Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 71
18. Unkraut vergeht nicht
ОглавлениеChloe rannte in Richtung Bibliothek. Beinahe hätte die Attacke aus dem Hinterhalt sie erledigt. Einzig ihrem Instinkt war es zu verdanken gewesen, dass der Wechselbalg sie nicht hatte erledigen können. In der Ferne erkannte sie Kevin, der in Richtung Globenraum unterwegs war. »Hey!«
Er hielt inne. »Chloe. Geht es dir gut? Du blutest. Es war Max.«
»Ich weiß.« Sie drückte ihm den Kontaktstein in die Hand. »Den hatte das Mistding. Hat mich angegriffen und wollte meine Haut zu Stein werden lassen. Wenn Eliot und seine Jungs nicht vorbeigekommen wären und mich befreit hätten, wäre ich jetzt eine hübsche Gartendekoration. Mit dem Kontaktstein kannst du den echten Max finden, sie sind noch immer verbunden – falls er am Leben ist. Beeile dich besser.«
Sie ließ ihn stehen und rannte zur Bibliothek. Der Wechselbalg hatte am Ende davon gesprochen, dass er für die letzte Etappe dorthin gehen würde. Schon von Weitem konnte sie erkennen, dass im Inneren gekämpft wurde. Clara war scheinbar über die Brüstung gefallen, hatte sich aber noch abfangen können.
Chloe schlug sich in den rückwärtigen Teil der Bibliothek durch, stieg die hintere Wendeltreppe auf den zweiten Balkon hinauf. Direkt vor ihr lag Chris. »Mensch, du kriegst es aber auch ständig ab, was?«
Der Freund war bewusstlos. Sie wirkte einen Schwebezauber, der ihn über die Brüstung nach unten und aus der Bibliothek in Richtung Krankenflügel schickte. Vermutlich würde er ordentlich fluchen, wenn er nach dem Aufwachen schon wieder Theresa vor sich sah. Unweigerlich musste sie schmunzeln.
Dann kam das Feuer.
Die Schattenfrau versiegelte das Archiv und setzte die Bücher in Flammen. Chloe trabte die Treppe weiter empor, hinauf auf den dritten Balkon. Sie wob einen Schutz um ihren Körper und schlich zur Balustrade. Langsam zog sie die Sigilklinge hervor, die der Wechselbalg beim Kampf verloren hatte. »Wie wäre es mit ein wenig eigener Medizin«, flüsterte sie. Ihr Schädel pochte. Die verdammte Kreatur hatte ihr einen ordentlichen Schlag versetzt, der ihr beinahe das Bewusstsein geraubt hatte. Nur deshalb hatte er den Steinzauber auf sie legen können. »Aber nicht mit mir.«
Sie wartete auf den geeigneten Moment.
Johanna flog über die Brüstung, stieg jedoch in die Höhe und führte einen Kraftschlag aus. Die Schattenfrau wurde quer durch den Raum katapultiert und krachte in ein Regal auf der zweiten Ebene. Chloe rannte zur Treppe, sprang hinunter, rollte zwischen den Feuerzungen hindurch und kam wieder hoch. Die Feindin erhob sich gerade, als Chloe ausholte und zustieß. Ein Schrei erscholl, als die Klinge das Nebelfeld durchstieß. Ein Schlag traf sie, ließ ihren Körper gegen das nächste in Flammen stehende Regal krachen. Die Schattenfrau zog die Sigilklinge aus ihrer Seite, hielt sie in die Höhe. Mit aufgerissenen Augen starrte Chloe auf das Artefakt, das zerbröselte.
»Ah, und ich habe mich schon gefragt, ob es tatsächlich geschieht.« Das Flüstern drang heiser und bösartig aus dem Nebelfeld hervor. »Herzlichen Glückwunsch, Chloe, du hast die Sigilklinge zerstört. Du kannst stolz auf dich sein.« Die Schattenfrau taumelte. Blut floß aus einer Wunde zu Boden, löste sich jedoch auf, bevor es in die Flammen tropfen konnte. »Wenn du darauf hoffst, mich damit getötet zu haben, muss ich dich enttäuschen. Das Nebelfeld hat den Effekt der Klinge neutralisiert. Verletzt hast du mich, sterben werde ich jedoch an einem anderen Tag.«
Chloe kam in die Höhe. »Wie hast du so schön zu Johanna gesagt: Versprich nichts, was du nicht halten kannst.« Sie richtete den Essenzstab aus. »Potesta Maxima. Ignis Aemulatio.«
Der Schlag warf die Schattenfrau zurück. Sie schwankte. Aus ihrem Nebelfeld züngelten Flammen empor. Ein blutroter Schleier legte sich auf Chloes Blickfeld. Sie zeichnete Symbole, initialisierte Kampfzauber mit Worten und schwang ihren Essenzstab gegen die Feindin. Attacke um Attacke leitete sie ein. Doch die Schattenfrau hielt stand. Sie war geschwächt, zweifellos, aber noch nicht am Ende.
»Ich habe, was ich will.« Die Feindin wehrte einen weiteren Kraftschlag Chloes ab, bewegte sich auf das Portal zu, das in der Ferne schwebte. Wie es auch immer hierhergekommen war, sie würde nicht zulassen, dass das Weib entkam.
»Du kannst mich nicht aufhalten, Chloe.« Die Feindin hielt inne, schaute zwischen herabregnenden Trümmern und Flammen zurück. »Glaub ja nicht, dass du entkommen wirst. Ihr spielt nach meinen Regeln, ob ihr es begreift oder nicht. Am Ende steht euer Tod. Kein einziger Lichtkämpfer wird überleben. Wenn du mit sterbenden Augen in mein wahres Antlitz schaust, wirst du den Schmerz darin erkennen, für den ihr alle verantwortlich seid. Es gibt keinen Unschuldigen unter euch.«
»Du hörst dich gerne reden, oder?« Chloe ballte die Linke so fest zur Faust, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Du bringst uns allein durch dein Geschwafel um.«
Die Flammen leckten über die Decke, durchsetzten den Boden. Ein Nimag wäre längst zu Asche verbrannt gewesen, aber zuvor an einer Rauchvergiftung gestorben. Das lodernde Orangerot, der Geruch nach brennendem Holz und das Knistern von Papier erschufen das Bild eines Infernos. Sie standen inmitten der Flammen, Auge in Auge. Für einen kurzen Moment spürte Chloe etwas Vertrautes. Das war unmöglich, doch wie die Schattenfrau dastand, ihre Haltung, ihre Gestik, die Wahl ihrer Worte, glaubte Chloe, sie schon einmal gesehen zu haben. Irgendwann. Irgendwo. Oder zumindest jemanden, der ihr ähnelte. Sie wollte den Gedanken greifen, aber er verschwand.
Ein Bild in einem Buch? Eine alte Aufzeichnung? Sie zerbrach sich den Kopf, doch ihr Geist stellte keine Verbindung mehr her. Die in Nebel getauchte Silhouette war wieder so unbekannt wie zuvor.
Spielt es eine Rolle?
Nach allem, was die Schattenfrau angerichtet hatte, war es Chloe egal, wer sie war. Sie wollte, dass die Feindin für ihre Morde bezahlte. Selbst wenn am Ende eine große Persönlichkeit der Menschheitsgeschichte unter dem Schattenfeld steckte, änderte das gar nichts.
»Leb wohl, Chloe.« Die Feindin wandte sich wieder dem Portal zu, rannte durch die Flammen darauf zu.
Kurz bevor sie es erreichte, schwebte Johanna von oben herab, den Essenzstab auf die Schattenfrau gerichtet. Sie landete auf dem Balkon. »Es ist genug. Leg deine Waffen nieder und auf dich wartet lediglich der Immortalis-Kerker. Kämpfe weiter und ich beende dein zweites Leben hier und jetzt.«
Chloe machte sich dazu bereit, ebenfalls in das Geschehen einzugreifen. Mittlerweile lechzten die Flammen nach der Decke des Raumes. Doch die anderen hatten Sicherungsmaßnahmen ergriffen. Wände und Decke wiesen das Feuer ab. Der gemeinsame Schutz versiegelte das Material. Die meisten Bücher, Folianten und Papyri waren verloren, aber immerhin würde das Castillo heute nicht abbrennen.
»Na, wenn das so ist.« Die Schattenfrau machte einen Schritt zurück, richtete den Essenzstab zu Boden. »Dann werde ich mich wohl ergeben. Hm. Wenn ich es mir recht überlege, tue ich das doch nicht.«
Ein Kraftschlag krachte in den Holzuntergrund des Balkons, der längst völlig instabil geworden war. Die gesamte Umgebung schien mit einem Mal in eine grausame Zeitlupe getaucht. Fliegende Funken, lodernde Flammen, knackendes Holz. Der Rauch wallte auf, als der Boden wegbrach.
Johanna ruderte mit den Armen. Sie wollte einen Zauber weben, kam jedoch nicht mehr dazu. Die Schattenfrau stand einfach nur ruhig da und erwartete den kommenden Sturz. Chloes Gedanken rasten, doch ihr Körper reagierte so zäh, als bewege sie sich in Sirup.
Der Boden war fort.
Als habe jemand die Play-Taste bei einem Video gedrückt, lief alles wieder normal ab. Sie fiel. Flammen schossen an ihr vorbei, Holzsplitter wirbelten durch die Luft, oben wurde zu unten.
Sie fielen hinab in ein orangerotes, tödliches Meer.