Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 73
20. Ein Abschied auf Zeit
ОглавлениеDer Schmerz des Aufpralls presste Johanna die Luft aus den Lungen. Anfängerfehler, fluchte sie lautlos. Niemals hätte sie auf dem gefährdeten Untergrund landen dürfen. Doch für Selbstvorwürfe war es zu spät.
Chloe verlor soeben das Bewusstsein.
Johanna riss ihren Stab empor und zeichnete blitzschnell ein Schutzsymbol. Gerade, als die Flammen nach der Lichtkämpferin griffen, wurde sie von einem schimmernden Gebilde umschlossen. Sie schwebte hinaus aus der Bibliothek.
Wie ein Rachedämon erhob sich die Schattenfrau. Holzscheite wurden zur Seite geschleudert. Zwischen Rauch und Feuer konnte Johanna fast nichts mehr sehen. Sie hörte Tomoe, die Worte brüllte. Albert antwortete. Die fernen Silhouetten von Ordnungsmagiern rannten umher.
»Man kann kaum glauben, dass ihr so lange überlebt habt«, höhnte die Schattenfrau. »Ein dilettantischer Haufen mit mehr Glück als Verstand.«
»Immerhin haben wir deine Flucht verhindert«, entgegnete sie.
»Du bist eine Närrin, Johanna von Orléans. So lange hast du bereits gelebt, so oft gesehen, wie das Böse sich erhebt, doch momentan bist du mit Blindheit geschlagen. Schau hinaus in die Welt. Nichts hat sich verändert! Der ewige Ablauf aus Tod und Verderben, Verrat und Einsamkeit. Die Menschen vegetieren in einem Leben dahin, von dem sie glauben, es biete ihnen Freiheit.« Sie lachte auf. »Eine Illusion.«
»Die Zerstörung des Walls würde nur eines bedeuten: Krieg. Magier würden einander offen bekämpfen, machtgierige Nimags einen Pakt mit der falschen Seite schließen.« Johanna spannte die Muskeln an, war jederzeit auf einen Angriff gefasst. »Die Welt ist, wie sie schon immer war. Es geht langsam und stetig in die richtige Richtung.«
»Die Welt hat mir alles genommen«, kam es flüsternd zurück. »Nun werde ich der Welt alles nehmen. Mein Ziel liegt nahe, keiner von euch kann mich noch aufhalten. Kämpft, so lange ihr wollt. Doch begreife, dass ich meinen Feinden stets einen Schritt voraus war und es auch immer sein werde.« Der Essenzstab verschwand im Nebelfeld.
Johanna formulierte die Worte für eine Transformation, um das Feuer um die Schattenfrau erstarren zu lassen, als diese sich einfach auflöste. Wenige Meter entfernt, hoch über ihr, erschien sie wieder. »Wie …?«
»So viele Geheimnisse, so viel Nichtwissen. Und du dachtest wirklich, ihr hättet eine Chance?«
Lachend schwebte ihre Feindin zum Portal, das aus dem Wechselbalg entstanden war. Lichtblitze schossen auf sie zu, erzeugt von den Ordnungsmagiern, Tomoe und Albert. Doch sie gingen daneben oder verpufften wirkungslos an dem Schutz, der die Schattenfrau umgab. Sie erreichte die geballte Schwärze, drang in sie ein und war fort. Kurz darauf diffundierte das Portal in ein feines Nebelgespinst – und verwehte.
In der Ferne krachte ein weiteres Regal zusammen.
Johanna kämpfte sich durch die Trümmer zur Tür. Sie griff nach ihrem Kontaktstein. »Albert, Tomoe.«
»Johanna?«, erklang die lautlose Stimme ihres Freundes. »Was ist passiert? Bist du in Ordnung?«
»Auf dem Weg in Richtung Tür«, sagte sie. »Evakuiert den Raum. Sie ist fort.«
Als sie den Ausgang endlich erreichte, waren die anderen beiden Unsterblichen bereits da.
Tomoe betrachtete sie von oben bis unten. »Du scheinst nicht verletzt zu sein.«
»Nur mein Stolz«, erwiderte sie. »Das Feuer hat keine Quelle mehr, die Ordnungsmagier müssen es löschen. Theresa kümmert sich um alle Verletzten. Albert, wir brauchen die anderen Ratsmitglieder und Lichtkämpfer.«
Johanna ließ alle Zauber verwehen und hob das Siegel um das Castillo auf. Schwer atmend sank sie an der Wand zu Boden. Der Stein verströmte angenehme Kühle.
»Sie hat uns hereingelegt«, fluchte Einstein, während er nach seinem Kontaktstein griff. Kurz darauf fiel das Siegel, das alles hermetisch abgeriegelt hatte.
»Und nicht zu knapp.« Johanna keuchte. Ihre Kondition war nicht die beste, sie hielt sich zu oft hier im Castillo auf. »Das Archiv versiegeln. Eine derartige Idee muss man erst mal haben.«
»Brillant«, gestand Tomoe zähneknirschend. »Damit schneidet sie uns von jedem Wissen ab; von allen älteren Aufzeichnungen. Meinst du, die Archivarin kann das Siegel von innen brechen?«
Johanna wiegte den Kopf in einer Geste der Unsicherheit hin und her. »Bisher haben sich die Angriffe der Schattenfrau als ziemlich wirksam entpuppt. Sie wird es zweifellos versuchen, aber wir müssen hier draußen auch alles daran setzen. Mit der vereinten Kraft des Rates wird es gelingen, da bin ich voller Hoffnung.«
Albert trat zu ihnen. »Eliot koordiniert seine Männer. Sie werden das Feuer in den Griff bekommen, aber es ist hartnäckig. Die Bibliothek ist verloren. Wir müssen alles neu aufbauen. Die Schriften sind natürlich verbrannt.«
Johanna schloss die Augen. Es war eine Sache, dass sie nicht mehr an eingelagertes Wissen herankamen, bis das Siegel der Schattenfrau aufgehoben war. Doch hier waren Unikate zerstört worden. Es gab keinen Ersatz. Einige dieser Werke hatte sie selbst zusammengetragen. »Es ist, wie es ist. Wir werden neues Wissen finden. Es gibt genug vergessene Schriften auf der Welt, geheime Bibliotheken und Katakomben. Wir werden Buch für Buch bergen. Außerdem werden die Archivare gewiss die eine oder andere Abschrift besitzen.«
»Falls sie noch am Leben sind«, sagte Tomoe. Die Freundin wirkte selbst mit zerzaustem Haar und rußgeschwärztem Gesicht elegant. »Tut mir leid, aber jemand muss es aussprechen. Zum einen wissen wir nicht, welche Wirkung das Siegel auf das Innere des Archivs hat. Zum anderen tickt die Uhr. Auch die Archivarin und die ihr Unterstellten sind Menschen. Ohne Nahrung und Wasser werden sie sterben. Wir müssen diese Barriere zügig überwinden.«
»Da stimme ich dir zu.« Johanna sog die klare reine Luft tief in ihre Lungen. »Doch zuerst müssen alle darüber informiert werden, was hier heute geschehen ist.«
»Du willst es ihnen sagen?«, fragte Tomoe ungläubig. »Alles?«
»Natürlich. Wenn die vergangenen Ereignisse eines gezeigt haben, dann, dass unsere Feindin jedes Mittel gegen uns einsetzt. Sie sät Zwietracht und Angst. Keine Geheimnisse mehr. Die Lichtkämpfer erfahren, was hier heute geschehen ist. Nur so können wir verhindern, dass sich etwas Derartiges wiederholt.«
Tomoe wirkte skeptisch. »Wenn du das für den richtigen Weg hältst, werde ich mich nicht dagegenstellen. Allerdings glaube ich eher, dass das für Unsicherheit und noch mehr Angst sorgen wird.«
Albert schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Johanna hat recht. Es wird das Vertrauen stärken, das die Lichtkämpfer in uns setzen.«
Bevor Tomoe darauf etwas erwidern konnte, hob Johanna die Hand. »Diese Diskussion sollten wir später fortsetzen. Es gibt genug zu tun. Die Teams müssen neu zugeteilt werden. Es gilt herauszufinden, wie der Wechselbalg hereinkam, und das Siegel um das Archiv muss schnell fallen. Zudem …«
Sie taumelte.
Im gleichen Augenblick spürten es auch Tomoe, Einstein und alle anderen versammelten Lichtkämpfer. Wie ein schlafender Drache, der sich brüllend erhob, wogte das Gefühl über sie alle hinweg. Schmerz, Übelkeit, noch mehr Schmerz. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild. Ein Mann, abgekämpft, verwundet, am Ende all seiner Kräfte.
»Max«, hauchte Albert.
»Oh nein.« Tomoe erbleichte.
Johanna konnte nur zitternd dastehen. Machtlos musste sie dem Verhängnis zusehen. Schließlich flüsterte sie: »Aurafeuer.«