte sich spätestens 1996 aus, als wir mit den Böhsen Onkelz erstmals die 10.000-Zuschauer-Marke knackten. Dass in der Folge das Wacken:Open:Air verstärkt an Popularität gewann, hängt auch damit zusammen, dass wir schon frühzeitig die Werbewirksamkeit des neuen Mediums Internet erkannten und nutzten, denn zu der Zeit gab es eben außer dem Rock Hard und dem Metal Hammer keine weiteren relevanten Magazine für dieses Genre.

Nicht zu vergessen einschlägige Musiksender, die zu der Zeit – noch – einigermaßen regelmäßig Metal-Sendungen durch den Äther jagten …

Holger: Ja, VIVA-Metalla mit Adam Turtle und Mosh/Tele5 – eine Sendereihe, die Rock-Hard-Chefredakteur Götz Kühnemund und Sabina Classen moderierten – existierten zumindest Anfang der Neunziger noch, wurden dann aber nach und nach eingestellt. Wie gesagt: Wir – und auch das Gros der Metalheads – erkannten dann frühzeitig die Möglichkeiten, die das gerade im Entstehen begriffene WorldWideWeb bietet. Dementsprechend wurden zunehmend Metal-Communitys aus dem Ausland auf Wacken aufmerksam.

Und es sprach sich dementsprechend schnell herum, dass das Festival nicht nur hinsichtlich des Billings Qualität bietet, sondern auch mit dem gesamten Ambiente drum herum fanfreundlich ausgerichtet ist und solch attraktive Nebenschauplätze wie Metal-Market, Biergarten oder eben die berühmte Fan-Meile auf der Hauptstraße im Dorf bietet. Gerade Letztere – und auch das sprach sich schnell herum – findet man so wohl nirgends in der Welt: Nämlich dass die Dorfbevölkerung die Fans freundlich aufnimmt und sich jedes Jahr erneut darauf freut, mit ihnen im Dorf, auf der Fan-Meile oder in den eigenen Vorgärten zu feiern.

Wie habt ihr es überhaupt geschafft, die Dorfbevölkerung auf eure Seite zu ziehen? Eigentlich sollte man meinen, dass gerade in einer beschaulich-ländlichen Idylle wie Wacken erst einmal jeder Einwohner lärmenden Heavies und den viel zitierten „langhaarigen Bombenlegern“ gegenüber negativ eingestellt ist!

Holger: Bereits in den ersten Jahren waren ja schon viele unserer Kumpels in die Organisation involviert, hatten sich gefreut, dass mal was anderes in Wacken los war als die üblichen Dorffeste. Der Rest nahm unser Tun dort in der Kuhle schlichtweg kaum wahr – die wurden erst 1996 so richtig hellhörig, als 10.000 Metalheads das Dorf überrannten und sich ein kilometerlanger Stau auf der Hauptstraße bildete. Stau – das kannte man bis dato in Wacken ja gar nicht! Da fragten sich dann alle: „Oh? Was geht denn hier ab? Ach so! Wacken:Open:Air!“

Thomas: Allerdings gab es schon zur Jahreswende 1995/96 einige kontroverse Diskussionen innerhalb der Dorfgemeinschaft: Der Sohn eines Bauern hörte Heavy Metal, und dem Mann war das gar nicht recht. Der glaubte voll an jene Vorurteile, wie sie damals kursierten: Satanismus, und so … Also luden wir die Leute ein, mal in der Kuhle vorbeizuschauen und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass wir einfach nur Party feiern – und eben nicht Friedhöfe umgraben! Als Anfang Juli 1996 die Onkelz als Headliner bestätigt worden sind, hatten wir noch ein weiteres schönes Argument, das wir ins Feld führen konnten: „Kommt vorbei – da gibt’s deutschsprachige Stimmungsmusik! Das wäre doch sogar etwas für euch!“ Nicht gerechnet hatten wir dann allerdings mit dem Publikumsandrang. Wir hofften zwar auf 6.000 Besucher – dass aber knapp das Doppelte daraus wurde, überraschte uns selbst. Verstimmungen gab es hinterher nur wegen der Verschmutzungen im Dorf – mit der Musik hatte kaum jemand Probleme. Im Gegenteil: Viele Dorfbewohner erkannten, dass sich dazu recht gut mitfeiern lässt. Und hinsichtlich der Müllproblematik handelten wir ja auch in den Folgejahren konsequent.

Holger: Ab Ende der Neunziger installierten wir den Biergarten, luden zudem weiterhin die Dorfbevölkerung ein, sich einen Tag ihrer Wahl lang bei freiem Eintritt auf dem Festivalgelände umzusehen. Zudem engagierten wir uns im sozialen Bereich, spendeten für den Kindergarten, die Schule, den Sportverein oder das Schwimmbad. Allerdings vermieden wir, daraus ein Politikum, das Heavy Metal ja in vieler Leute Augen nach wie vor darstellte, zu machen.

Denn dann gibt es automatisch ein Pro und ein Kontra. Und wie will man jemandem, der der Materie argwöhnisch gegenüberstehen, erklären, was Heavy Metal eigentlich ist? Das geht gar nicht! Stattdessen versuchten wir von Anfang an Überzeugungsarbeit dahingehend zu leisten, dass wir uns etwas aufbauen, an dem auch die Dorfbevölkerung erfolgreich partizipieren kann. Dies passierte schließlich auch so: Das Dorf kam zunehmend auf uns zu. Erst, um sich zu informieren, dann – nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass dies doch eigentlich eine schöne Sache ist – um selbst dabei zu sein. So wuchs das alles quasi von selbst zu dieser Fan-Meile im Dorf, diesem riesigen Happening. Nicht, weil wir sie quasi dazu bedrängt haben, sondern weil sie es von sich aus toll finden, weil sie selbst ihre eigenen – positiven – Erfahrungen gesammelt haben.

Woraus sich – wohl gemerkt: von selbst – diese einmalige „Wacken-Magie“ entwickelte …

Holger: Eben! Ich kann ja nicht die Leute nach Wacken schleifen und ihnen eintrichtern, wie toll das alles hier ist. Denn Wacken – das sind nicht nur die Künstler und das Drumherum. Wacken – das sind die Metalheads, die hierher kommen, um vor der Bühne abzurocken. Wacken – das sind auch die Dorfbewohner, die ihren Gästen eine tolle Atmosphäre bieten! Und zu guter Letzt: Wacken – das ist kein Festival für Gott und die Welt, sondern eine einzigartige Party, bei der sich die internationale Metal-Community austoben, ihren Metal-Lifestyle unbedarft zelebrieren und ausleben sowie sich selbst feiern kann!

Nach den ersten unbedarften Partys 1990/91 sowie nach dem ersten „richtigen“ Wacken:Open:Air 1992 kreisten verstärkt Gedanken der Art durch eure Köpfe: „Cool, wenn man mal eines Tages gänzlich davon leben könnte!“

Holger: Zu der Zeit träumten wir alle sicherlich irgendwie davon. Da wir aber noch unseren regulären Jobs nachgingen, konnten wir uns alleine aus Zeitgründen nicht rein professionell auf das Festival konzentrieren. Damit man ein Jahr lang davon leben kann, muss man auch das gesamte Jahr über aktiv sein. Wir versuchten deshalb ab 1993, uns zum Beispiel als Konzertveranstalter zu profilieren: Dio, Motörhead, und so weiter. Doch selbst für professionelle Konzertveranstalter ist jedes Live-Event ein riskantes Unternehmen mit unkalkulierbarem Ausgang. Wir stürzten uns aber als Quereinsteiger in diese Abenteuer – und ließen dementsprechend in finanzieller Hinsicht mächtig Federn.

Thomas: Anfangs funktionierte das ja recht gut – da spielten ja auch noch die Banken ohne Bedenken mit. Wir sind zur Sparkasse gelatscht und haben gesagt: „Günter, wir können günstig Saxon buchen und brauchen mal eben schnell einen Kredit von 25.000 Mark!“

Heute würde niemand so ohne weiteres entgegnen: „Ja, kommt mal vorbei, das können wir sicher irgendwie stemmen!“ Heute wäre dergleichen unvorstellbar … Und wir wären damals ja auch ziemlich gut aus der Nummer herausgekommen, wenn wir nicht auf den Rat der Security reingefallen wären, für den zweiten Tag noch mehr Ordner zu buchen, die uns eine Höllenkohle kosteten. Das versuchten wir mit weiteren Konzerten Ende 1992 und im Folgejahr wieder einzuspielen. Doch stattdessen gerieten wir immer weiter in die Schieflage … Und Ende 1993 klopfte die Bank an die Tür: „Jungs, wollt ihr nicht mal langsam euren Kredit zurückzahlen?“

Was in dem finanziellen Desaster kurz vor Weihnachten 1993 gipfelte …

Holger: Da kam alles zusammen: Thomas Mutter ist gerade verstorben, ich hatte am 13. Dezember einen schweren Autounfall, und in der Kasse gähnte ein Loch von etwa 350.000 Mark Miesen. Wir standen tatsächlich vor der Entscheidungsfrage: Entweder aufgeben oder Ärmel hochkrempeln, Gas geben, das Ganze noch einmal von vorne beginnen – dann aber professionell und richtig! Und lieber einmal mehr nachdenken, bevor man etwas in Angriff nimmt! Rückblickend betrachtet würde ich die Zeit bis Ende 1993 beziehungsweise Anfang 1994 als unsere „Findungsphase“ bezeichnen. Leider sind wir dann erst einmal letztlich nur noch zu zweit gewesen, weil unsere anderen Mitstreiter ausgestiegen sind – da mussten wir dann noch mehr „finden“ … Und klar: Wer viel arbeitet, hat auch viele Gelegenheiten, Fehler zu machen. Wir haben aber immer versucht, aus unseren Fehlern zu lernen und diese nicht ein zweites Mal zu begehen. Dass wir in der Folge durch falsche Partner noch einmal von vorne anfangen mussten – okay, so was passiert auch abgebrühten Profis.

Wobei sich 1996 ausgerechnet die – damals immer noch umstrittenen, kontrovers diskutierten, polarisierenden – Böhsen Onkelz als der Wendepunkt zum Guten für euch erwiesen …

Holger: Auf ganzer Linie! Wobei wir uns vorher gründlich über ihre Vergangenheit, aber auch über ihre gegenwärtige Haltung informiert hatten und zu dem Schluss gekommen sind, dass eine Zusammenarbeit mit dieser Band für uns unproblematisch sei, zumal sie sich unter anderem mit ihrer Teilnahme an Festivals wie „Rock gegen Rechts“ – für uns hundertprozentig glaubhaft – von ihren Jugendsünden eindeutig distanziert hatte. Dementsprechend bemühten wir uns schon 1995, sie für das W:O:A zu buchen, was leider nicht klappte, da sie gerade ihre eigenes Festival absolvierten.

Und der damalige Tourmanager der Böhsen Onkelz, Thomas Hess, blieb praktisch gleich bei euch in Wacken „kleben“.

Holger: Ja, ab 1997 unterstützte er uns dabei, die Strukturen aufzubauen – insbesondere hinsichtlich der Security. Bis dato arbeiteten wir meistens mit Bikern zusammen, was sich spätestens mit dem immensen Wachsen des Festivals als nicht mehr optimal erwiesen hat.

Außerdem erfolgte 1997 der Umzug auf die gegenüberliegende Straßenseite: Auf der Koppel von Uwe Trede stehen seitdem und bis in die heutigen Tage die Hauptbühnen – Schritt für Schritt wurden darüber hinaus immer mehr umliegende Ackerflächen als Campingplätze dazugepachtet.

Holger: Genau! Nach der Veranstaltung mit den Onkelz 1996 hatten wir mit der Gemeinde etwas Stress: die Staus und die Müllberge fanden die nicht so lustig – daraus entstand ein riesiges Politikum. Dann kam da noch jemand mit Schweisser-Texten an und behauptete, das wäre eine diabolische Band … Wir haben uns aus dieser Geschichte mit dem Argument herausgehalten, dass wir ja eigentlich nur ein Musikfestival organisieren und uns nicht vor irgendwelche parteipolitische Karren spannen lassen wollen. Letztlich entschied man sich mehrheitlich dafür, uns die Kuhle nicht mehr zur Verfügung zu stellen – mit der bis heute bekannten Konsequenz.

Thomas: Was sich rückblickend als Glücksfall erwiesen hat, denn ohne den Umzug hätten wir nie und nimmer expandieren können. So waren wir gezwungen, uns Ausweichterritorien zu suchen. Flächen, die die Basis bilden für das W:O:A in der heutigen Form.

Holger: Zwei Jahre später glätteten sich die Wogen wieder einigermaßen, und die Gemeinde hat seitdem nichts dagegen, dass wir auch die Kuhle wieder benutzen. Inzwischen installieren wir dort das Künstlerdorf und die Zentrale der Produktion.

1999, nachdem ihr euch von eurem letzten defizitären Partner getrennt habt, der euch erneut in die roten Zahlen gerissen hat, erfolgte zudem eine neuerliche Umstrukturierung eurer Firma.

Holger: Korrekt. Wobei uns hier maßgeblich Thomas spätere Frau Sheree Hesse half: Sie stieg quasi als dritter, gleichberechtigter Partner in unsere Firma mit ein, und ihr haben wir es zu verdanken, dass wir in Dörpstedt eine neue, geräumige Firmenzentrale beziehen konnten. Außerdem gründeten wir unser eigenes, autarkes Ticketvorverkaufssystem MetalTix als eigenständige Unterfirma. Hervorgegangen ist diese im Prinzip aus dem Vorverkaufsbüro, das bis dato die Mutter von Andy Göser führte. In dem Zuge, indem wir aber jetzt auch den Ticketvorverkauf des Open Airs in die eigenen organisatorischen Hände legten, gingen wir aber auch auf andere Tourneeveranstalter und lokale Promoter zu, ob wir nicht gleich Tickets für ihre Gastspielreisen oder Konzerte mit verkaufen könnten – was sich bis in die heutigen Tage sehr gut entwickelte.

Thomas: Und in dem Zuge, in dem wir regelmäßig Bands wie Saxon oder Motörhead für das Festival buchten, entwickelte sich auch zu den Künstlern ein besonderes Vertrauensverhältnis, so dass zwangsläufig Fragen wie diese aufkamen: „Wollt ihr nicht auch gleich unsere reguläre Tour buchen?“ Oder: „Wie wär’s, wenn ihr gleich Management-Aufgaben mit übernehmt?“ Genau für diese Arbeitsbereiche ist unsere Unterfirma ICS zuständig.

Nicht zu vergessen das Plattenlabel „Wacken Records“, das aus Armageddon Music hervorgegangen ist …

Holger: Wobei diesem Label ursprünglich eine andere Idee zugrunde lag: Spätestens in dem Maße, als es auf die Jahrzausendwende zuging, fingen wir an, auch verstärkt die Open Airs zu filmen. Zur Vermarktung dieser Aufnahmen – also der Videos beziehungsweise DVDs – gründeten wir Armageddon Music. Das verselbstständigte sich in gewisser Weise – und nicht zuletzt, weil wir den Gewinnern für unseren Nachwuchswettbewerb „Metal Battle“ einen Plattenvertrag ausschrieben, nahm die Geschichte eine Eigendynamik an, die jetzt eben in dem Label gipfelte.

Außerdem konnte nach der Millenniumswende – als abzusehen war, dass sich sowohl das neue Gelände als auch die neuen Strukturen bewähren – endlich auch ein weiterer Ausbau der Infrastruktur forciert werden.

Thomas: Und all die Maßnahmen greifen zunehmend. So gaben wir auf Anregung der Polizeidirektion Itzehoe nach dem W:O:A 2007 bei einem professionellen Verkehrs- und Veranstaltungsmanager ein völlig neues Verkehrskonzept in Auftrag, das anno 2008 brillant griff: Dadurch – und durch den neu errichteten Busparkplatz – konnte der Verkehrsfluss unmittelbar vor dem Festivalgelände während der An- und der Abreise erhöht werden. Es gab jedenfalls kaum noch Staus. Außerdem investierten wir im letzten Jahr etwa eineinhalb Millionen Euro in ein Drainage- und Entwässerungssystem des In-Fields, um auch bei Schlechtwetterlagen wie 2002 und 2007 eine möglichst schnelle Trocknung des Platzes zu gewährleisten. Doch solche Investitionen konnten erst in Angriff genommen werden, nachdem klar wurde, wo die Reise mit dem Festival hingeht.

Und wohin? Der derzeitige Bürgermeister von Wacken zum Beispiel hätte – einen weiteren Ausbau der Verkehrs- und Infrastruktur vorausgesetzt – nichts dagegen, wenn das Festival noch größere Dimensionen annehmen und auf vielleicht 120.000 Teilnehmer aufgestockt werden würde. Das gäbe zumindest die derzeitige Kartennachfrage her, denn immerhin ist das W:O:A zum dritten Mal in Folge ausverkauft – in diesem Jahr bereits sieben Monate im Voraus …

Thomas: Bei solchen Diskussionen zitiere ich immer das Dynamo Open Air in Eindhoven als warnendes Beispiel heran: Das hat sich förmlich „kaputt gewachsen“. Und wie schon richtig erwähnt, müssten bei einem weiteren Expandieren der Veranstaltung weitere Investitionen in die Verkehrs- und Infrastruktur vorgenommen werden, denn die gegenwärtigen Dimensionen können einen noch größeren Besucherzustrom nicht verkraften. Deswegen haben wir uns für einen anderen Weg entschieden: Statt immer mehr Fans nach Wacken zu holen, exportieren wir den Geist des Festivals vor ihre Haustür. Zum Beispiel mit den „Wacken Rocks“-Ablegern Ende August – „Wacken Southside“ im bayerischen Kreuth, „Wacken Seaside“ in Aurich und „Wacken Berlin“. Außerdem sehen wir uns gegenwärtig nach verlässlichen Partnern um, die in Kooperation mit uns ein derartiges Festival meinetwegen in Brasilien, vielleicht in Nordamerika, vielleicht auch irgendwo in Asien organisieren.

Holger: Die Suche nach solchen Partnern erfordert sehr viel Umsicht, schließlich wollen wir den exzellenten Ruf des Festivals nicht beschädigen oder gar erneut vor einem Scherbenhaufen stehen wie Ende 1993 beziehungsweise 1999. Die Metalheads können sich also auch in Zukunft darauf verlassen, dass ihnen dort, wo „Wacken“ draufsteht, auch die gewohnte Wacken-Qualität zu einem möglichst günstigen Preis geboten wird. Das betrifft sowohl den Service als auch das Billing des Festivals, das nach wie vor die gewohnte Mischung aus traditionellen und modernen Bands, aus Newcomern und etablierten Acts, aus Specials und Reunion bieten wird.

In diesem Sinne: Wacken Roll!


Holger Hübner als DJ.


Fans mit der kanadischen Flagge.


Stau in Bokelrehm, einem „Vorort“ von Wacken. © Peter Stürck


Mit diesem Bändchen haben die Bürger der Gemeinde Wacken freien Eintritt.


Fans mit Banner: „Heavy Metal Is The Law“.


Saxon live.


Campingplatz in Wacken.


Thomas Jensen (rechts) mit Janick Gers von Iron Maiden. © Ralph Larmann


Historisch: Die Wacken-Crew der ersten Jahre mit den Veranstaltern Thomas Jensen und Holger Hübner (hintere Reihe, 2. und 1. von rechts). © Christine Besser


Die Mitarbeiter ICS Netzwerk (Auszug) stehend v.l.n.r.: Jens Lindemann (Merchandising/Ticketing), Oliver Teschner (Ticketing/Merchandising), Kai Michelmann (Booking), Radek Rybicki (Lager), Helge Rudolph (Webmaster), Yong-Jae Cha (IT-Specialist), Sven Dechau (Ticketing/Merchandising), Lothar Hesse (Lager), Stefan Kempe (Site-Coordination), Norbert Jasper (Meet-Greet), Nick Hüper (IT-Coordinator), Stefan Seibold (Praktikant), Enno Heymann (Verlag), Thomas Kreidner (Booking), Miriam Hensel (Booking), Pietsch Rybicki (Ticketing). Sitzend v.l.n.r.: Britta Kock (Presse/Promotion), Anna Ladewig (Azubi/Booking), Sünje Hansen (Ticketing/Merchandising), Katrin Feldhusen (Accounting/Assistentin der GF), Inken Arff (Ticketing/Merchandising), Stefanie Bornhoeft (Buchhaltung). © ICS

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