Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 69
16. Die Maske fällt
ОглавлениеClara stand in der Bibliothek. Auf einem Tisch vor ihr stapelten sich Folianten. In diesen Momenten hätte sie alles für eine indizierte Suche gegeben, wie sie auf Computern in Datenbanken möglich war. Chloe hatte mehrere Versuche unternommen, Johanna und Leonardo dazu zu bringen, die Werke einzuscannen. Doch diese waren strikt dagegen. Jede derartige Maschine konnte gehackt werden. Sie gähnte, vertrieb die Kopfschmerzen und blätterte weiter.
»Alles klar?«, fragte Chris. »Hast du schon was gefunden?«
»Nein«, knurrte sie.
»Hey, sorry, ich bin nur … sauer.«
Clara atmete aus, ihre Schultern sackten herab. »Ich weiß. Tut mir leid. Bin einfach verspannt, daher hab ich ständig Kopfschmerzen, und, ach verdammt: Warum können die nicht klar und deutlich schreiben. Immer wieder stoße ich auf Querverweise. Von Andeutungen gar nicht zu reden. Die haben früher vielleicht geschwollenes Zeug geschrieben.«
Sie rief sich selbst zur Ordnung. Müdigkeit, Sorge und Wut zerrten an ihrer aller Nerven. Gerade in diesen Situationen zeigte sich, wer einen kühlen Kopf bewahren konnte. Clara hatte schon viele schlimme Dinge erlebt, sie würde auch das überstehen.
»Chloe und Max werden die Klinge finden«, war Chris überzeugt. Er verschwand hinter einer Regalreihe, seine Stimme drang dumpf zu ihr herüber.
Das vorliegende Buch erwies sich ebenso als Fehlschlag. Der Verfasser der kurzen Abhandlung hatte im Hauptwerk zwar mehr zu den Wechselbälgern, ihrer Geschichte und der Clan-Aufteilung geschrieben, doch nichts zu der speziellen Fähigkeit der alten Kreaturen. Es hatte Clara geschüttelt, als sie davon gelesen hatte, wie die Kinder damals aufgewachsen waren. Die Originale wurden entführt und durch Wechselbalg-Junge ausgetauscht, die so die perfekte Infiltration erlernten. Die echten Nimag-Kinder dienten den Clans als Sklaven. Das war mit ein Grund gewesen, weshalb die Lichtkämpfer jene Kreaturen ausgerottet hatten. Nun ja, fast ausgerottet.
»Wieso hat niemand etwas in klaren Worten über diese Fähigkeit geschrieben?«, überlegte sie laut.
»Vielleicht, um keine Begehrlichkeiten zu wecken«, erklang Chris' Stimme noch dumpfer als zuvor. Er war weiter in das Regaldickicht vorgedrungen. Seine Stimme klang richtiggehend fremd.
»Begehrlichkeiten?«, echote Clara. »Hm. Möglicherweise hast du recht. Immerhin wurden diese Kreaturen damals gerne von den Schattenkriegern eingesetzt, um die Höfe von Kaisern, Königen und Fürsten auf der ganzen Welt zu infiltrieren. Stell dir nur vor, was die Mächtigen heute dafür gäben, einen Gestaltwandler bei ihren Feinden einschleusen zu können.«
»Die Schattenfrau wird auf jeden Fall viele Pluspunkte beim dunklen Rat geholt haben«, rief Chris. »Himmel, hier stehen so viele Bücher.«
Clara schaute gedankenverloren in die Höhe. Wo könnte ich noch was dazu finden? »Du warst doch schon mal hier! So neu kann das alles nicht sein.«
Chris schwieg. »Stimmt, aber glaubst du wirklich, ich habe auf Details geachtet?«
Er war nicht unbedingt für seine Liebe zur Literatur bekannt. Sie lachte leise. »Wohl eher nicht. Sag mal, wo war dein Bruder eigentlich, als du angegriffen wurdest? Chloe hat erwähnt, dass er eigentlich ins Verlies wollte, um dir beizustehen.«
»Ich weiß, hat Chloe mich auch schon gefragt.« Chris stieß ein regelrechtes Knurren aus. »Einer der Ordnungstrottel hat ihn nicht hinein gelassen, also wollte er Johanna bitten, das zu klären. Er hat sie aber nicht gefunden. Als er zurückkam war schon alles vorbei.«
»Heute scheint ja wirklich alles schief zu gehen.« Clara schob den Gedanken beiseite. Ihr kam eine Idee. Sie richtete den Aufrufzauber nicht auf Werke zum Thema Wechselbälger, sondern auf spezielle Fähigkeiten bei bösartigen Kreaturen. In der Ferne erklang ein Rauschen. Vier Folianten schwebten herbei. Sie gab jenen auf ihrem Tisch den Befehl, zurück ins Regal zu fliegen und Platz für die Neuankömmlinge zu machen, die kurz darauf landeten. In den ersten beiden Werken fand sie nichts. Sie schlug das dritte auf. Es war alt und zerfleddert, die Seiten waren in brüchige Pappe gebunden. Geschrieben worden war es sogar erst 1980. Allerdings besaß der Verfasser scheinbar Zugriff auf ältere Quellen. Sie musste die Zeilen zweimal lesen, bis der Gedanke endlich bei ihr angekommen war. Sie schloss das Buch. Ihre Hände zitterten.
»Chris!«, rief sie. »Ich habe es! Du wirst es nicht glauben.«
Stille.
»Chris!«
Hinter ihr erklangen Schritte. Sie fuhr herum. Doch es war nicht Chris, der vor ihr stand. Es war ein anderer Freund. Zumindest dachte sie das, bis sie das Blut auf seiner Stirn sah. Es stammte nicht von ihm, wie ihr klar wurde, als er es böse grinsend wegwischte und vom Finger leckte. »Die gute Chloe war ein harter Brocken.«
»Max«, hauchte Clara. Sie schluckte. »Oder sollte ich eher Wechselbalg sagen.«
Sie streckte die Hand aus.
Die Kreatur hob den Essenzstab von Max in die Höhe. »Das lässt du schön bleiben. Glaub mir, ein gezielter maximaler Kraftschlag zwischen die Augen hat den gleichen Effekt wie eine Kugel.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Du hast ihn also ersetzt. Max. Seit Wochen.«
»Aber ja.« Die Kreatur kicherte. »Und es war absolut simpel.«
Ich muss Zeit gewinnen. Es konnte den anderen nicht verborgen bleiben, was hier geschah. Auch die Bibliothek war mit Überwachern ausgestattet und Chris flitzte zwischen den Regalen herum. »Warum ausgerechnet er?«
»Die Kaugummis.« Die Kreatur brach in höhnisches Gelächter aus. »Ich konnte sein Blut in die Masse einfügen und so wurden meine Gedanken stets zu seinen Gedanken, wenn ich eines davon gekaut habe.«
Es waren jene Momente, in denen sie sich fragte, wie sie nur alle mit Blindheit hatten geschlagen sein können. Wieso war ihnen nie der Gedanke gekommen, nach dem Blut zu suchen, das die alten Kreaturen benötigten, um den eigenen Geist zu verändern.
»Chloe war nahe dran«, erklärte ihr Gegenüber siegessicher. »Sie hat die Globen aktiviert. Zwar haben die nur mich gezeigt – Max ist sicher verwahrt –, aber als sie zeitlich zurückging, konnte sie meinen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Attacke auf Leonardo vergleichen. Sie ist schon gewitzt. Entschuldigung, sie war gewitzt. Noch ein paar letzte Worte, bevor ich dich erledige und das Archiv aufsuche?« Er hob Leonardos Armband in die Höhe. »Der Zugang liegt frei.«
Einen Augenblick starrte Clara auf den kobaltblauen Stein. Dann begann sie zu lachen.
Die Kreatur schaute sie verblüfft an. »Bist du nun verrückt geworden?«
»Oh, du dummes Ding«, sagte sie. »Du hast doch nicht geglaubt, dass sie dich das tun lässt?«
»Was …?«
»Die Schattenfrau hat dich hier aufgrund deiner zweiten Fähigkeit eingeschleust, nicht wegen der perfekten Imitation, zu der du fähig bist.« Sie deutete auf den Folianten, wohl wissend, dass die Uhr tickte. Wo blieben die anderen? »Die alten Wechselbälger – und du bist einer davon, das wissen wir mittlerweile – konnten auch in ein Portal verwandelt werden. Das war ihr Tod, doch damit gewährten sie Schattenkriegern Zutritt zu Einrichtungen der Lichtkämpfer. Deshalb war es den Kämpfern von damals so wichtig, euch auszurotten. Die Schattenfrau will nicht, dass du in das Archiv vordringst. Das will sie selbst tun.«
Der Wechselbalg schaute unsicher drein. Gerade öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, da begann die Rücktransformation. Max’ Gesicht verschwand, der Körper nahm die ursprüngliche Form an. Graue, ledrige Haut, spitze Ohren, messerscharfe Zähne. Sie konnte auf dem Gesicht der Kreatur erkennen, dass das nicht von ihr gewollt war. Der Wechselbalg ließ die Armmanschette fallen. Ein Schrei hallte durch die Bibliothek, wie sie noch nie einen ähnlichen gehört hatte, als das Wesen plötzlich in loderndem schwarzen Feuer stand. Es schmolz zusammen, veränderte sich, ein Wirbel entstand.
»Ein Schattenportal«, flüsterte Clara.
Sie riss ihren Essenzstab an sich. Mit einem Aufrufzauber holte sie Leonardos Armmanschette heran. Gleichzeitig griff sie nach ihrem Kontaktstein, um eine Warnung auszusenden. Es war nicht schwer zu erraten, was gleich geschehen würde.
Sie behielt recht.
Ein Fuß, eingehüllt von einem dunklen Nebelfeld, trat aus dem Portal. Der Rest folgte kurz darauf. Sie standen sich gegenüber, Auge in Auge.
»Ah, home sweet home.« Die Stimme der Schattenfrau drang nur gedämpft und verzerrt unter dem verhüllenden Feld hervor. Ihr Antlitz, selbst der Essenzstab, blieben vollständig verborgen.
Clara hob den Stab.
»An mir kommst du nicht vorbei!«