Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 82
2. Kriegsrat
Оглавление»Halt! Hier entlang.« Jen deutete auf einen heruntergekommenen Holzzaun. Die einzelnen Latten hingen schief an den Streben, die aufgesprayten Sprüche wimmelten vor Rechtschreibfehlern, angeschlagene Plakate hatten sich längst in Fetzen verwandelt.
Sie hatte ihn vom nordöstlich gelegenen Shoreditch weiter durch das East End geführt, die Brick Lane entlang nach Süden, bis sie schließlich Whitechapel erreichten. Die Straßen waren trotz des schlechten Wetters mit Touristen aller Couleur gefüllt.
»Unser Ziel ist ein Lattenzaun?«
»Eher das, was dahinter liegt«, erwiderte Jen grinsend. Sie zog ihren Essenzstab und zeichnete ein magisches Symbol auf das Holz. Die magentafarbene Essenz blieb sichtbar, bis der Zauber vollendet war. »Aditorum.«
Ein Teil der Latten verwehte, als bestünde er aus Nebel. Gemeinsam traten sie durch die Öffnung, die sich hinter ihnen wieder schloss. Sie standen in einer schmalen Gasse, die von alten Gaslaternen gesäumt wurde. Zu beiden Seiten wuchsen Backsteinwände in die Höhe, an denen magische Zeichen angebracht worden waren.
»Was ist das hier?«, fragte Alex flüsternd.
»Du kannst normal sprechen«, erwiderte Jen. »Dieser Teil stammt noch aus der Zeit, als die Brick Lane Whitechapel Lane hieß. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Damals immigrierten viele Iren hierher, die Einwohnerzahl stieg sprunghaft an. Zu dem Zeitpunkt errichtete der Rat weitere sichere Häuser überall auf der Welt. Sie nutzten Illusionierungen, um das Areal weitläufig zu verbergen.«
»Aber Nimags können Magie doch sowieso nicht sehen, oder?«
Jen nickte. »Magie nicht. Areale, Häuser und Personen jedoch schon. Daher wurde quasi das Gesamtpaket verpackt. Natürlich soll es auch vor Schattenkriegern verborgen bleiben.«
Sie erreichten eine Holztür, die so schmal war, dass Alex sich seitlich hindurchzwängen musste. Die Treppenstufen waren hoch und niedrig, breit und schmal. Es wirkte, als habe ein unfähiger Architekt aus nicht zueinanderpassenden Bausteinen ein abstruses Gesamtwerk erschaffen. Die Stufen knarzten. In der Luft lag der Geruch von Staub.
Jen führte ihn durch eine weitere Tür. Ein ausladender Raum nahm Alex auf. Die Dielen waren von einem dicken Teppichboden bedeckt. An den Wänden wuchsen Regale mit alten Büchern darin krumm in die Höhe. Eine verschlissene Sitzcouch würde vermutlich zusammenbrechen, wenn er sich darauf niederließe. Die gesamte gegenüberliegende Front war mit eckigen und runden Fenstern ausgekleidet, die direkt nebeneinander und übereinander lagen.
Ein Mann und eine Frau betraten den Raum.
Leonardo da Vincis Hemd spannte sich über der breiten Brust. Seine dunklen Locken fielen ihm bis auf die Schultern. An einem Lederband hing der kobaltblaue Kontaktstein um den Hals des Unsterblichen, in die Ledermanschette am Arm war das Permit eingepasst. »Ah, ihr habt euch Zeit gelassen.«
Johanna verdrehte genervt die Augen. »Heute bist du wirklich unausstehlich.« Sie trug das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es fiel ihm immer wieder schwer, in der vierzigjährigen Frau das Mädchen zu sehen, das auf dem Scheiterhaufen gelandet war.
»Ich habe schlecht geschlafen«, verkündete Leonardo.
»Ja, klar. Dir fehlt nur dein widerliches Gummibärchenzeug.«
Er würdigte die Bemerkung nicht mit einer Antwort. Stattdessen ging er zum Bücherschrank, zog einen Folianten hervor und knallte ihn auf den Tisch. Er wackelte bedrohlich, hielt der Last jedoch stand.
Erst beim zweiten Hinschauen realisierte Alex, was da lag. »Der Foliant!«
»Du kleiner Blitzmerker«, sagte Jen.
»Du hast ihn lesbar gemacht!« Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Deshalb warst du in den letzten Tagen so beschäftigt. Ständig hast du mich vertröstet, dabei hast du Nostradamus' Anweisung schon längst umgesetzt.«
»Schuldig im Sinne der Anklage. Es tut mir leid. Ich wollte … weißt du, es ist mein Erbe. Im Beisein aller anderen wieder silberne Schwebemaid zu spielen, hat sich nicht richtig angefühlt.«
Alex überlegte kurz. »Okay, das verstehe ich.«
»Wie bitte? Einfach so?«
»Jeder hat seine kleinen Geheimnisse. Aber warum sagst du es mir jetzt? Wo sind die anderen?« Alex blickte zwischen den Unsterblichen hin und her.
»Setzen wir uns.« Johanna deutete in Richtung Tisch.
Es war ein wenig seltsam. Vier Menschen quetschten sich auf viel zu kleine Stühle, die bei jeder Bewegung wackelten.
»Zuerst einmal das Wichtigste«, begann Leonardo. »Alles, was wir hier besprechen, darf diesen Raum niemals verlassen. Das Haus ist nicht nur ein sicherer Rückzugsort, es gehört auch zu den wenigen Arealen, die in keiner offiziellen Karte verzeichnet sind.«
»Toll, noch mehr Geheimnisse«, grummelte Alex.
Leonardo funkelte ihn böse an. »Vielleicht ist mir etwas entgangen, aber vor Kurzem sind einige unserer Freunde gestorben, ich selbst wäre beinahe fällig gewesen. Wir hatten einen Wechselbalg im Castillo und die Schattenfrau fand nicht nur Zugang, sie hat auch das Archiv versiegelt. Bis jetzt haben wir noch keinen Weg hineingefunden. Das verdammte Weib ist intelligent und hinterhältig. Willst du das Risiko eingehen, dass sie an die Informationen aus diesem Folianten kommt?« Er legte die Hand auf den Einband.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Alex kleinlaut.
»Wir haben unsere Gründe für die Geheimniskrämerei, wie du gleich begreifen wirst«, warf Johanna ein. »Der Kreis der Eingeweihten muss so klein wie möglich gehalten werden.«
Ein Tablett schwebte ins Zimmer, auf dem eine Tasse Tee für ihn, ein Kaffee für Jen, ein Energydrink für Leonardo und eine Limonade für Johanna standen.
»Also gut. Du warst ja dabei, als Nostradamus mir gezeigt hat, wie man den Folianten lesbar macht«, erklärte Jen. »Vor einigen Tagen habe ich es tatsächlich versucht. Es hat funktioniert.«
»Silberne Schwebemaid?«
»So was von. Die Prophezeiungen haben sich in meinem Kopf gebildet und dieses Mal sind sie auch geblieben. Ich erinnere mich an jedes Wort. Außerdem wurde ein Teil des Folianten lesbar.«
»Nur ein Teil?«, fragte Alex.
»Scheinbar entscheidet das Buch selbst, was wann wichtig ist. Die Prophezeiungen beziehen sich definitiv auf das Kapitel, das ich lesen konnte. Es geht um den Wall. Damals kamen sechs Lichtkämpfer und sechs Schattenkrieger zusammen, um ihn zu erschaffen.«
»Soweit bekannt«, warf Alex ein. Ein böser Blick von Leonardo brachte ihn sofort wieder zum Schweigen.
»Dem Ganzen gingen lange Verhandlungen voraus, bevor man die zwölf Mächtigsten überzeugen konnte. Es gab Vorbehalte auf beiden Seiten. Außerdem mussten diverse Utensilien beschafft werden, uralte Artefakte, darunter auch der Onyxquader. Kurz und gut: Im Augenblick der Entstehung kam es zu einer Rückkopplung, die die Erschaffer erfasste. Möglicherweise ein Problem mit einem Artefakt, vielleicht ein Fehler im Spruch, ich weiß es nicht. Doch das Resultat bestand darin, dass sich bei jedem ein Teil seines Sigils löste und außerhalb des Körpers manifestierte.«
Jen hielt inne.
Leonardo ließ ein paar Leuchtkugeln entstehen, die unter die Zimmerdecke glitten und die immer größer werdenden Schatten vertrieben. Regen prasselte gegen die Fenster.
»So etwas gibt es? Sigile, die außerhalb des Körpers Form annehmen?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Johanna. »Das ist das Problem. Wir wissen nicht, was genau damals geschah. Die Sigilsplitter verschwanden. Wir dachten alle, dass sie sich mit dem Tod der Magier einfach in einem neuen Erben manifestieren würden. Doch dem war offensichtlich nicht so. Sie erhielten eine physische Form.«
»Das zumindest besagt Joshuas Text«, ergänzte Jen. »Drei Sigilsplitter entstanden, die in ihrer materiellen Manifestation überall auf der Erde versteckt sind. Jeder einzelne trägt ein gewaltiges Machtpotenzial in sich, da ein Magier ihn mit seinem eigenen Sigil verbinden könnte. Dadurch würde er viel mächtiger werden.«
»Ich habe da eine ziemlich böse Ahnung«, murmelte Alex.
»Oh, wir auch, sei dir da gewiss«, kam es von Leonardo. »Die Vermutung liegt nahe, dass die Schattenfrau genau danach sucht.«
»Warum? Woher soll sie davon erfahren haben?«
»Joshua schreibt mehrfach, dass ein Schatten nach den Sigilsplittern greift«, antwortete Jen an Leonardos Stelle. »Vergessen wir nicht, dass sie damals dabei war, als ich zum ersten Mal Bruchstücke der Prophezeiung verkündet habe. Und das ist nicht alles. Jede der Manifestationen trägt neben dem normalen magischen Potenzial eine Besonderheit in sich. Welche, wird nicht erwähnt. Aber in einer Sache war der letzte Seher ziemlich deutlich.« Sie schluckte schwer. »Werden die drei Splitter vereint, entsteht ein neues Sigil daraus. Joshua nennt es: Allmacht. Mit ihm könnte die Schattenfrau den Wall zerstören.«
»Shit«, entfuhr es Alex. »Kein Wunder, dass sie das Archiv versiegelt hat. Vermutlich hätten wir darin Informationen finden können. Hinweise darauf, wo und wie die Splitter zurückgekehrt sind, wo sie sich befinden.«
»Davon gehen wir ebenfalls aus«, gestand Johanna. »Glücklicherweise konnte Leonardo zumindest einen Hinweis aufspüren. Die Details findet ihr in dieser Mappe.« Sie erschuf ein magisches Zeichen, worauf besagte Aktenmappe direkt auf dem Tisch erschien. »Geht der Spur nach. Der Splitter muss sichergestellt werden.«
Alex warf einen Blick auf den vordersten Papierbogen. »Indien?«
»So ist es«, bestätigte Leonardo. »Euer erster Anlaufpunkt ist ein sicheres Haus. Dort wartet Unterstützung. Behaltet euren wahren Auftrag für euch. Offiziell geht es um eine Artefaktbergung.«
»Aye, Sir.« Alex vollführte einen militärischen Gruß.
Leonardo seufzte. »Neuerweckte.«
»Apropos.« Alex wurde sofort wieder ernst. »Warum ich? Die letzten Tage habe ich zwar ziemlich viel Neues gelernt, aber wäre jemand anderes aus dem Team nicht geeigneter?«
»Nun«, erwiderte der Unsterbliche zögerlich, »grundsätzlich hast du da recht. Im Gegensatz zu den anderen hast du jedoch scheinbar eine besondere Gabe.«
»Wie bitte?«
»Du hast davon erzählt, dass das Artefakt im ersten Castillo vor dir zurückgeschreckt ist«, warf Jen ein.
Bei der Erinnerung an die Ereignisse in dem alten Kasten wurde Alex übel. Er hatte seinen Geist in eine uralte Artefaktwaffe versenkt, in der eine bösartige Kreatur gelauert hatte. Noch heute spürte er das gierige Tasten schwarzer Tentakel, sobald er die Augen schloss. Doch aus welchem Grund auch immer: Sein Sigil war verschmäht worden.
»Wir hoffen darauf, dass dein Sigil einen speziellen Schutz besitzt«, erklärte Leonardo. »Daher wärst du für die Bergung der Splitter am besten geeignet. So können wir Nebenwirkungen ausschließen.«
Alex nickte nur. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, warum das Ding in dem Artefakt so auf die Quelle seiner Macht reagiert hatte. Was war an ihm anders? Dass es da etwas gab, hatte er längst kapiert. »Okay, legen wir los.«
Der Foliant wurde sicher verstaut, die Akte nahm er mit. Minuten später traten sie in das Sprungportal unter dem Haus.