Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 77
24. Was hat das zu bedeuten?
ОглавлениеEinige Tage später
»Du sollst dich doch noch schonen!«
Leonardo verdrehte innerlich die Augen. »Das tue ich! Siehst du mich durch das Castillo rennen?«
Sie schnaube. »Nein, aber du schickst deine Drahtflugzeuge mit kleinen Zettelchen hin und her, damit sie Anweisungen überbringen. Außerdem sichtest du die Überwacher, glaub nur nicht, dass mir das entgeht.«
Davon war er gar nicht ausgegangen. Allerdings würde er keinesfalls in seinem Bett liegen und ein Buch lesen, während die Welt der Magie in Aufruhr war. Glücklicherweise hatten sie alle Neuerweckten bergen können. Das führte dazu, dass die Gänge des Castillos überquollen vor tapsigen Welpen, die mit ihren Essenzstäben herumfuchtelten und durch ungezielte Kraftschläge Gegenstände zerstörten. Von den anderen Flausen, die sie im Kopf hatten, gar nicht zu reden.
Gleichzeitig bissen sich bisher noch alle an dem Siegel die Zähne aus, das die Schattenfrau über das Archiv gelegt hatte. Niemand kam hinein, keiner heraus. Die Bibliothek sah nach wie vor wie ein Schlachtfeld aus.
Eliot Sarin und seine Ordnungsmagier hatten die Zelle durchsucht, in der Max gefangen gehalten worden war – und Erschreckendes festgestellt: Es schien, dass sie beim Bau des Castillos entstanden war. Obendrein waren Spuren eines Zeitkokons gefunden worden. Die Schattenfrau musste beim Bau des Gebäudes dabei gewesen sein. Sie hatte den Raum erschaffen und den Wechselbalg kurzerhand in der Zeit eingefroren. Er hatte all die Jahrhunderte direkt unter ihrer Nase verbracht. Aufgrund dieser Erkenntnis wurde das gesamte Castillo nach versteckten Kammern durchsucht.
Als wäre das nicht genug, wussten sie mittlerweile, dass das Contego Maxima verloren war und Nostradamus keine weiteren Essenzstäbe mehr herstellen konnte. Natürlich gab es noch einen Vorrat, der allerdings prompt durch die ganzen Neuerweckten geschröpft worden war. Die Essenzstäbe der ursprünglichen Magier waren nirgendwo aufgetaucht, weshalb die Erben alle neue benötigten.
Mit Tilda war eine ausgezeichnete Köchin ins Castillo eingezogen. Während sie völlig neue – weil vergessene – Gerichte zubereitete, kümmerte sich vor allem Alex rührend darum, ihr die Neuerungen der Geschichte beizubringen. Vermutlich fühlte er eine gewisse Nähe zu der Frau, auch er lernte gerade eine fremde Welt kennen.
Leonardo hatte einen Blick auf den Stundenplan des Neuerweckten geworfen. Er war bis obenhin gefüllt. Er schmunzelte. Das machten alle zu Beginn. Magie war ja so toll, da musste man unbedingt alles lernen, was es gab. In zwei bis drei Wochen normalisierte sich das rapide. In etwa sechs Wochen würde er ihn dazu animieren müssen, überhaupt eine Vorlesung zu besuchen.
Nach den Ereignissen im verlorenen Castillo war Alex einige Tage Gesprächsthema gewesen. Mittlerweile hatte die Schattenfrau ihn wieder als Thema Nummer eins verdrängt.
»Ich hätte dich sowieso gerufen.« Leonardo deutete auf die Holzplatte, die an der Wand hing. Ähnlich einem Fernseher der Nimags übertrug sie soeben die Aufzeichnung eines Überwachers. Die Kugel hatte hoch in der Luft alles registriert, was in der Bibliothek geschehen war.
»Glaub nur nicht, dass du mit einem Themenwechsel so einfach davonkommst.«
»Schau es dir an.«
Er ließ die Aufnahme weiter ablaufen. Soeben betrat Max den Balkon, auf dem Clara Bücher studiert hatte. Es kam zu einem kurzen Gespräch, die Schattenfrau tauchte auf. Johanna rannte die Wendeltreppe empor. Da machte die Schattenfrau einen Schwenk mit ihrem Essenzstab, und Clara fiel über die Brüstung. Johanna rannte zum Geländer. In ihrem Rücken machte die Feindin eine schnelle Bewegung mit den Fingern, Clara fiel nach wie vor, aber ihr Sturz wurde verlangsamt.
»Sie hat Clara das Leben gerettet«, hauchte Johanna.
Leonardo nickte. Er hatte ähnlich dreingeschaut wie jetzt die unsterbliche Freundin. Alle möglichen Theorien waren ihm gekommen, bis er bei einer davon hängengeblieben war.
»Warum hat sie das getan?«
»Hast du keine Idee?«, fragte er.
Johanna verschränkte die Arme. Auf die Schreibtischkante gelehnt betrachtete sie das eingefrorene Bild der Schattenfrau, die den Sturz bremste. »Möglicherweise hat sie einen Plan, für den sie Clara noch benötigt.«
»Das mag sein«, sagte er. »Aber ich habe eine bessere Theorie. Das Weib hat die gesamte Bibliothek eingeäschert und das Archiv versiegelt. Dafür hat sie lange im Voraus geplant. Ich glaube, dass irgendwo in diesen Büchern ein Hinweis auf ihre Identität versteckt war.«
»Okay.«
»Zum Beispiel in den Bauverzeichnissen des Castillos«, erklärte er. »Weißt du, ich habe kürzlich in Ingenieursmagie eine Vorlesung zu Dimensionsfalten und dem Erbauen von geschützten Gebäuden gehalten. Darunter auch zu diesem hier. Bei der Recherche ist mir tatsächlich etwas aufgefallen, das ich aber erst nach Eliots Entdeckung der Herkunft des Raumes zuordnen konnte.«
»Ja?«
»Ein Vorfahre von Clara, ein Mann aus der Ashwell-Linie, hat am Bau mitgewirkt.«
Johanna riss die Augen auf. Sie schaute zwischen dem Bild und ihm hin und her. »Du glaubst, dass die Schattenfrau eine Vorfahrin von Clara ist? Eine Ashwell?«
Er nickte. »Sie vernichtete die Unterlagen, weil sie selbst darin vorkam. Es muss einfach Hinweise geben. Sie war hier auf der Baustelle des Castillos, hat den Raum erschaffen und einen Wechselbalg hineingesteckt. Wir hatten die Aufzeichnungen, die damals zu den Clans der Wechselbälger gemacht wurden. Möglicherweise ist sie auch darin aufgetaucht. Sie konnte die Kreatur kaum durch den Schutz ihrer Sphäre rekrutieren. Die Rettung von Clara gab schließlich den Ausschlag. Sie hat ihre Ur-ur-ur-sonstwas-Enkelin gerettet.«
Er konnte Johanna ansehen, dass sie skeptisch war. Tatsächlich gab es noch nicht viele Beweise für seine Behauptung. Andererseits war es die erste Spur überhaupt.
»Gewagt. Aber ich spiele mit. Erkläre mir bitte, wie eine Unsterbliche entstehen konnte, ohne dass wir davon erfahren haben«, verlangte sie. »Wir wurden über jeden neuen informiert, egal, ob er bei uns, im dunklen Rat oder außerhalb der Räte tätig ist.«
»Soweit wir wissen«, gab Leonardo zu bedenken. »Doch was wissen wir eigentlich?«
»Guter Punkt.«
»Letztlich tappen wir sowieso im Dunkeln. Aber es geht nicht so weiter, dass wir sie gewähren lassen«, sagte er kategorisch. »In der Zukunft müssen wir an verschiedenen Fronten gleichzeitig kämpfen. Anders wird es kaum möglich sein. Für mich hat die Aufklärung der Identität dieser Person – und ihres Plans – Priorität.« Ein Schauer rann über seinen Rücken. »Sie kennt mich, Johanna. Als der Wechselbalg für sie als Überträger gedient hat, hat sie mit mir gesprochen. Wer sie auch ist, wir müssen sie vor langer Zeit in einer Art gegen uns aufgebracht haben, die ihren grenzenlosen Hass geboren hat.«
»Das glaube ich mittlerweile auch. Nun ja, es ist kaum zu übersehen. Allerdings ist es unmöglich, die Jahrhunderte danach zu analysieren. Wir wissen ja nicht, wer sie in ihrem ersten Leben war. An Feinden mangelt es uns wohl kaum.«
»Nein, das nicht.« Leonardo strich gedankenverloren über die neue Ledermanschette, die das Permit enthielt. Es war unbeschädigt, hatte der Schattenfrau nur dazu gedient, den Zauber um das Archiv zu legen. »Wie auch immer: Ich eröffne die Jagd auf sie. Wer sie auch ist, wo sie auch ist, wir werden sie finden.« Er stand auf. »Und die erste Spur führt zu den Ashwells.«