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Prolog

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Die Wahrheit offenbarte sich.

Tausend Ameisen und mehr krochen über ihren Körper, den Nacken hinauf, das Rückgrat entlang, überzogen Arme und Beine. Nein, es waren keine Tiere. Mit schwarzer Tinte geschriebene Buchstaben durchdrangen Haut und Poren, als habe ein irrer Tätowierer seinen Wahn an Jen ausgelebt.

Sie taumelte. Der Foliant blieb aufgeschlagen auf dem Tisch des Turmzimmers zurück, während sie nur mühevoll ihre Balance halten konnte. Das Mondlicht fiel durch die Fenster in den Raum, verströmte einen sphärischen Glanz. Ein Schimmer silbernen Lichts bedeckte Regale, Couch, Stühle und die von ihren Freunden liegengelassenen Kleinigkeiten.

Deine Augen bestanden aus purem Quecksilber, erinnerte sie sich an das, was Alex nach dem Zwischenfall in der unterirdischen Zitadelle des Sehenden Auges erzählt hatte.

Sie war damals unvorbereitet gewesen. Doch heute nicht. Hitze schoss durch Jens Adern, ihr Körper wurde federleicht, erhob sich in die Luft. Sie schwebte genau im Zentrum, zwischen den Wänden, der Decke und dem Boden. Silberner Rauch drang aus ihrem Mund, eine uralte Stimme formte Worte mit ihren Lippen.


Dreimal dreht sich der Schlüssel,

Verrat, Feuer, Tod.

Im Licht des Avakat-Sterns,

die Erde getränkt in Blut.


Die Zeit ist es,

verbirgt vor euch, was euch lieb ist.

Ein Riss, ein Netz, ein Bruch.


Was einst war, wird wieder sein.

Was nun ist, wird nie mehr sein.

Feuerblut, Silberregen, Ascheatem.


Aus Licht wird Schatten,

Schatten erstarkt.

Getrennt durch gestern, heute, morgen,

wird Licht zu Dunkelheit.


Ein Krieg am Anfang, am Ende, immerdar.

Zwei Seiten im ewigen Streit.

Schnee und Asche, Asche und Schnee.

Ein Zyklus für die Ewigkeit.


Die Schwere kehrte zurück. Jen sank zu Boden. Der Rauch verwehte. Obgleich sie ihm niemals begegnet war, so wusste sie doch, dass es Joshuas Stimme gewesen war. Er hatte durch sie gesprochen. Der letzte Seher, der gestorben war, als der Wall entstand, hatte die Zukunft gesehen und sie mit seiner Erbin über ein Jahrhundert später geteilt.

Wie ferngesteuert schritt Jen zurück zu dem Folianten. Ihr Blick wurde wieder klar, das Silber verschwand. Erneut legte sie eine Hand auf die brüchigen Seiten des Werkes. Die Buchstaben krochen auf das Papier, setzten sich neu zusammen und bildeten lesbare Sätze.

Doch es war nicht die Prophezeiung, die dort geschrieben stand. Stirnrunzelnd beugte sie sich über die gelbstichigen Seiten. Gedankenverloren zeichnete Jen ein magisches Symbol in die Luft und murmelte: »Fiat Lux.«

Drei Kugeln erschienen. Geboren aus ihrer Essenz schwebten sie über dem Folianten und vertrieben mit ihrem warmen Licht die Schatten.

Jens Blick glitt die Zeilen entlang, nahm die Informationen auf, die – endlich – offenbart wurden. Natürlich begriff sie sofort, dass das Werk nur einen Bruchteil des Wissens freigab, das in ihm niedergeschrieben stand. Da war mehr. Sie konnte es spüren. Etwas von Joshua haftete an den Seiten, dem Leder des Einbands, den uralten Worten. Der Foliant entschied selbst, welche Informationen er wann preisgab.

Mochten die Prophezeiungen auch einstweilen ein Rätsel bleiben, so war der Text vor ihr doch in glasklaren Sätzen verfasst. Sie erreichte das Ende. Während die Tinte erneut einen Reigen tanzte und die Schrift unleserlich wurde, begriff Jen endlich, was die Schattenfrau plante.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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