Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 70
17. Ein Plan in einem Plan
ОглавлениеJohanna betrat mit gezücktem Essenzstab die Bibliothek.
Hoch über ihr, auf dem Balkon der zweiten Leseebene, stand Clara. Aus einem in schwarzen Flammen stehenden Portal ihr gegenüber trat die Schattenfrau.
»Nein«, erklang hinter ihr Kevins Stimme. »Das ist unmöglich. Das Bild … Max.«
Sie wandte sich dem jungen Lichtkämpfer zu. »Ich übernehme das hier. Eliot trommelt bereits alle Ordnungsmagier zusammen. Tomoe trifft gleich ein und Albert aktiviert Sicherungsmaßnahmen. Du musst den echten Max finden.«
»Aber wie?«
»Er ist im Castillo. Wenn der Wechselbalg das alles geplant hat, schwebt er in Lebensgefahr. Erkläre Einstein, was hier vorgefallen ist. Da wir nun wissen wer ersetzt wurde, gibt es Möglichkeiten das Original zu finden. Geh!«
Kevin rannte davon.
Johanna lief ihrerseits auf die metallene Wendeltreppe zu. Augenblicke später stand sie dem Nebelfeld gegenüber.
»Dein Einfallsreichtum ist beeindruckend.« Sie ließ ihren Essenzstab keinen Zentimeter sinken.
»Oh, aber das ist noch gar nichts.« Ihre Feindin wirkte Magie. Eine düstere, kranke Spur entstand.
Der kobaltblaue Permitstein sauste mit der Armmanschette in ihre Hand, während Clara von einem Schlag getroffen über die Brüstung fiel. Johanna konnte es nicht mehr verhindern. Wenige Schritte brachten sie zum Geländer. Tief unter ihr war Clara aufgekommen, hievte sich soeben ächzend in die Höhe.
»So soll es von nun an also sein.« Sie wandte sich ganz der Feindin zu. »Geschmiedete Ränke, tote Lichtkämpfer – und das alles im Zeichen eines geheimen Plans.«
»Das hast du ganz richtig erkannt«, bestätigte die Schattenfrau. Sie ging langsam über den Balkon, ihre Hüften wogten hin und her. »Es ist so lange her, dass ich hier war.« Ihre Finger strichen über die Oberfläche der Buchrücken, die im äußersten Regal standen.
»Du warst hier?«, fragte Johanna. Sie wollte angreifen, doch gleichzeitig brannte die Neugier in ihr wie ein alles verzehrendes Feuer. Seit Jahrhunderten warf die Schattenfrau ihnen Knüppel zwischen die Beine. »Wer bist du?«
»Keine Angst, das werdet ihr bald erfahren«, erwiderte die Feindin. »Aber ich mache nicht den Fehler, meine Pläne zu offenbaren, damit ihr mich in letzter Sekunde schlagen könnt. Nimm zum Beispiel das hier.« Sie hob das Kobaltpermit in die Höhe. »Ihr alle glaubt zu wissen, wozu ich es benötige.«
»Du willst in das Archiv.«
»Aber meine Liebe.« Die Schattenfrau stieß ein verzerrtes Lachen aus. »Keineswegs.« Ohne weitere Erklärungen warf sie den Stein hoch in die Luft, auf jene Stelle zu, wo sich die Tür zum Archiv befand; das Netzwerk aus Räumen, das die größten Schätze an altem Wissen der Lichtkämpfer enthielt. Sie hob den Essenzstab und rief: »Signa aeternum.«
Johanna begriff, was die Schattenfrau in Wahrheit hier gewollt hatte. Ein gewaltiges schwarzes Wabern schoss aus der Spitze des Essenzstabes, raste auf die Tür des Archivs zu und legte sich darüber wie eine schützende Hülle. Nur war sie nicht zum Schutz gedacht.
»Signa aeternum, das ewige Siegel«, flüsterte sie. Die Schattenfrau hatte mit Leonardos Permit den Schutz unterlaufen und verschloss nun alle Zugänge zum Archivnetzwerk. Sie schnitt die Lichtkämpfer von jenen Informationen ab, die dort eingelagert waren. Artefakte, Mentigloben, das Wissen der Archivare, nichts stand mehr zur Verfügung. Dafür nutzte sie keinen eigenen Zauber, denn der würde irgendwann zusammenbrechen. Nein, sie pervertierte den bestehenden Schutz, kehrte ihn um.
»Siehst du«, sagte die Schattenfrau süffisant. »Ich will euer kostbares Archiv gar nicht betreten. Sag Leonardo liebe Grüße, er soll sich nicht ärgern. In seinem Alter ist das schlecht für den Blutdruck.«
»Du hast den Wechselbalg ins Castillo eingeschleust, hast Max ersetzt, du hast das Erdbebenartefakt manipuliert, Gryff getötet und es mit Leonardo ebenfalls versucht. Ich werde dich nicht hier herausgehen lassen.« Sie ließ den Essenzstab hochschnellen. »Bis zum Ende.«
»Ach, Johanna.« Die Schattenfrau seufzte. »Du bist immer so theatralisch. Versprich nie etwas, das du nicht halten kannst. Das mit dem Artefakt war eine nette Idee, oder? Doch die kam gar nicht von mir. Siehst du, der Wechselbalg stand in der Gestalt von Max direkt neben dir, als Leonardo das Erdbebenartefakt einsetzte. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde es manipuliert. Quasi on-the-fly. Gryff musste sterben, das war unvermeidlich, und Leonardo hatte es sowieso verdient. Aber mal ehrlich: Hätte ich ihn töten wollen, läge er jetzt nicht in Theresas kleiner Kräuterstube. Du vergisst dabei übrigens noch etwas.«
»Vermutlich eine Menge.«
»Ich meine damit Folgendes: Oh, du böse Schattenfrau hast Mark getötet, hast Nostradamus in eine Statue verwandelt, Jen und Alex in eine Falle gelockt. Du hast das Contego Maxima gestohlen und dann, als der Gassenjunge und Miss Arroganz schon dachten, sie hätten es geschafft, sie an einen Ort ohne Wiederkehr geschickt.«
Ein eisiger Schreck durchfuhr Johanna. »Jen und Alex? Was ist mit ihnen?«
»Wie immer setzt du deine Prioritäten falsch, meine Gute. Sag doch lieber mit einem ausreichenden Maß an Entsetzen: das Contego Maxima?!«
Johanna starrte mit schreckgeweiteten Augen zu ihrer Feindin. Falls diese den absoluten Schutz besaß, konnte niemand sie aufhalten. Andererseits spürte sie zwar die Schattensphäre, die aus düsterer Nebelmagie bestand, doch darüber hinaus gab es keinen derart starken Schutz.
»Deine Gedanken sind dir auf dem Gesicht abzulesen.« Die Schattenfrau fühlte sich offensichtlich nicht im Mindesten verängstigt, obgleich in diesem Augenblick eine Horde Ordnungsmagier die Bibliothek stürmte. Angeführt von Tomoe und Eliot Sarin bildeten sie einen Kordon unter dem Balkon. Damit fehlte nur noch Einstein. »Du wirst auf ewig im Immortalis-Kerker schmoren.« Johanna spie die Worte förmlich aus.
»Nicht wirklich. Aber bevor unser kleiner Plausch gestört wird, fehlt noch etwas.« Sie riss den Stab in die Höhe, deutete auf die Regalreihen mit den Folianten und rief: »Ignis aemulatio.«
Magisches Feuer entstand. Johanna wob sofort ein Symbol, um den Flammen jeden Sauerstoff zu entziehen, doch sie wurden aus der Essenz ihrer Feindin gespeist und entzogen sich den Gesetzen der Physik. Sie sprang nach vorne. Stab traf auf Stab. Funken flogen, als die beiden magischen Erweiterungen ihrer Sigile gegeneinander ankämpften. Wie Schwerter führten sie die Essenzstäbe. Ringsum teilten sich die Flammen, fraßen sich in Bücher, Papyri, Regale, Sitzmöbel. Die Bibliothek verwandelte sich binnen Minuten in ein Flammenmeer.
»Du Wahnsinnige!« Johanna tauchte unter einem Hieb weg, führte ihren Stab gegen das Nebelfeld. Ein Schmerzensschrei erklang. »Du bist also nicht unverwundbar.«
»Mitnichten, meine Liebe«, erwiderte die Feindin. »Du jedoch ebenso wenig.«
Der Kraftschlag traf sie frontal. Johanna segelte über die Brüstung, hinein in die Flammen. Im letzten Augenblick schützte sie ihren Körper vor der Hitze, ließ Sauerstoff direkt in ihrem Mund und in der Nase entstehen, legte ein Flammensiegel um den eigenen Körper. Auf dem Balkon brach eines der größeren Regale zusammen. Die Schattenfrau stieß sich vom Boden ab, flog langsam empor. Die eine Hälfte ihres Nebelfeldes bestand aus Flammen, die andere aus lichtschluckender Schwärze. Sie lachte, schwebte über allem wie ein Gestalt gewordener Racheengel.
Die Ordnungsmagier versuchten, das Feuer zu löschen. Ihre Verzweiflung wuchs. Tomoe und Albert, der soeben eintraf, nutzten Aufrufzauber, um die unbeschädigten Bücher aus dem Raum zu werfen. Gleichzeitig starteten sie unablässig Attacken gegen die Schattenfrau. Sie verpufften sinnlos. Wer auch immer unter dem Nebelfeld steckte, war sehr alt und unglaublich stark.
»Wir werden sehen, wie ihr ohne das Wissen auskommt, das über Jahrhunderte gesammelt wurde«, hallten die Worte der Feindin zu ihnen herüber. »Ihr verdient es nicht.«
Johanna wollte sich das Gesäusel nicht länger anhören. Sie ließ die Essenz zusammenfließen, wartete, bis die Schattenfrau sich ihr wieder zuwandte, und brüllte: »Potesta Maxima.« Der Schlag schleuderte die Feindin rücklings zwischen die brennenden Regale.