Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 76
23. Was bringt die Zukunft?
ОглавлениеDer Morgen war heraufgezogen. Mittlerweile füllten zahlreiche Stimmen die Gänge des Castillos. Lichtkämpfer, die nach der Aufhebung des Siegels zurückgekehrt waren, wurden auf den neuesten Stand gebracht; Unsterbliche, die hektisch zum Ratssaal eilten, riefen Befehle umher. Es war das Chaos nach dem Sturm. Die Ruhe wäre ihm lieber gewesen.
»Etwas hat sich verändert«, sagte Chloe. »Spürst du es?«
Kevin nickte. »Die sind alle schockiert darüber, dass eine einzelne eingeschleuste Kreatur so etwas anrichten konnte.«
Bei dem Wort »Kreatur« sah sie den Ekel auf seinem Gesicht. Er hatte mit dem Wechselbalg wochenlang zusammengelebt, ihn nicht als das erkannt, was er war. Der Gedanke, dass Max nur wenige Meter entfernt gefangen gehalten worden war, kochte ihre Wut wieder hoch. Ihr Hass auf die Schattenkrieger kannte keine Grenzen.
Sie saßen im Krankenflügel. Max lag in einem Einzelraum im Bett. Theresa hatte es so entschieden. Vermutlich würde er aufgrund des Martyriums Narben auf seiner Seele zurückbehalten. Gerade die Anfangszeit nach dem Erwachen würde schwierig für ihn werden und sie wollte nicht, dass er vor anderen die Fassung wahren musste.
Chloe saß auf der einen, Kevin auf der anderen Seite neben dem Bett des Freundes. Vor einigen Minuten hatte Clara Kaffee vorbeigebracht, dann war sie wieder davongeeilt. Sie hatte der Freundin angeboten, sich ein wenig zu ihnen zu setzen, doch Clara wollte nicht. Gryffs Tod lag erst so kurze Zeit zurück, sie würde ihn auf ihre eigene Weise verarbeiten.
Chris schaute auch immer wieder vorbei, half ansonsten bei den Aufräumarbeiten in der Bibliothek und den Ordnungsmagiern bei der Überprüfung aller Fälle, die sie hatten stoppen müssen. Vor wenigen Minuten war er mit der Nachricht hereingeplatzt, dass der Onyxquader Hunderte neue Erben aufgezeigt hatte. Niemand wusste, warum, denn es war nachweislich keiner gestorben. Doch damit mussten weitere Teams zu den Neuerweckten, sie schützen und in das Castillo bringen. Chris war einer dieser Gruppen zugeteilt worden, was ihn unglaublich freute. Endlich wieder im Einsatz!
Kevin strich Max zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann wandte er sich schnell ab.
»Was ist?«, fragte Chloe.
Er presste die Lippen zusammen, rang mit sich. »Ich schäme mich.«
»Was?!«
»Ich habe es nicht bemerkt. Wie kann das sein? Wochenlang habe ich mit diesem Ding zusammengelebt.«
»Kevin, der Wechselbalg hatte Max' Erinnerungen.« Sie deutete auf den schlafenden Freund. »Es war vollständig er. Von der Haarspitze bis zu den Zehen, von der ersten Erinnerung bis zur aktuellsten. Niemand hätte das durchschauen können. Wie denn? Dieses Ding dachte selbst, dass es Max ist!«
»Aber ich …«
»Nein.« Chloe unterbrach ihn gnadenlos. Sie hatte all das auch durchlebt. Die Schuldzuweisungen, die innere Zerrissenheit, die Selbstzerfleischung. »Du konntest es weder bemerken noch verhindern. Und jetzt hör auf damit. Das ist ein Befehl.«
Er lächelte schwach.
Natürlich war ihr klar, dass es nicht so einfach werden würde. Vermutlich würden sowohl er als auch Max bald ein paar ziemlich heftige Sitzungen bei einem gewissen Psychologen benötigen. Wir werden es alle irgendwie überstehen.
»Hey«, erklang eine Stimme vom Eingang her. Ein Mann Mitte zwanzig trat ein. Er trug Jeans, ein zerschlissenes Hemd und hatte kurzes dunkles Haar. Ein Dreitagebart sproß auf seinem Gesicht, die Augen wirkten müde.
»Alex!« Kevin sprang auf und umarmte den Neuankömmling.
»Ich habe gerade gehört, was passiert ist. Wie geht es ihm?«
Kevin räusperte sich, brachte aber kein Wort heraus.
»Den Umständen entsprechend«, sagte Chloe. Sie streckte die Hand aus. »Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Das ist Chloe«, erklärte Kevin, bevor er wieder neben Max' Bett auf den Stuhl sank.
»Freut mich auch. Hier war ja einiges los, während wir fort waren.«
»Die Schattenfrau.« Chloe schüttete den Rest ihres Kaffees in sich hinein, die Müdigkeit nahm langsam überhand.
»Oh ja, bei uns auch.« Er berichtete in kurzen Sätzen, was seit ihrem Aufbruch zu Nostradamus geschehen war.
»Wow. Dann hat die Zerstörung dieses Artefaktes all die neuen Erben ausgelöst.« Kevin schaute zwischen Alex und ihr hin und her. »Wenigstens eine gute Sache, die aus dem ganzen Mist erwachsen ist.«
Chloe nickte nur. Ihr erster Eindruck von Alexander Kent war recht positiv. Mangelnden Mut konnte man ihm jedenfalls nicht vorwerfen. Und mal eben so für derart viele Neuerweckte gesorgt zu haben, würde ihn auf jeden Fall zum Castillo-Gespräch werden lassen. Außerdem sah sie unter der Decke aus Müdigkeit ein freches Glitzern, was ihn noch sympathischer machte. »Wo ist Jen?«
»Sie erstattet Johanna Bericht und stellt Tilda vor«, erklärte er. »Vermutlich bekommt sie direkt einen Kulturschock, so nach einhundertsechsundsechzig Jahren in der Isolation. Ein bisschen was hat sich doch verändert. Okay, ihr beiden, ich muss mich kurz hinlegen, sonst kippe ich im Stehen um. Aber falls Max aufwacht, gebt mir sofort Bescheid, ja?« Er deutete auf seinen Kontaktstein. »Ah, ich muss auch noch zu meiner Mum und Alfie. Die werden sich bestimmt fragen, was los ist.«
Chloe zog grinsend ihr Smartphone hervor. »Gib ihnen doch einfach kurz Entwarnung.«
»Du bist ein Engel.« Er schnappte sich das Gerät und verließ den Raum. »Bei meinem ist der Akku völlig leer. Danke.«
»Das ist mal was, du hast ihn nicht gefressen«, kommentierte Kevin.
»Kommt vielleicht noch. Ich wiege ihn nur in Sicherheit.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich werde Johanna bitten, mich dem Team zuzuteilen, das die Schattenfrau sucht.«
Kevin nickte nur. Chloe hatte auf mehr gehofft, doch sie verstand, dass er einstweilen keine Kraft dazu hatte, über die Zukunft nachzudenken. Zu ungewiss stellte diese sich gerade dar. Sie war sich aber sicher, dass der Freund an ihrer Seite stehen würde, wenn es soweit war.
Chris steckte den Kopf durch die Tür. »Schläft er noch?«
»Jap«, sagte Kevin.
Sein Bruder verschwand.
Kurz darauf schneite Jen herein. »Hey ihr, ich habe es gerade gehört.«
Sie wurde mit einer Umarmung begrüßt. Obwohl sie alle müde waren, saßen sie gemeinsam in dem kleinen Raum und berichteten sich gegenseitig, was, wann, wie vorgefallen war. Immer wieder kam es zu kurzen Pausen, wenn einer von ihnen in seinem Stuhl einschlief. Es war ein schönes Gefühl, dass sie alle den heutigen Tag überstanden hatten.
Obgleich manche von ihnen …
Ihr Blick fiel auf Max.
… mit furchtbaren Narben.