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4. Federn für einen Adler
ОглавлениеMit diesen Stimmen wird Kupido Kakerlak aufwachsen. Denn seine Mutter behält ihn immer bei sich, aus Furcht, ihm könnte etwas geschehen. Bei einem so zerbrechlichen kleinen Ding kann man nie wissen ... Wenn einer ihm im Vorbeigehen einen Schubs gäbe, was würde dann mit ihm geschehen?
Meistens nimmt sie ihn mit zum Haus des Farmers, wo sie jetzt, nach Jahren der Arbeit zusammen mit den anderen auf den Feldern, Dienstmagd ist. Hier kann er ihr von klein auf beim Fegen und Staubwischen, bei der Wäsche, beim Leeren der Nachttöpfe, beim Bespritzen der Böden mit Spülwasser, damit der Staub sich setzt, bei der Jagd auf Fliegen mit Hilfe eines belaubten Zweigs, beim Verscheuchen der Hühner und Moschusenten und beim Sammeln von Holz für den großen Herd in der Küche zur Hand gehen.
Manchmal, wenn vor Sonnenuntergang noch zu viel zu tun ist, schlafen er und seine Mutter in der Küche, in der hintersten Ecke beim Herd, wo noch Wärme hockt wie ein großer fauler Hund. An diesen Abenden müssen sie beim Beten dabei sein, das auf das einfache Mahl – Brot und Milch, ein Schöpflöffelvoll Kürbis oder Süßkartoffeln, gelegentlich ein winziges Stück Fleisch –, von dem ihnen die Reste zustehen, folgt. Mit diesem Ritual weiß Kupido nichts Rechtes anzufangen. Er versteht nur, dass es irgendwie etwas mit den Göttern zu tun hat. Dann muss seine Mutter es ihm erklären, obgleich auch sie mehr oder weniger im Dunkeln tappt. So viel wird ihm klar: Dieser Jesus, von dem der Baas spricht, muss mit Heitsi-Eibib verwandt sein, denn auch er ist gestorben und wieder zum Leben erweckt worden. In Kupidos Ohren klingt das gotteslästerlich. Bestimmt würde Heitsi-Eibib den Eindringling, wenn er ihm auf dem freien Feld begegnete, durch einen Hieb mit einem Feuerstein töten.
Was ihm dabei gefällt, ist das Singen, das die Reden des Baas begleitet. Für Kupido ist Singen wie Regen an einem heißen Tag. Allen Versuchen seiner Mutter, ihn davon abzuhalten, zum Trotz stimmt Kupido in dem Augenblick, wenn der Baas, seine Frau und ihre sieben Kinder zu singen anfangen, mit ein, so laut er nur kann, und singt nach einer eigenen Melodie und eigenen Worten, die er von seiner Mutter gelernt hat:
O Heitsi-Eibib
Du, unser Großvater
Bring mir Glück
Bring mir Wild
Lass mich Wurzeln und Honig finden
Damit ich dich wieder anrufen kann
Dich, der du unser Urgroßvater bist
O Heitsi-Eibib!
Seine Stimme übertönt alle anderen, hell und klar wie eine Rohrflöte, eine Stimme, viel zu groß für den kleinen, spindeldürren Körper. Nach einiger Zeit muss der Baas ihm sagen, dass er den Mund halten soll, denn er stört ihr Einswerden mit Gott. Dann schweigt er still und hebt sich sein Singen für später auf, wenn er wieder mit seiner Mutter allein ist oder durch den Busch streift, weiter noch als bis zu all den vertrauten Felsen und Hügel und Ebenen, dorthin, wo die Welt noch ganz leer ist und darauf wartet, dass ein Wort sich mit seinem Schatten oder seinem Gewicht auf sie legt.
Noch etwas mag er an diesen Betstunden. Die Tatsache, dass der Mann, der als Vater von Baas Jesus eingesprungen ist, ein Zimmermann war. Denn von dieser Beschäftigung ist er regelrecht besessen, so wie man die Augen nicht vom grellen Schein brennender Kohle, die man anstarrt, wenden kann. Wo immer auf der Farm es etwas zu tischlern gibt, findet er sich mit Sicherheit ein. Der Geruch von Sägespänen verdreht ihm den Kopf, gerade so wie das Karie-Bier, von dem er manchmal, wenn die Arbeiter in Neumond- oder Vollmondnächten im Hof tanzen, heimlich den Bodensatz schlürft. Es genügt, dass er ein Stück Holz in seiner Hand fühlt, seiner Glätte oder Maserung nachspürt, und schon fängt er an zu träumen, zu was es wohl werden mag – dies leicht gebogene Stück wird bestimmt ein Stuhlbein, die zwei dicken Bretter da taugen nicht zu einer Tischplatte, aus diesem in den Hinterhof geworfenen Hartholzstumpf wird sicher die Nabe eines Wagenrads, das auch noch dem holprigsten Boden standhält. Nur selten erlaubt der Baas ihm, bei den Tischlerarbeiten zu helfen, doch das hindert ihn nicht daran, wie verzaubert zuzusehen und alles in den innersten Falten seines Denkens zu horten.
»Eines Tages«, so erklärt er seiner Mutter, »eines Tages werde ich uns einen Wagen bauen und dann fahren wir fort, nur wir zwei, und niemand wird uns je wieder finden.«
Verstohlen blickt sie um sich, ob auch bestimmt keiner das gehört hat. »Halt den Mund, Kupido«, schimpft sie. »Wenn der Baas dich hört, schlägt er dich mausetot.«
»Ich verstehe nicht, wie du einfach hier rumsitzen kannst«, sagt er. »Heitsi-Eibib hat uns nicht nur Hintern gegeben, um drauf herumzusitzen. Sondern auch Füße, um damit zu laufen. Wir müssen gehen.«
Wenn ihr sein Herumquengeln zu viel wird, erzählt sie ihm, wie oft sie früher versucht hat wegzulaufen, wie sie jedes Mal weiter und noch weiter gelaufen ist und wie der Baas hinter ihr her ist und sie zurückgebracht und sie fast totgeschlagen hat, bis sie keine Kraft mehr hatte, es zu versuchen.
»Du hättest nicht aufgeben dürfen, Ma«, sagt er.
»Du hast noch nie die Reitpeitsche dieses Mannes auf deinem Rücken gespürt«, erklärt sie. »Setz du deinen Fuß gar nicht erst auf diese Straße. Es ist die Straße zum sicheren Tod.«
»Was war das Weiteste, was du gegangen bist?«
»Weit.«
»Weiter als diese Farm groß ist?«
»Viel weiter.«
»Weiter als bis zu den Hügeln dort?«
»Verdammt viel weiter.«
»Und wie sieht es da aus, Ma?«
»Genauso wie hier. Nur anders.«
»Wie anders?«
»Kahl.«
»Wie kahl?«
»Einfach kahl. Noch hat sich kein Wort darauf gelegt, um ausdrücken zu können, wie kahl es ist. Also ist es einfach kahl.«
»Ich will mir das selber anschauen, Ma.«
»Du halt dich davon fern. Es wäre dein Tod.«
»Ich will das Leben, Ma.«
»Was weißt du denn schon vom Leben?«
»Ich weiß nur, wie es hier ist. Und das kann nicht Leben sein.«
»Du weißt überhaupt noch nichts.«
»Was ich weiß, habe ich von dir gelernt. Leben ist bestimmt wie Heitsi-Eibib. Heute hier, morgen irgendwo anders, immer an einem anderen Ort, immer in anderer Gestalt. Mann, Löwe, Tauchervogel, dann Gottesanbeterin oder Schmetterling oder Schildkröte oder Blutstein; an dem einen Tag ist er ein Mond, am nächsten ein Stern. Er bleibt nie der Gleiche, und er bleibt nie an einem Ort. Du musst mich gehenlassen, Ma.«
Sie wollte das nicht sagen, aber plötzlich bricht es aus ihr heraus, ein Gedanke, den sie seit dem Tag seiner Geburt in ihrem Inneren gehegt hat: »Warte lieber auf den Adler, der dich mitnimmt und von hier wegbringt.«
»Welcher Adler?«, fragt er.
Sie würde lieber schweigen, doch sie weiß, er wird sie nicht in Ruhe lassen, wenn sie es ihm nicht sagt. »Schau, Kupido, du erinnerst dich doch an den Vogel, von dem ich dir erzählt habe, an den Adler?«
»Du hast so viele Geschichten erzählt.«
»Schon, aber die mit dem arend. Der Adler, der dich hoch oben am Himmel in seinen Krallen gehalten und dann in meinen Schoß fallen lassen hat.«
»Ist das so passiert?«
»Kupido, ich kann dir nicht mit Sicherheit sagen, ob es so war. Ich sage nur, wenn es so war, dann musst du warten, bis eines Tages ein anderer arend kommt und dich wieder holt. Dann brauchst du dir keine Gedanken mehr wegen einem Wagen zu machen. Wenn du erst einmal fliegen kannst, wirst du viel weiter kommen, als du es je mit einem Wagen schaffen würdest.«
Und dann erzählt sie ihm eine andere ihrer Geschichten. Von dem Farmer, der nach einem Sturm auf seiner Farm in allen Ecken und Winkeln nach einem verirrten Kalb suchte und ein eben erst geschlüpftes Adlerjunges fand, das aus seinem Nest in den Bergen gefallen war. Der Farmer nahm das kleine Ding mit nach Hause, wo es im Hinterhof zusammen mit den Küken aufwuchs. Wie das andere Federvieh scharrte es nach Körnern und Würmern, und abends hockte es sich zum Schlafen auf eine Stange. Bis eines Tages ein Mann kam, den seltsamen Vogel nur kurz ansah und ausrief: »Das ist ja gar kein Huhn, das ist ein arend!« Die Leute wollten ihn aufhalten, aber er schüttelte sie ab und nahm den Adler mit in die Berge. Zuerst weigerte sich der Vogel, auch nur den kleinsten Flugversuch zu unternehmen. Schließlich brachte der Mann an einem herrlichen Sommertag den Vogel bei Sonnenaufgang auf den höchsten Gipfel und sagte zu ihm: ›Schau, dort ist dein Platz. Dort oben am Himmel, bei der Sonne, nicht hier unten auf der Erde.‹ Und mit diesen Worten schleuderte er den Vogel zum Himmel hinauf, gerade als die riesige rote Sonne sich vom Horizont löste. Und der arend breitete seine mächtigen Schwingen aus und stieg empor, frei wie eine Wolke und so hoch wie der Wind, weit über die Sonne hinaus. Denn nun hatte er endlich begriffen, was es bedeutete, ein Adler zu sein.
Kupido sitzt da und lauscht, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken, fast ohne zu atmen. Die Geschichte setzt in seinem Kopf eine ganze Kette von Gedanken in Gang, die über die Jahre hinweg immer länger wird. Er fängt an, das Buschland von einem Ende zum anderen zu durchforschen, und sammelt so viele Federn, wie er finden kann, und versteckt sie im Dachstroh auf der Hütte seiner Mutter. Bis er dann zu dem Schluss kommt, dass er jetzt genügend hat. Er reibt sich Gummiharz von Dornenbüschen und klebrigen Wurzeln auf Schulterblätter und Arme und mischt – nur um sicherzugehen – Honig aus einem großen Ameisenhaufen darunter. Mit Federn bedeckt, wirklich ein seltsamer Vogel, klettert er vorsichtig auf den Felsvorsprung hinter dem Gehöft des Farmers, stellt sich auf die höchste Kante, schließt die Augen und springt.
Als er nach ungefähr drei Wochen wieder herumhinken kann, humpelt er sogleich in den Busch und fängt erneut an, Federn zu sammeln.
Nach dem dritten Absturz findet er sich, ein wenig traurig, damit ab, dass er seiner Mutter glauben und warten muss, bis der arend kommt und ihn holt.