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6. Begegnung mit einem Löwen

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Aber das hält nicht lange vor. Für die beiden Mädchen – Cornelia ist fünfzehn, Jacoba dreizehn – ist es ein Riesenspaß, ihm etwas beizubringen. Für sie ist er wohl so etwas wie der kleine Affe, den sie großgezogen haben, nachdem die Hunde im Busch seine Mutter getötet hatten. Ganze Tage verbrachten sie damit, ihm Tricks und Kunststücke beizubringen, bis er einfach zu aufdringlich und ungebärdig wurde, so dass die Jungen ihn totschlagen mussten. Kupido begreift erstaunlich schnell, was auch immer sie ihm beibringen, und wird seines Eifers wegen allmählich sogar irgendwie lästig. Und er fängt an, seine Pflichten auf der Farm zu vernachlässigen. Also setzt der Baas dem Ganzen bald ein Ende.

»Was will ein Hottentotte denn mit Lesen und Schreiben anfangen?«, fragt er. »Damit schafft er sich nur Probleme. Eines Tages glaubt er dann gar, er sei ein Weißer, und dann weiß er nicht mehr, wo sein Platz ist. Er soll seine Arbeit machen. Und wenn er so viel Zeit übrig hat, dass er sie für Lesen und Schreiben vergeuden kann – nun, ich weiß genug anderes, um ihn zu beschäftigen. Damit muss Schluss sein, auf der Stelle. Und wenn ihr Mädchen nicht hören wollt, bekommt ihr genauso eine Tracht Prügel wie er. Verstanden?«

Damit haben die Unterrichtsstunden ein Ende, nicht aber die schier unerträgliche Sehnsucht, die in seiner Brust brennt wie ein Stück glühender Kohle, die da drinnen glimmt und nicht herauskann. Er versucht noch, allein weiterzumachen, aber das ist nicht einfach, und niemand hilft ihm, wenn er nicht mehr weiterweiß. Er hat keine Schiefertafel und keinen Griffel, ganz zu schweigen von Federhalter und Papier, und es ist gar nicht so einfach, die Worte auf den Sandfleck, den er im Hinterhof glattgestrichen hat, zu kratzen. Nein, er gibt nicht auf. Aber das Brennen wird immer schlimmer.

Außerdem bringt ihn das in Schwierigkeiten, vor allem wenn er eigentlich weit draußen im Grasland die Schafe und Ziegen hüten soll. Es ist eine günstige Gelegenheit, um zu schreiben. Doch wenn es am Spätnachmittag Zeit ist, nach Hause zu gehen, und es fehlt ein Schaf, dann ist der Teufel los.

Doch selbst das hält ihn nicht davon ab. Auf der Fährte der Geschichten seiner Mutter durchstreift er weiterhin die unfruchtbaren Himmelsstriche der Farm und kümmert sich um seine Schafe und Ziegen. Und dann passiert etwas, das die Gleichförmigkeit der Tage aufbricht. Eines Nachmittags kniet er wie üblich auf einem Sandfleck und versucht, Buchstaben zu formen, als jemand sich neben ihn setzt. Wahrscheinlich ist die grimmige Hitze schuld daran, dass er nur noch verschwommen sieht, weil Schweißtropfen ihm in die Augen kullern und er nicht so recht erkennen kann, wer oder was es ist. Zuerst sieht es aus wie ein Baum. Dann verwandelt es sich in etwas Schattenhaftes. Nach einer Weile, als er es aus den Augenwinkeln noch einmal anschaut, verändert es erneut seine Gestalt. Eine riesige Gottesanbeterin. Nein. Doch ein menschliches Wesen. Ein sehr großer, muskulöser Mann.

»Wer bist du, dass du dich so an mich ranschleichst?«, fragt Kupido zögerlich.

»Ich bin Heitsi-Eibib«, antwortet der Mann.

Kupido kriegt einen solchen Schreck, dass er beinahe hintüber fällt. Doch er ist zu benommen, um sich zu bewegen. Wie eine Maus vor einer Schlange sitzt er einfach wie gelähmt da.

»Hab keine Angst«, sagt Heitsi-Eibib. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Er hält etwas zwischen Daumen und Zeigefinger und streckt es Kupido hin – den Zahn eines Löwen.

»Bind ihn dir um den Hals«, fährt er mit tiefer, leise grollender Stimme fort. »Es wird dich vor allem Übel schützen.«

Am Tag darauf und an den folgenden Tagen gewöhnt er sich allmählich an den großen Mann. Sie fangen an, sich zu unterhalten. Heitsi-Eibib kann Geschichten erzählen wie niemand sonst auf der ganzen Welt. Langsam versickert Kupidos Angst wie Wasser in trockenem Sand. Und von da an holt Heitsi-Eibib, wann immer ein Schaf oder eine Ziege streunt, sein mit Fett gefülltes Medizinhorn hervor und taucht den dünnen Dorn einer Aloe hinein, so dass nur noch eine Daumenlänge davon zu sehen ist. Den zündet er an und hält ihn in den Wind; wenn Kupido dann dem Rauch folgt, findet er mit Sicherheit das verirrte Tier. Nie wieder bekommt er vom Baas Prügel, weil er eines von den Schafen oder eine Ziege in seiner Obhut verloren hat.

Von Zeit zu Zeit, wenn er die Nacht draußen im Busch verbringen muss, bringt Heitsi-Eibib ihm bei, was er über die Sterne wissen muss. Gleich nach Sonnenuntergang, so erfährt er, muss er ganz genau hinsehen. In dem Augenblick, wenn der kleine Schwarm der Sieben Schwestern sichtbar wird, muss er so laut singen, wie er nur kann. Das bringt ihm, darauf kann er sich verlassen, Glück. Und er soll immer den Mond hoch achten, denn der ist nicht nur Heitsi-Eibib selber, sondern auch, auf irgendeine geheimnisvolle, verdrehte Art, der gute Gott Tsui-Goab, der zu Anbeginn der Zeit all die Felsen und Steine geschaffen hat, aus denen später die Menschen hervorgegangen sind. Und die Schlangen. Heitsi-Eibib zeigt ihm, dass jede kleine Quelle im Buschland von einer Schlange bewacht wird. Diese Schlange darf man nicht töten, denn dann trocknet die Quelle aus und bringt allem, was daraus sonst Leben schöpft, den Tod. Ist eine Quelle erst einmal ausgetrocknet, kann man genauso gut gleich weiterziehen. Dann ist da nur noch Stein.

Sobald es ans Jagen geht, nimmt Heitsi-Eibib ihn so richtig in die Pflicht. Mit kleinen Böcken fängt es an – Bleichböckchen, Greisbock, Moschusbock, Steinbock (nie ein Hase, denn diese widerwärtige Kreatur mit ihrer gespaltenen Lippe ist der Todesbote). Die fängt er in kunstreichen Fallen. Dann kommen größere Antilopen: Springbock, Blessbock, Kuhantilope. Die hilft Heitsi-Eibib ihm nach Hause tragen, damit er und seine Leute zu essen haben. Sie wundern sich über den Jungen, aber er verrät ihnen nichts. Er weiß, wenn irgendjemand herausfände, dass Heitsi-Eibib mit ihm auf der Jagd war, käme der Große Jäger nie wieder.

Eines Tages, damals war er wohl fünfzehn oder sechzehn, trifft er im Busch auf einen Löwen, jenseits des Streifens roter Erde, der von Ameisenhaufen übersät ist und wo ein paar vertrocknete Büsche stehen. Hier kann scheinbar nichts gedeihen, und doch sprießen immer wieder über Nacht neue Sträucher und Unterholz, wo man vorher Holz zum Verfeuern gebrochen hat. Ein Ort ist dies, wo man selbst an einem glühend heißen Tag einen schwachen kalten Lufthauch aus den Büschen wehen spürt. An dem Nachmittag taucht, als er eine verirrte Ziege sucht, plötzlich ein Erdmännchen vor ihm auf. Nicht weiter verwunderlich. Außer dass das Erdmännchen zu sprechen anfängt.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragt das Erdmännchen mit einer für ein so kleines Wesen sonderbar tiefen Stimme.

»Das geht dich nichts an«, sagt Kupido.

»Glaubst du

Urplötzlich steht da plötzlich nicht mehr ein Erdmännchen, sondern eine große Elenantilope.

»Aber jetzt hast du Angst vor mir, oder?«, fragt die Elenantilope.

Die Antilope, die vor ihm steht, ist doppelt so groß wie er, aber Kupido kann für seine Größe ganz schön frech sein.

»Warum sollte ich denn Angst vor dir haben?«, höhnt er.

Damit hat er nicht gerechnet – im Handumdrehen steht da keine Antilope mehr, sondern ein Löwe. Ein Prachtstück von Löwe. Der geschmeidige Körper ist fahlbraun, die schwarze Mähne wild und zerzaust, die tiefgründigen goldfarbenen Augen glimmen wie glühende Kohle. Und riesengroß ist er. Größer als jeder Löwe, von dem Kupido je gehört hat.

Kupido spürt, wie Angst seine prallen kleinen Hoden umklammert und sie zusammenpresst, bis ihm Tränen in die Augen steigen. Sich umdrehen geht nicht, denn dann greift der Löwe ihn von hinten an. Näher auf ihn zugehen ist auch nicht möglich. Er kann nichts weiter tun, als nicht von der Stelle weichen und hoffen, dass es schnell vorbei ist.

Doch dann ist Heitsi-Eibib neben ihm. Sehen kann er ihn nicht, nur hören. Das Rauschen von Wind in einem großen Baum mit Vögeln im Gezweig.

»Schau ihn an, den Löwen«, sagt Heitsi-Eibib so leise, es hätte auch der Wind sein können.

»Das ist nicht der richtige Augenblick, um zu schauen, es ist die Zeit zum Schießen«, widerspricht Kupido.

»Schau ihm direkt in die Augen und sag: ›Whaa!‹«

Kupido schaut. Doch in seiner Kehle, wo angeblich die Stimme sitzt, steckt ein Brocken so groß wie eine Tsamma-Melone.

Vor ihm der Löwe senkt langsam den großen Kopf. Sein Schwanz wischt in dem hohen gelben Gras hin und her.

»Schau ihn an«, sagt Heitsi-Eibib. »Sprich mit ihm.«

Kupido spürt Angst und die Pisse an seinen Beinen hinuntertröpfeln.

In dem Augenblick geht der Löwe zum Angriff über. Kupido starrt direkt in seine gelben Augen. Von irgendwoher, er hat keine Ahnung, woher, findet er plötzlich einen Lautsplitter in seiner Kehle, und er brüllt: »Whaaaaaa!«

Unwillkürlich schließt er die Augen.

Als er sie wieder aufmacht, liegt der Löwe ungefähr zehn Schritt vor ihm auf dem Boden, tot. Heitsi-Eibib ist verschwunden. Das Einzige, was sich auf dem weiten Feld regt, ist der Wind, wispernd wie ein Mensch.

Er hat sein Messer dabei. Viel macht es nicht her, ist eher ein unnützes Ding, mit dem man kaum einen Frosch häuten kann. Seine Mutter hat ihm gesagt, sein Vater habe es ihr gegeben. Wer auch immer sein Vater gewesen sein mag. Zumindest ist es ein Messer mit einer Klinge.

Allmählich kühlt die Pisse an seinen krummen Beinen ab; Kupido wagt sich näher und hockt sich neben dem Haupt des Löwen hin. In der Mähne sieht er Läuse herumkrabbeln. Das beruhigt ihn. Die Laus war das erste Lebewesen, das die Botschaft des Mondes von Tod und Auferstehung zu den Menschen brachte, ehe der Hase alles durcheinanderbrachte. Zögerlich betastet er den Körper des Löwen. Rollt ihn auf den Rücken. Dann beginnt er mit dem Messer draufloszuhauen. Die ganze Nacht hindurch müht er sich ab, häutet das Vieh. Glücklicherweise steht der Mond groß und hell am Himmel, und er weiß, es ist Tsui-Goab, der voll strahlenden Wohlwollens auf ihn herabblickt. Er verspürt nicht einmal Müdigkeit.

Bei Tagesanbruch, als der Himmel sich rot färbt, ist Kupido fertig. Er rollt das Fell, die glatte Feuchte nach innen, zusammen und wirft es sich über die Schulter. Als er aufblickt, sieht er seine Schaf- und Ziegenherde näherkommen; auch das streunende Tier ist dabei.

Er macht sich auf den Rückweg. Sie folgen ihm.

Nachmittags kommt er im Wirtschaftshof an.

In der Küchentür taucht der Baas auf; mit der Hand schirmt er die Augen vor der Sonne ab.

»Kupido!«, ruft er. »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt? Was, in Gottes Namen, hast du gemacht?«

Mit einem Schulterzucken wirft er das Fell ab. Im Hintergrund sieht seine Herde teilnahmslos zu.

»Ich habe Ihnen einen Löwen gebracht«, verkündet er seelenruhig. »Der wollte sich eine von den Ziegen holen.«

»Wie hast du ihn erlegt?«

»Ich habe ›Whaaa‹ gebrüllt.«

»Was?!«

»Ich habe ›Whaaa‹ geschrien, und da ist er tot umgefallen.« Er wird allmählich selbstsicherer. »Der kann sich nicht mehr einfach so unsere Ziegen holen, Baas.«

»Du lügst, Kupido.«

»Das ist die Wahrheit. Das Fell da kann nicht lügen.«

Der Baas nimmt das Fell, breitet es auf dem Boden aus und untersucht es sorgfältig von Mähne bis Schwanz. Keinerlei Anzeichen von Gewalt sind zu sehen.

»Ich sehe keine Löcher oder Schnitte«, sagt er verdutzt.

»Das habe ich Ihnen doch gesagt.«

»Wie bist du denn auf diese verrückte Idee gekommen?«

»Ein Baum hat es mir gesagt, Baas.« Denn der Namen Heitsi-Eibibs darf vor Fremden nicht ausgesprochen werden.

»Halt mich nicht zum Narren, Kupido. Ich brech dir das Genick.«

»Sie können brechen, so viel Sie wollen, Baas. Was wahr ist, ist wahr.« Er kratzt all seinen Mut zusammen. »Sie können die Schafe und Ziegen zählen. Es fehlt nichts.«

Kupidos Chronik

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