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1990–1994: Wie alles begann

Wie immer in solchen Fällen: Am Anfang gab es diesen Geistesblitz – manche würden rückblickend von einer „Stammtischidee“ sprechen, die sich dann aus unerfindlichen Gründen verselbstständigte und zu etwas Großen heranwuchs.

In diesem Fall haben einige von der Rockmusik begeisterte Jungs den Einfall, in ihrer von den meisten internationalen Acts konsequent bis rigoros gemiedenen schleswig-holsteinischen Heimat, dem Kreis Steinburg, über die organisierten Busreisen zu Konzerten in Hamburg, Bremen oder Hannover hinaus selbst etwas auf die Beine zu stellen. Ihre Namen: Thomas Jensen und Holger Hübner.

Ersterer ist selbst aktiver Musiker, zupft den Bass in der Cover-Combo Skyline, besitzt somit Erfahrungen im Bereich der Bühnentechnik, aber auch wertvolle Kontakte zu lokalen und überregionalen Veranstaltern und Tour-Promoter.

Letzterer betätigt sich oft als Rock- und Metal-DJ, verfügt dementsprechend über das sichere Gespür dafür, welche Trends gerade im Kommen sind und welche nicht. Beide kennen sich seit Jugendjahren, spielten zusammen Fußball beim TSV Wacken. Hübner begleitet in seiner Eigenschaft als Discjockey die Band seines Kumpels Thomas oft auf Gigs. Und während eines gemeinsamen Kneipenbesuchs, wird eines Abends im Spätherbst 1989 hemmungslos drauflos fantasiert: „Wie wär’s, wenn wir eine Rock-Party nicht mal in geschlossenen Räumlichkeiten durchziehen, sondern draußen?“ Zum Beispiel in jener Kuhle, die der lokale Motorradverein ‚No Mercys‘ für seine Treffen und Partys mit bis zu 3.000 Gästen nutzte und die sich somit ideal als erprobte Kampfesstätte anbot?

Und während in erster Linie die Skyline-Rhythmussektion – Bassist Thomas Jensen und Schlagwerker Andreas Göser, aber auch Thomas Bruder Jörg – begeistert von dieser Idee sind und die Initiative ergreifen, zieht Holger anfangs nur zögerlich, dann aber schnell hochgradig begeistert mit. Es ist auch Thomas, der dem soeben beschlossenen Unternehmen einen dezent professionellen Touch verliert, indem er den bis in die heutigen Tage gültigen Firmennamen fast schon im ureigenen Wortsinn in Stein meißelt: „Stone Castle Rock Promotion“ – wobei „Stone“ und „Castle“ der Eins-zu-eins-Übersetzung von „Steinburg“ (jenem Verwaltungsbezirk, in den auch die Gemeinde Wacken eingegliedert ist) entspringen.

Über zwei Dinge ist sich das Quartett von Anfang an einig: Wenn sie selbst ein eigenes Freiluft-Event auf die Beine stellen, dann „nur konsequent im harten Bereich“. Denn „musikalische Gemischtwarenhandlungen gab es Anfang der Neunziger bereits zur Genüge – zum Beispiel das Open Air ganz in der Nähe in Jübek. Außerdem wolle man so gleichzeitig versuchen, die Biker für die Idee eines Open Airs zu begeistern, sie zumindest zum Mitfeiern zu bewegen, so dass ein reger Publikumszuspruch garantiert wäre. Und zweitens: „Uns ärgerte, dass die großen Rock-Festivals in Deutschland – die berühmten ‚Monsters of Rock‘ in den Achtziger Jahren beziehungsweise später das ‚Super Rock‘ in Mannheim – immer nur als eintägige Events durchgeführt wurden. Meistens reiste man da einen Tag vorher im Auto an und übernachtete in selbigem, weil das Programm ja bereits um 12 Uhr mittags begann und man auch nicht einen einzigen Ton verpassen wollte. Und nach dem Schlussakkord legte man sich zum Ausnüchtern wieder ins Auto und schlug sich dort eine weitere Nacht um die Ohren. Deswegen war für uns klar: Wenn wir eine eigene Veranstaltung aus der Taufe heben wollen, dann mit entsprechendem Service, wie in Skandinavien bereits Usus – sprich: mit Camping- und Übernachtungsmöglichkeiten quasi direkt vor der Bühne!“

1990

Als Gelände bietet sich nach wie vor besagte Kieskuhle an, die heute den allerheiligsten Backstage-Bereich – das so genannte „Artist Village“ – beherbergt: Aufgrund der festen Bodenstruktur sind dort teure Unterbauten für die Bühne überflüssig. Äußerst praktisch zudem: Diese Kuhle dient nicht nur als „Veranstaltungszentrum“, sondern gleichzeitig auch als Park- und Campingplatz. 3-in-1, sozusagen.

Folglich muss nur noch ein geeigneter Termin gefunden werden. Da in den anvisierten Monaten Juni und Juli europaweit bereits Festivals satt den Terminkalender ausfüllen, bleibt nur der ungünstige August als Alternative. „Ungünstig“ deshalb, weil zumindest in den achtziger und neunziger Jahren sämtliche Agenturen ihre Bands in diesen beiden Monaten auf Tour schickten, um so die Chance zu erhöhen, ohne großen logistischen Aufwand in so manches Billing der etablierten Events rutschen zu können. Ab August hingegen herrscht auch im Rock-Business in der Regel das viel beschworene Sommerloch und somit Pause. (Wie sich die Zeiten ändern: Inzwischen mauserten sich die ersten August-Tage deswegen zum Kassenknüller, weil es so ziemlich das einzige Wochenende ist, an dem sich die Bürger aller Bundesländern trotz Staffelung meistens gleichzeitig an den Ferien erfreuen.)

Das Billing steht recht schnell. Thomas Jensen trumpft mit seiner Cover-Kapelle Skyline auf, durch seine Kontakte können noch weitere Acts für die Teilnahme am 1. Wacken:Open:Air begeistert werden wie zum Beispiel die in Metaller-Kreisen hoch geschätzten Wizzard, die besonders im Großraum Hamburg über eine treue Anhängerschaft verfügenden 5th Avenue sowie Axe’n Sex, Motoslug und Sacret Season.

Die Organisation wird – ebenfalls kostensparend – möglichst über Freunde und private Kontakte abgewickelt, wie Holger erzählt: „Von einem Zeltbauer liehen wir uns die Giebel, stellten sie selbst auf, während wir uns von der Spedition Lagerpusch um die Ecke einen Trailer mieteten, auf dem wir praktisch die gesamte PA installierten. Strom holten wir uns per Verlängerungsschnüre vom nächstgelegenen Hof.“ Als sanitäre Einrichtungen dienen ein Toilettenwagen und zehn auf dem Gelände aufgestellte Dixi-Kabinen – die „Security“ besteht im Wesentlichen aus zwei Kumpels vom örtlichen Biker-Club, deren Job sich auf die Kartenkontrolle am Einlass sowie auf das lockere Schlendern über den Platz, grimmig Schauen und Mitfeiern beschränkt.

Und so wird am Freitag, den 24. August 1990, um 19 Uhr vor etwa 800 Metalheads der Auftakt vollzogen zu einer geschichtsträchtigen Veranstaltung, von der niemand der in der Kuhle Stehenden auch nur ansatzweise ahnt, wie sehr damit die Metal-Szene weltweit revolutioniert werden soll. Denn an jenem Freitag steht nur eins im Vordergrund: der Party-Spaß bei lauter Musik und Delirium verheißenden Getränken …

In den Spielpausen und während der Bühnenumbauten legt DJ Hübi heiße Scheiben auf – etwa 500 Gäste „feiern Heavy Metal“ bis Ultimo und rund um die Uhr. Zum sonntagmorgendlichen Aufräumen und Müllsammeln torkelt jeder, der sich nach dem Besäufnis der letzten Nacht wieder einigermaßen auf den Hinterhufen halten kann. Bereits zu diesem Zeitpunkt – und während der After-Show-Party in den Räumlichkeiten des Motorradsportclubs Vaale – kursieren Fantastereien, was man denn in zwölf Monaten so alles auf die Beine stellen würde. Und da die Mentoren des Festivals finanziell nicht drauflegen müssen, nahezu plus/minus Null bilanzieren, steht tatsächlich rasch fest: Auch im nächsten Jahr gibt es wieder ein Wacken:Open:Air. Denn auch von der Nachbarschaft und aus dem Dorf gab es keinerlei Beschwerden, die eine Neuauflage des Events eventuell verhindert hätten. „Eigentlich teilte sich die Dorfbevölkerung in zwei Lager“, gibt Holger Hübner zu Protokoll. „Diejenigen, die mit uns mitfeierten – und diejenigen, die das alles nicht interessierte. Erst als 1996 im Zuge der Onkelz-Show Wacken einem unverhofften Massenansturm ausgesetzt war, wurden sie hellhörig und nahmen Notiz von unserem Treiben dort in der Kuhle – und setzten die kontroversen Diskussionen ein, ob man denn das alles so noch einmal bräuchte …“

1991

So improvisiert, wie vor zwölf Monaten alles begann, wurde nun auch die zweite Auflage der großen Sause in der Kuhle in Angriff genommen. Fest stand nur eins: Thomas Band Skyline würde – natürlich – dort erneut aufspielen.

Allerdings werden bereits in den ersten beiden Jahren, als das Wacken:Open:Air noch den Charakter einer (O-Ton Thomas Jensen) „Gartenparty“ besitzt, bis in die Gegenwart gültige Weichenstellungen vorgenommen: Das auf harte, extreme Musik ausgerichtete ­Konzept ist bis heute kompromisslos gültig, ebenso die Strategie, auf eine gesunde Mischung aus nationalen und internationalen Bands – respektive Newcomern und etablierten Legenden – zu setzen. Camping-Möglichkeiten mit dem fahrbaren Untersatz direkt neben dem Zelt sind selbstverständlich – Verbesserungsvorschläge und Anregungen seitens der Besucher, die so die Chance besitzen, „ihre“ Fete mitzugestalten, ausdrücklich willkommen. Der Party-Faktor sollte auch weiterhin oberste Priorität genießen – das DJ-Zelt mauserte sich mit den Jahren zum Party-Zelt, später dann zur Party-Stage.

Auch in personeller Hinsicht zeichnet sich das W:O:A-Team frühzeitig durch Stabilität aus: Die Kartenbestellungen für das Event nahm Andy Gösers Mutter Regina bis einschließlich 1994 zuhause entgegen – im Prinzip entstand daraus später die Wacken-eigene Kartenvorverkaufsagentur MetalTix. Als Security fungierten bis einschließlich 1996 unter anderem auch die Jungs von den befreundeten Biker-Clubs MC Atrox und MSC Aasbüttel. Firmen aus der Region stellen – früher wie heute – unter anderem Zelte, Bewirtschaftung und andere Dienstleistungen sicher. Und auch auf der musikalisch-technischen Ebene gilt: Wer einmal als Techniker im Schlepptau irgendeiner Band in Wacken aufkreuzt, bleibt dort in der Regel auch „kleben“. So wie der als freier Toningenieur unter anderem für Saxon und Blind Guardian arbeitende Uli Thiessen, der auch heute noch für den guten Sound in Wacken sorgt. Oder Gerald Wilkes, der ab 1995 mit seiner Agentur Continental Concerts das Ressort des Band-­Bookings professionell betreut. Nicht zu vergessen Thomas Hess, der 1996 als Tourmanager die Böhsen Onkelz begleitete – und der seitdem für das W:O:A die Produktionsleitung übernimmt.

Doch selbst wenn sich in den ersten beiden Jahren die „Gartenpartys“ insofern rentieren, als dass die Veranstalter nach dem Event „plus/minus Null“ bilanzieren: In dem Moment, in dem sich das Festival etabliert und als feste Größe auf der Open-Air-Landkarte erscheint, wird aus dem Spaß schnell Ernst und sind die Wacken-Jungs – wohl gemerkt: allesamt als Autodidakten in das Business geraten – kommerziellen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Zum Beispiel dieser, dass mehr Gäste – zur zweiten Auflage besuchten mit etwa 1.300 Fans um die 500 Gäste mehr als im Vorjahr die Sause – auch mehr Kosten verursachen, und sei es nur hinsichtlich der Müllbeseitigung beziehungsweise der Abwasserentsorgung, für die anfangs noch das örtliche Klärbecken herhalten musste (das aufgrund des plötzlich großen Zulaufs schon mal zu kippen droht). Oder dass sich der Aufbau professioneller Strukturen für nur eine einzige Veranstaltung im Jahr nicht lohnt, weil das ökonomische Potenzial dieser Strukturen die restliche Zeit der zwölf Monate nicht brachliegen sollte, also genutzt werden müsste, – zum Beispiel für die Organisation von Tourneen oder anderen Veranstaltungen.

Genau das nehmen Hübner, Jensen & Co. in Angriff: Zwischen den Festivals verdingen sich Stone Castle Rock Promotion verstärkt als lokaler Konzertveranstalter, sammeln dabei weitere Erfahrungen im Bereich des Bookings, der Event-Werbung und der Organisation von Veranstaltungen, knüpfen dabei wertvolle Kontakte. Wohlgemerkt: Alles nebenberuflich. Noch …

1992

Ab jetzt wird geklotzt und nicht gekleckert: Um dem Image einer Wald-und-Wiesen-Party zu begegnen, installieren die Organisatoren erstmals eine Bühne plus PA und Lichtanlage mit professionellen Dimensionen in der Kuhle. Im Bestreben, die dadurch entstehenden höheren Kosten aufzufangen, werden Agenturen kontaktiert, die Werbepartner und Sponsoren vermitteln (bisher trat als solcher lediglich Holgers und Thomas Kumpel Hinnerk Husmann mit seiner Firma Aquafant in Erscheinung). Allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Letztlich zappelt lediglich der Zigarettenkonzern Prince Denmark an der Angel und ist bereit, etwas Geld aus seiner Portokasse locker zu machen: „Als sie unseren Plakat-Entwurf mit unserem Logo, dem Wacken-Totenschädel, sahen, kriegten sie die Krise“, erinnert sich Holger. „Sie bestanden auf normierte Plakate, die sie neben dem W:O:A für die in diesem Sommer stattfindenden Open Airs in Jübeck, Wallsbül und Rendsburg verwenden könnten. Wir ließen uns darauf ein – aber nur dieses eine Mal, und in Zukunft nie wieder.“

So entsteht der Slogan „Sponsored by Nobody“ – von niemandem gesponsort …

Das W:O:A 1992 geht schon alleine deshalb als erstes „richtiges“ Open Air in die Wacken-Annalen ein, weil jetzt mit Blind Guardian und Saxon zwei renommierte Acts auftrumpfen, die als „amtliche“ Headliner gelten: Die Krefelder zählen zu den Shoting Stars der deutschen Metal-Szene, feiern sogar im fernen Japan riesige Erfolge, werden dort fast schon gottgleich verehrt – und über die New-Wave-of-British-Heavy Metal-Legende Saxon in Metaller-Kreisen noch Worte zu verlieren, hieße Krabbencocktails nach Sylt tragen. Aber auch die in Insider-Kreisen hoch gehandelten irischen Hard-Rocker Mama’s Boys tragen ihr Scherflein zum Image-Gewinn des Festivals mit bei.

Hinzu kommt: Erstmals wird im Party-Zelt eine zweite Bühne installiert – die „Party Stage“, die in erster Linie Cover- und Spaß-Combos vorbehalten bleibt, die während des Umbaus auf der Hauptbühne die Wartezeit durch ihre Fun-Gigs überbrücken helfen sollen. Durch diese zweite Bühne – und durch den zu erwartenden größeren Andrang – wird der Platz in der Kuhle zu klein, um gleichzeitig dort zu Zelten. Also fragen Hübner, Jensen & Co. den Besitzer der Koppel auf der anderen Straßenseite (etwa an der Stelle, an der sich heute die Hauptbühnen befinden), ob er etwas dagegen hätte, wenn sein Acker am 21./22. August einer veränderten Nutzung zugeführt wird: der des Park- und Campingplatzes. Der Name des Besitzers jener Scholle, der später generell die Akquirierung von Ackerflächen übernehmen und seinerseits zur Wacken-Kult-Figure avancieren sollte: Uwe Trede.

Allerdings entstehen auch verstärkt unverhoffte Mehrkosten, die dem ganzen Spaß ein riesiges Loch bescheren, wie Holger Hübner illustriert: „In der Kuhle tummelten sich etwa 2.500 zahlende Gäste, die in erster Linie wegen der gebuchten Bands in Wacken anreisten. Auf dem Zeltplatz aber feierten noch einmal recht viele Leute ordentlich Party, ließen sich gratis von der Musik, die von der anderen Straßenseite rüber schallte, berieseln. Dementsprechend stiegen dann auch die Kosten für die Müllbeseitigung – was uns allerdings erst Wochen später einen Strich durch die Endabrechnung machte!“

Trotzdem hätte auch unter der Bilanz der 92er Ausgabe des Wacken:Open:Airs eine „schwarze Null“ stehen können. Dennoch bilanzieren die Organisatoren „ein Minus von etwa 25.000 Mark“. „Aus Dusseligkeit“, wie Thomas Jensen rückblickend zugibt, „wir saßen einem falschen Ratschlag auf.“ Denn als die erstmals angeheuerte professionelle Security am ersten Abend während der Show des Headliners Blind Guardian über 2.500 Zuschauer zählte, erwarteten sie für den zweiten Tag für den Auftritt des Top-Acts Saxon etwa 5.000, wenn nicht gar 10.000 Besucher. Um diesem vermeintlichen Andrang im Falle des Falles Herr werden zu können, stockte die für die Sicherheit auf dem Gelände zuständige Firma ihre Mannschaft um 50 mit allem Drum und Dran ausgerüsteten Ordnern auf. Die wiederum haben ihren Preis – auch wenn diese Aktion letztlich nicht notwendig gewesen wäre …

Unabhängig davon forcieren die Wackener den Aufbau eigener Strukturen: Konzerte, Partys, Rock-Nächte und ähnliche Veranstaltungen werden auch in anderen Städten organisiert – darüber hinaus zum Beispiel eigene Absperrgitter angefertigt und diese vermietet. Allerdings gibt es auch Rückschläge – und das Jahr 1993, eines der schwärzesten in der Wacken-Geschichte.

1993

Noch ahnt niemand, dass das Jahr 1993 als „Seuchenjahr“ in die W:O:A-Annalen eingehen wird: Thomas Mutter stirbt, Holger erleidet am 13. Dezember 1993 einen schweren Unfall, der ihn für lange Zeit ans Krankenbett fesselt – und kurz vor Weihnachten stehen die Festival-Organisatoren vor dem Ruin.

Unabhängig davon rücken seit diesem Jahr mehr denn je bewusst initiierte Reunionen als „Special Events“ in den Fokus des Billings, sozusagen als eine der maßgeblichen Hauptattraktionen des Festival-Programms. „Aufgrund unseres Standortnachteils bestand die Notwendigkeit, Programmpunkte zu entwickeln, die einen zusätzlichen Reiz auf unsere potenzielle Kundschaft ausüben, sozusagen als Besuchermagnet wirken“, erzählt Thomas Jensen. „Denn Festivals gab es schon zu jener Zeit wie Sand am Meer, und alleine das Dynamo Open Air im holländischen Eindhoven stellte zu der Zeit zunehmend eine Macht dar. Wir wollten uns aber von der Konkurrenz abheben, unseren Besuchern Bands bieten, die sie eben nicht jeden Tag auf den anderen Festivals sehen, sondern ihnen etwas nicht Alltägliches vorsetzen, in dessen Genuss sie ausschließlich in Wacken – und sonst nirgendwo – kommen!“

Im Jahre 1993 sind es die US-Progressive-Metaller Fates Warning, deren Ankündigung für ein Raunen unter den Kennern der Materie sorgen, gilt das Quintett doch in Fachkreisen als „Kult“. Und momentan als „unsigned“, denn der Plattenvertrag mit dem alten Label war ausgelaufen, ein neuer Vertrag nicht in Sicht, da der Fünfer nicht in die immer noch herrschende Doktrin des Grunge-Booms passt. Mit anderen Worten: Fates Warning sind faktisch tot. „Deren Chef-Gitarrist Jim Matheos nahm gerade in einem Studio nahe Hamburg sein Solo-Album auf. So entstand die Idee, die ehemaligen Bundesgenossen doch noch einmal zusammenzutrommeln, sie nach Deutschland einzufliegen, dort eine Woche lang proben zu lassen und das alles als Fates-Warning-Reunion für das Open Air anzukündigen.“ Diese Ganze Aktion kostet die Veranstalter (O-Ton Jensen) „irre Summen“. Weniger hinsichtlich der Gagen, die nur einen Bruchteil der Spesen ausmacht. Vielmehr schlagen die Kosten für Flugtickets, Hotels und PA- sowie den Proberaum in Wilster exorbitant zu Buche. Allerdings stellt sich ein nicht zu unterschätzender Promotion-Effekt ein: „Auf der kurz zuvor in Köln veranstalteten Musikmesse traute niemand seinen Ohren, als wir erzählten, Fates Warning würden bei uns auftreten – alle dachten, die Band hätte sich ob ihrer aussichtslosen geschäftlichen Situation desillusioniert aufgelöst!“, schwärmt Jensen noch heute von der von Ungläubigkeit gezeichneten Gesichtern seiner Gegenüber auf jenem Business-Event.

Mit Deutschlands Rock-Lady Nummer eins Doro Pesch und Band, den holländischen Thrashern Gorefest, den von Frauen angeführten Berliner Combos Jingo DeLunch und Skew Siskin (die beide zu der Zeit als „Bands der Stunde“ gehandelt werden), den US-Hard-Rockern Riverdogs, den Schweizer Avantgarde-Metallern Samael und den auf Solopfaden wandelnden Psychotic-Waltz-Frontmann Buddy Lackey bieten Hübner, Jensen & Co. darüber hinaus ein allein von der Papierform her in künstlerischer Hinsicht anspruchsvolles Billing auf, das Wacken nachdrücklich ins Gespräch bringt.

Die Besucherzahlen legen im Vergleich zum Vorjahr um knapp 50 Prozent zu: Über 3.500 Metalheads bängen in der Kuhle um die Wette. Erneut lassen es sich aber auch auf dem Campingplatz jede Menge Gäste gut gehen, die keinen Eintritt für die Kuhle entrichten, aber dafür zum mächtigen Anwachsen der Müllberge auf Bauer ­Tredes Koppel beitragen. Doch das soll noch das geringste Problem sein.

Denn je mehr das Festival allmählich Konturen annimmt und Erfolg verspricht, setzt man sich an anderer Stelle wieder gehörig in die Nesseln: Der Versuch, sich neben Wacken als lokaler Promoter zu profilieren, der mit Flensburg sogar noch eine neue feste Anlaufstation für Hard-Rock- und Metal-Veranstaltungen auf der Landkarte fest etabliert, mutiert zunehmend zu einem finanziellen Desaster. Zwar besuchen die von Stone Castle Promotion veranstaltete Motörhead-Show in der Wiking-Halle immerhin 2.000 Fans – aber entschieden zu wenige, um damit die aberwitzigen Kosten für die Vorab-Promotion einzuspielen. Zum Super-GAU ufert allerdings die in Pahlen organisierte Show von Dio/Freak Of Nature aus: Mit dem Erlös von nur 167 verkauften Tickets können nicht einmal die Kosten für das Catering bezahlt werden – Thomas Jensen muss sich bei seinem Kumpel Fiete Geld leihen, um den für die Sicherstellung der Verpflegung verantwortlichen guten Mann milde zu stimmen.

Bis zum Jahresende summiert sich ein Minus von 350.000 DM auf – womit sich die wackeren Wackeraner heute locker für die Privatinsolvenz qualifiziert hätten. In einem Krisentreffen kurz vor Weihnachten werden die Eltern der fünf Hauptbetroffenen – neben Hübner und den Gebrüdern Jensen noch Andy Göser und Jörn-Ulf Goesmann – mit eingebunden. Weil Göser und Thomas Bruder sofort aussteigen, Goesmann zwei Jahre später das Handtuch werfen wird, kristallisieren sich als letzte Mohikaner das Duo Hübner/Jensen heraus – ihre Eltern übernehmen Bürgschaft für die Schulden (Ausnahme: Jörn-Ulf kommt selbst für die Verbindlichkeiten auf; er wirkt noch zweieinhalb Jahre im W:O:A-Team mit, steigt dann aber im Juni 1996 endgültig aus). Damit ist zumindest die Durchführung des fünften Wacken:Open:Airs im nächsten Jahr vorerst gewährleistet.

1994

Neben den Planungen zum fünften Event – dem ersten Jubiläumsfestival – nimmt das Duo Hübner/Jensen alle nur erdenklichen Aufträge an, um Geld einzuspielen: Holger legt unter anderem als DJ bei Biker-Partys auf, beide verdingen sich als Stagehands, gemeinsam werden weiterhin Konzerte veranstaltet. Zudem schweißt man Absperrgitter zusammen, weil sich die angemieteten für eine Motörhead-Show als zu teuer erwiesen – mit den eigenen Gestellen in der Hinterhand lassen sich so schon mal in Zukunft weitere Kosten sparen, zudem weitere Gelder durch Vermietung einspielen.

Für das Billing des eigentlichen Festivals fällt eine weitere wichtige Grundsatzentscheidung: Der Versuch, die Biker für das Wacken:Open:Air zu begeistern und sie mit einem adäquaten musikalischen Programm anzulocken, wird ad acta gelegt. „Biker sind ein sehr spezielles Publikum mit noch spezielleren Wünschen“, bringt Holger die in den vergangenen vier Jahren gewonnenen Einsichten auf den Punkt. „Sie setzen ihre Prioritäten bei möglichst preiswerten Getränken, wollen unter sich bleiben, über ihre Maschinen fachsimpeln – Musik spielt da eher eine untergeordnete Rolle.“ Deswegen fällt das Billing ab sofort mehr Heavy Metal-orientiert aus – Szene-Größen wie Gamma Ray, Skyclad, die Riverdogs, The Tea oder Ex-Iron-Maiden-Sänger Paul Di’Anno und seine Killers finden sich daher ebenso im Aufgebot wie derbe Kapellen à la U.K. Subs, Atrocity, Chemical Breath und Deceased oder Fun-Punker vom Schlage der Prollheads. Finanziell wird das Festival ein kleiner Erfolg, zumal aus dem Park- und Campingplatz-Desaster des Vorjahrs die richtigen Konsequenzen gezogen wurden und dieser ab sofort ebenfalls nicht mehr ohne ein gültiges Festivalticket betreten werden darf: Man zahlt zumindest nicht drauf, zumal mit 4.500 Zuschauern immerhin 1.000 mehr als in den beiden Vorjahren ihren Weg nach Wacken finden. Es scheint also aufwärts zu gehen mit den geschäftlichen Belangen, zumal auch mit der ersten in Eigenregie veranstalteten Tournee – der der Riverdogs – sich ein erster kleiner Erfolg und somit der Weg aus der Krise einstellt.

In Sachen Marketing schwingen sich die W:O:A-Organisatoren zudem zu den Vorreitern einer innovativen Idee auf: 1994/95 werden erstmals, quasi als Dankeschön vom Weihnachtsmann, den bestellten Tickets Gratis-T-Shirts mit beigelegt – ein Marketing-Tool, das von den meisten Festival-Verantaltern gerne adaptiert wurde, um so den frühen Vorverkauf der Tickets zusätzlich anzukurbeln. Denn eine Faustregel besagt zumindest bis Ende der neunziger Jahre: Die Anzahl der an der Abendkasse verkauften Tickets hält sich in etwa die Waage mit den im Vorverkauf abgesetzten Karten. Nach der Millenniumswende verschiebt sich dieses Verhältnis nach und nach zu bis zu 90 Prozent im Vorverkauf abgesetzten Tickets. Inzwischen können die W:O:A-Veranstalter – wie im Jahre 2008 – bereits im Frühjahr auf einen hundertprozentigen Verkauf ihrer Tickets verweisen; das W:O:A 2009 ist bereits seit dem 31. Dezember 2009, also sieben Monate im Voraus mit 65.000 Tickets restlos ausverkauft.


Die legendäre Kuhle, wo 1990 das erste W:O:A stattfand. © Rita Mitzkatis


Die Crew des ersten W:O:A in Wacken.


Die Bühne des ersten W:O:A 1990. © Christine Besser


Ein Blick auf die Technik 1990.


Skyline live auf der Bühne 1991. © Christine Besser


Hansi von Blind Guardian live in Wacken 1992


Doro mit Band live in Wacken 1993. © Rita Mitzkatis

Wacken Roll

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