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9. Der Vielgesichter-Mann

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Von Kupido Kakerlak hören wir erst wieder, als eines Tages auf der Farm zwei Wagen auftauchen. Sie knarzen und quietschen, alle beide; bei dem einen hängt das eine Vorderrad schief, der andere sackt fast durch. Begleitet werden sie von zwei Hottentotten und zwei jungen Buschmännern, die zwei Gespanne von je zwölf Ochsen fuhren. Ihrem Aussehen nach könnte man meinen, sie seien den ganzen Weg vom Kap heraufgefahren, ohne Rast zu machen. Auf dem Bock des vorderen Wagens sitzt ein Mann mit langem, traurigem Gesicht, der einen unmäßig hohen Zylinder aufhat. Sein Gewand wirkt ärmlich, doch sein Verhalten ist das eines zum Befehlen geborenen Mannes. Sein Name, so teilt er den Leuten im Vorderhof mit, ist Servaas Ziervogel. Er ist Geschichtenerzähler. Außerdem Musiker und fahrender Händler, und seine Wagen sind mit allem beladen, was die Leute tief im Landesinneren vielleicht brauchen oder auch nicht brauchen. Drunten am Kap, so berichtet er ihnen, sind immer weniger Waren zu kriegen, weil immer seltener Schiffe in der Bucht ankommen, nun ja, wie könnte es auch anders sein, führen wir doch erneut Krieg gegen die Engländer. Was seine Fracht so außerordentlich wertvoll macht. Sie umfasst:

 Zucker und Kaffee

 viele Päckchen Tabak und Dosen mit Schnupftabak

 etliche Fässchen Arrak, Steingutflaschen mit Branntwein und holländischem Wacholderschnaps

 Nadeln und Garn

 Stahlnägel

 Schießpulver und Kugeln

 Zunderbüchsen und Feuersteine

 Hüte und Strümpfe und Knöpfe jeglicher Art

 Kattun-, Leinen- und Kordballen

 Kopftücher und Bowler-Hüte

 Salz und Gewürze

 Damenpantinen und -schuhe aus Amsterdam und Amersfoort

 eine Kiste mit in Leder gebundenen Büchern in Sprachen, von denen keiner je etwas gehört hat

 Schmuckkästchen und Werkzeugkisten

 Klistierspritzen und Schläuche für alle Körperöffnungen

 Fiedeln und Holzflöten

 Beile und Handsägen und Längsschnittsägen und Zugsägen und Drillbohrer und Nieten

 federleichte Halsketten und schwere Wagenketten

 Ambosse

 eine schweißige Sandale, die einst dem heiligen Paulus gehörte

 Essbestecke, Taschenmesser und Säbel

 Federn, Steinguttöpfe mit Tintenpulver, große Mengen Papier

 Ferngläser und Vergrößerungsgläser

 Zeichnungen von biblischen Gestalten

 reich mit Schnitzwerk verzierte Stühle aus dunklem Holz

 Halseisen mit zugespitzten Nägeln für widerspenstige Sklaven

 Kupferdraht

 Tüten und Fässer mit allen nur denkbaren Samen

 Laternen und Hängelampen aus Kupfer und Messing

 einen ausgestopften bengalischen Tiger

 Bottiche und Eisenkessel zum Seifensieden, Teekessel und Kasserollen

 Arzneikistchen

 allerlei hinter Glas verwahrte Splitter vom Kreuz

 eine Geburtszange

 eine Kollektion Taschenuhren und zwei Schiffsuhren

 Ballen Brüsseler Spitze

 Scharniere und Türknäufe

 Blasebälge

 ein Fischernetz

 Eimer und Kübel aus Metall oder Teak mit Kupferbeschlägen

 einen kleinen Schädel des heiligen Petrus als Kind

 zahlreiche mit Blättern, Blumen und Engelsköpfchen verzierte Nachttöpfe

 zwei weißfedrige Flügel eines Engels aus Mazedonien

 und Spiegel: Wandspiegel, Standspiegel, Handspiegel, alle schwarz verhüllt

Doch vor allem, teilt der Mann mit dem Zylinder ihnen mit, ist er ein Diener des Herrn der Heerscharen, ausgesandt, um im Inneren dieses heidnischen Landes das Evangelium zu verbreiten. Er hält einen Augenblick inne, um sich mit einem roten Tuch den Schweiß vom Gesicht zu wischen; das lässt an die Stirn des Moses denken, als er vom Berg Sinai herabstieg. (Für ein so dunkles Land wie dieses brennt die Sonne sich erbarmungslos in die Augen des Betrachters.)

Er macht den Leuten auf der Farm den Vorschlag, eine Gebetsstunde mit ihnen abzuhalten – vielleicht nachdem einige Erfrischungen gereicht worden sind –, die er mit einer langen, volltönenden Anrufung Gottes beschließt. Als er wieder aufsteht, bekundet er seine Bereitschaft, angesichts der Schrecknisse der Hölle, welche die Unerlösten erwarten, unverzüglich zur Taufe jedweder ungetauften Mitglieder der Farmerfamilie überzugehen; und ohne danach gefragt worden zu sein, holt er aus seinem Wagenkasten einen Stapel Pergamenturkunden hervor, um zu beweisen, dass er ordnungsgemäß ordiniert und befugt ist, alle kirchlichen Rituale zu vollziehen und die Sakramente zu spenden. Die Mutter und ihre Kinder (nun neun, nicht mehr sieben an der Zahl) scharen sich um ihn, befingern voller Ehrfurcht die beeindruckenden Dokumente, von denen sie nicht ein einziges Wort verstehen. Selbst die wenigen, die lesen gelernt haben, werden aus dem Latein (wenn es denn Latein ist) nicht schlau; doch immerhin macht all das großen Eindruck.

Die Kinder, von denen nicht eines getauft ist, werden aufgefordert, sich zu einer Prozession aufzustellen; ihnen schließen sich die Bediensteten und Sklaven an. Nun geht es zu dem Quelltopf unter dem Felskamm, an dessen Hang vor vielen Jahren der Farmhof angelegt wurde. Ehe irgendjemand einen Warnruf ausstoßen kann, watet der Gottesmann, nach wie vor mit Zylinder, Frack und Schuhen angetan, schnurstracks ins Wasser; er kann ja nicht wissen, wie steil die Böschung zur Quelle hin abfällt. Als er plötzlich den Boden unter den Füßen verliert, verschwindet er ganz unzeremoniell vor ihren Augen. Nur der Zylinder, der auf dem Wasser treibt, ist noch zu sehen. Voll heiliger Scheu und Gottesfurcht stehen alle wie angewurzelt am Ufer, vielleicht in Erwartung eines Wunders. Aber nur ein paar Blasen blubbern an die Oberfläche. Es dauert eine Zeit lang, ehe der erschrockenen Witwe klarzuwerden scheint, dass entschlossenes Handeln vonnöten ist. Sie schreit den Arbeitern, unter ihnen Kupido, zu, sie sollen dem Mann zu Hilfe kommen. Da keiner von ihnen schwimmen kann, sie überdies eine tief verwurzelte Scheu vor Wasser haben, legen sie keine besondere Neigung dazu an den Tag. Als jedoch klar wird, dass eine Katastrophe droht, tritt Kupido, nicht ohne Bangigkeit, ein paar Schritte vor. Wie alle von seinem Volk weiß er, dass in jeder Quelle eine Schlange lauert und man zuerst ihre Gunst mit der Opferung von Innereien eines frisch geschlachteten Schafes erringen muss. Tut man das nicht, kommt sie heraus und holt einen. Außerdem, so hat seine Mutter ihn von klein auf gewarnt, haust in der Quelle unter dem hohen Kamm eine Nixe. Der Oberkörper ist der eines menschlichen Wesens, mit langen Haaren wie Strähnen aus grünem Schleim und Brüsten so rund wie Kürbisse. Die untere Hälfte ist geschuppt wie bei einer Schlange oder einem Fisch. Hat man sich erst einmal mit ihr eingelassen, so stattet sie einem des Nachts unweigerlich einen Besuch ab, und dann verschwindet man auf Nimmerwiedersehen.

Doch jetzt geht es um Leben und Tod. Das muss die Schlange einsehen. Und die Nixe auch. Ohne länger zu zögern, beugt Kupido sich vor und fängt an, mit den ausgestreckten Händen das Wasser aufzuwühlen. Sehr zu jedermanns Überraschung bekommt er den mit Wasser vollgesogenen heiligen Mann zu fassen, und unter der Mithilfe zahlreicher anderer wedelnder Hände wird er ans Ufer gezogen und wie eine fremdartige bleiche Wasserkreatur auf den Rücken gelegt.

Keiner weiß so recht, was als Nächstes zu tun ist, und einige Männer murmeln schon etwas von wegen, dass sie in dem steinharten Boden ein Grab ausheben müssen, doch dann ist es wieder Kupido, der das Problem löst, indem er ohne Umschweife und einigermaßen respektlos mit beiden Füßen auf den Bauch des Beinahe-Ertrunkenen springt. Mit umwerfendem Erfolg: Ein ungeheurer Schwall schlammigen Wassers schießt aus dem Mund des Mannes. Im nächsten Augenblick setzt er sich auf, spuckt, verdreht die Augen nach oben und blickt dann um sich. Eilends schickt die Witwe ein paar von den Kindern zum Farmhaus, um diverse Tränke und Arzneien zu holen; währenddessen watet Kupido noch einmal ins Wasser und fischt den nach wie vor dahintreibenden Hut auf. Nach einer Weile hektischer Geschäftigkeit hilft man der geretteten Seele auf die Beine, damit sie erneut ein Gebet sprechen kann. Sie sind nicht sicher, ob er bereit ist, die ganze Zeremonie noch einmal von vorn durchzuexerzieren, doch allem Anschein nach hat das Missgeschick ihn nur noch bestärkt in seinem Entschluss; die feierliche Handlung kann also weiter ihren Lauf nehmen.

Servaas Ziervogel taucht in Liturgie und Sakrament und die Quelle ein, wenn auch nicht ganz so tief wie zuvor. Im weiteren Verlauf gerät er richtig in Fahrt, gewinnt an Überzeugungskraft. Und schwingt sich zu solchem Pathos auf, dass die beiden letzten Kinder, die getauft werden sollen, bei dem begeisterten Untertauchen um ein Haar ertränkt werden. Wie gebannt sieht sich Kupido das alles aus dem Halbkreis der Bediensteten und Arbeiter an. Nachdem der Besucher ihnen nochmals eine kräftige Dosis Lesung und Gebet verabreicht hat, lädt man ihn ein, seine Wagen im Farmhof ausspannen zu lassen; Kupido wird angewiesen, ein Schaf zu schlachten, und den Küchenfrauen wird befohlen, für den Abend ein gargantueskes Mahl zuzubereiten. Unmittelbar nach Sonnenuntergang begibt Servaas Ziervogel sich zusammen mit der Familie ins Haus, um üppig zu speisen, mehr, als auf der Farm sonst in einer ganzen Woche verzehrt wird, und begleitet von weiteren Frömmigkeitsbekundungen.

Während die Weißen drinnen beschäftigt sind, drückt Kupido sich bei den Wagen herum, zu verschüchtert, um irgendetwas anzufassen, zu neugierig, um sich zu verziehen. Aus sicherer Entfernung begafft er, was da alles aufgestapelt ist, eine größere Menge und Vielfalt an Waren, als ihm je zuvor unter die Augen gekommen ist; das meiste hätte ebenso gut geradewegs aus Tsui-Goabs rotem Himmel, wenn nicht gar aus Gaunabs finsterer Wohnstatt gefallen sein können.

Im Hinterhof, kurz nach dem Abendgebet, fällt dem Fremden mit dem großen Hut dieses ungeheure Interesse auf, und da der junge Mann ihm immerhin das Leben gerettet hat, empfindet der ältere eine gewisse Zuneigung für ihn. Kupido ist jedoch auf Abstand bedacht. Fremden gegenüber, vor allem wenn sie weiß sind, ist er auf der Hut, er hat sich nie so recht an ihre Anwesenheit gewöhnen können.

Auf den Besucher macht seine Zaghaftigkeit jedoch keinen Eindruck. Servaas Ziervogel versteht sich darauf, wie man mit Menschen umgeht. Gleich am nächsten Morgen ruft er Kupido, damit er ihm beim Entladen der Wagen zur Hand geht – und der Befehl eines Baas muss befolgt werden. Darüber hinaus streckt der Fremde ihm, als er vorsichtig näher kommt, zur Begrüßung bereits die Hand entgegen.

»Ich habe da etwas für dich.«

»Baas?«

Der Fremde öffnet die Hand, Innenfläche nach oben. Ein Jagdmesser mit Elfenbeingriff und einer langen, gekrümmten Klinge.

»Baas?« Fast bleibt ihm das Wort im Hals stecken.

»Das ist für dich. Ohne dich wäre ich heute tot.«

»Für mich?«

»Als Zeichen meiner Dankbarkeit.«

Lange starrt Kupido das Ding in seiner Hand einfach an. Er kann es nicht fassen.

»Oh, Baas.«

Diesem großen, hageren Mann gegenüber, der wie ein Hirtenstecken vor ihm steht, kommt er sich wie ein Insekt vor – wie ein Heimchen oder eine Gottesanbeterin oder eine Heuschrecke.

Und so fängt alles an. Ein dreifacher Zauber ist es, wie er schon bald feststellen wird, der Kupido zu Wachs in den Händen des Fremden macht. Zunächst die Spiegel. Dann die Musik. Und drittens schließlich die Geschichten.

Zuerst also die Spiegel. Schon als sie die Wagen entladen haben, war Kupido fasziniert von diesen so sorgfältig in Krepp gehüllten Dingern. Er wusste nicht so recht, ob er sich trauen sollte zu fragen, und von sich aus gab Servaas Ziervogel nichts preis; er tat so, als merke er nichts.

In dieser Nacht kann Kupido nicht einschlafen. Er weiß, er sollte lieber überlegen, wie er sich vor der Rache der Schlange und der Nixe schützen kann. Doch zuvorderst beherrschen die in Schwarz gehüllten Dinger sein Denken. In seiner Vorstellung könnten es Geister sein, reglose Vorfahren, Graufüße, Sendboten Gaunabs.

Noch vor Tagesanbruch schleicht er aus der Hütte, die er früher mit seiner Mutter geteilt hat und in der er jetzt nachts allein daliegt. Eine leichte Windbö weht durch den Hof, dringt durch sein Gewand, durch Fleisch und Muskeln direkt in die Knochen.

Da stehen die schwarz verhüllten Dinger, wie Leichname, die für die Beerdigung in Häute gehüllt sind. Näher heranzugehen schafft er nicht, aber fernhalten kann er sich auch nicht. Wie ein von einem aufregenden Geruch angelockter Hund schleicht er immer wieder um die Wagen herum, hat aber viel zu viel Angst, um mit einem Satz hinzuspringen. Rund herum, rund herum, bis hinter den fernen Hügeln die Sonne erscheint und die Dinger lange Schatten werfen.

So findet ihn der große Mann vor, als er gebückt unter seiner Wagenplane hervorkriecht.

»Was machst du da?«

»Nur schauen, Baas. Diese Dinger da. Bewegen tun sie sich nicht, aber sie sehen aus, als würden sie leben.«

»Möchtest du, dass ich sie dir zeige?«

»Schon, Baas. Aber ich fürchte mich.«

»Da gibt es nichts zum Fürchten. Komm her und sieh sie dir an.«

Der Mann beugt sich vor und zieht das Tuch von dem ersten Ding. Nichts tut sich.

»Komm näher.«

Kupido gehorcht. Ohne seine Hülle sieht das Ding nicht mehr ganz so furchteinflößend aus. Bis Kupido sich vorbeugt, um es genauer anzusehen.

Er stößt einen Schrei aus, von dem die ganze Farm aufwacht, und fällt fast hintüber.

»Nein, Baas! Das Ding da lebt ja.«

»Sieh genau hin.«

Diesmal kriecht er auf allen Vieren von der Seite her näher heran und lugt vorsichtig über den Rahmen. Das gleiche Gesicht erwidert seinen Blick. Ein lebendiges Gesicht mit Augen, scharf wie die eines Erdmännchens, und schwarzen Haarbüscheln auf dem Kopf sieht ihn an. Kupido schlägt beide Hände vors Gesicht, um sich dahinter zu verstecken. Das Gesicht vor ihm tut das Gleiche.

Kupido weicht ein paar Schritte zurück. Der Mann vor ihm wird kleiner und unternimmt keinen Versuch, ihm nachzugehen.

Jetzt schleicht Kupido sich von hinten an das flache Ding an. Doch dahinter ist nichts. Also probiert er es noch einmal von vorne. Jetzt ist das Gesicht wieder da. Sie starren einander an. Was auch immer er tut, das Ding im Rahmen macht es nach: Wenn Kupido eine Grimasse schneidet, tut der Fremde dies ebenfalls; er hebt eine Hand, der andere ebenfalls.

»Komm hierher«, fordert der Mann mit dem großen Hut ihn auf und schickt sich an, das zweite Ding zu enthüllen. Dann das dritte, das vierte und so weiter, bis alle zwölf unverhüllt in der Morgensonne stehen. Aus jedem Rahmen blickt ihm das gleiche Gesicht entgegen. Er huscht von einem zum anderen, versucht so, den Fremden zu überrumpeln, aber jedes Mal ist das Gesicht da, äfft ihn nach, weicht zurück, wenn Kupido dies tut, und ist dann wie auf Bestellung wieder da. Er kann sich noch so oft an die Rückseite heranschleichen – dahinter ist einfach nichts. Und vorne taucht immer wieder das Gesicht auf.

Nach geraumer Zeit wagt Kupido zu fragen: »Wer ist das Vielgesichter-Ding?«

»Du kennst ihn also nicht?«

»Den hab ich noch nie gesehen, Baas. Er kommt bestimmt nicht aus der Gegend. Er ist mit Ihnen gekommen, auf dem Wagen, oder?« Er schüttelt den Kopf. Von der Stelle aus, wo er steht, sieht er sechs oder sieben Fremde, die ebenfalls den Kopf schütteln; die anderen sind zu weit weg oder stehen auf der Seite. »Das sind bestimmt welche von den Graufüßen«, meint er. »Von den hai-noen. Oder vielleicht sind es Schattenmenschen von der anderen Seite. Sobo khoin. Besonders gefährlich sehen die aber nicht aus. Nur dass man sich nie sicher sein kann.«

Der große Mann verzieht keine Miene. »Wie wahr. Aber wenn du dich in Acht nimmst, wird er dir nichts tun. Du darfst ihn allerdings nicht erzürnen. Wenn ich nicht da bin, passt er für mich auf den Wagen auf. Dann musst du besonders vorsichtig sein.«

»Ich finde, der Baas sollte ihn lieber wieder zudecken, ehe er sich selbständig macht und allein herumspaziert.«

Er hilft dem Mann, die Spiegel einen nach dem anderen wieder zu verhüllen. Jetzt kann er wieder frei atmen. Doch ganz bestimmt wird er es nicht wagen, sich auf eigene Faust den Wagen zu nähern, besonders dann nicht, wenn es dunkel ist.

Erst als die anderen Arbeiter auftauchen, um ihren Morgenkaffee zu trinken, gewinnt Kupido seine Selbstsicherheit zurück. Er berichtet ihnen, was er gesehen hat, und stößt wilde Drohungen aus, was geschehen würde, sollte irgendeiner sich zu nahe an die Spiegel heranwagen. Um ganz sicherzugehen, dass sie sich an seine Anweisungen halten, bittet er den großen Mann, auch die anderen zu der magischen Erscheinung zu geleiten. Sehr kleinlaut kehren sie zurück. Keiner wird je wieder den Fuß in die Nähe der Wagen setzen.

Der zweite Zauber, mit dessen Hilfe der Fremde Kupido und seine Leute seinem Willen unterwirft, ist Musik.

Nach dem Abendgebet kommt er meistens in den Farmhof und wählt eines von den Instrumenten aus, die er auf seinem Wagen mitgebracht hat – Fiedel, Akkordeon, Flöte –, und fängt mit solcher Begeisterung darauf zu spielen an, dass alle wie gebannt lauschen. Manchmal gerät die Musik so außer Rand und Band, dass sie nicht anders können als tanzen, bis Mond und Sterne mit einer Decke aus Staub verhüllt sind. Dann wieder wird die Musik langsam und traurig, und allen läuft es kalt über den Rücken, als spürten sie das Kitzeln der zuckenden Beinchen von Insekten und anderen Krabbeltieren: Spinne und Stechmücke, Chamäleon und Gottesanbeterin. Es ist dann, als sei der Tod gekommen, um sich schwer auf die Farm zu legen. Und die Arbeiter sind nicht die Einzigen, die zuhören. Auch die weißen Leute sind alle da, die Nooi und ihre gesamte Kinderschar, groß und klein. Solange die Musik spielt, scheinen sie alle mit einer großen Schleife zusammengebunden zu sein.

Der dritte Zauber lebt in den Geschichten, die der Fremde erzählt.

Meistens berichtet er von seinen Reisen. Alle Orte, in denen er im Lauf vieler Jahre mit seinen Wagen war. Überall in Afrika, von Nord nach Süd und von Süd nach Nord, in den entferntesten Weltgegenden. Im Königreich Monomotapa. Und noch weiter, im Land des Priesters Johannes und dem Reich der Königin von Saba, aber auch im Ur der Chaldäer und in der Stadt Samaria und in Ephesus und im Land Nod, das östlich von Eden liegt, und im Land Kush. Und den ganzen Weg, so versichert er ihnen, bis zum Neuen Jerusalem hat er zurückgelegt, zu jener mit Gold und Silber und Edelsteinen, Diamanten und Saphiren, Jaspis und Ebenholz gepflasterten Stadt: All das hat er mit eigenen Augen gesehen. (Und falls irgendeiner der Anwesenden das bezweifelt, soll er den Vielgesichter-Mann fragen, der ist auch dort gewesen, er kann all dies beschwören, so wahr mir Gott helfe.) Er erzählt ihnen von Gegenden, wo Löwen und Tiger auf Bäumen wachsen, und von Kannibalen, die zwischen den Zehen und zwischen den Zähnen und in den Achselhöhlen Augen haben, von Leuten mit drei Köpfen oder aber gar keinem Kopf, von feuerspeienden Drachen und von einem Ungeheuer, das auf seinem Rücken eine in Scharlach gewandete Frau trägt, aus deren Leib vierzig Brüste wachsen, von Leuten mit dem Kopf eines Mannes oder einer Frau und dem Körper eines Löwen oder Adlers. Er führt ihnen die wundersamen Dinge vor, die er auf seinen Wagen mit sich führt, und erklärt, woher sie alle kommen, zumeist von weit jenseits des Roten Meers und des Sees Genezareth.

Kein Wunder, dass die Nooi der Farm nach den ersten ein, zwei Nächten den Fremden einlädt, von seinem Wagen herunterzusteigen und sich im Haus eine Bettstatt zu bereiten. Anfangs schlagen sie im Küchentrakt ein Lager für ihn auf. Dort besucht sie ihn manchmal nachts und klagt ihm all ihren Kummer und ihre Leiden, denn er weiß gegen alles ein Kraut. Schmerzen in den Beinen, Magenkrämpfe, Rückenschmerzen, Blutandrang in der Brust, Migräne, Frauenleiden. Und das Schlimmste von allem: Alpträume. Früher hat sie nie darunter gelitten, aber seit dem Tod ihres Ehemanns auf jener verhängnisvollen Jagd findet sie nicht Ruhe noch Seelenfrieden. Unaufhörlich sucht er sie in ihrem leeren Bett heim.

Dies gibt dem Besucher offenbar Anlass zu tiefschürfendem Nachdenken. Seit er den Fuß auf ihre Farm gesetzt hat, folgt er der Nooi mit seinen Blicken. So jung ist sie noch, diese Frau, in der Blüte ihrer Jahre; wahrscheinlich gerade erst dreißig, und nur neun Kinder – sie hat noch einen langen Weg zu gehen. Und obendrein recht reizvoll. Hebe dich hinweg, Satanas. Doch nach wie vor wirft er ihr lüsterne Blicke zu und lässt sie nicht aus den Augen; er versucht zu ergründen, was Gott von alldem hält. Und eines Spätnachmittags, als sie im Herd Grieben röstet, tritt er neben sie, räuspert sich und erklärt, er habe sich über ihre Lage Gedanken gemacht, und, ja, er sei bereit, ihr den Gatten zurückzubringen. Nicht für immer. Doch zumindest nachts. Ob ihr das recht wäre? Sie wird rot und nickt. Ja, das wäre ihr schon recht. In ihrer Stimme schwingt ein neuer Unterton mit. Wie bald er denn dies Wunder geschehen lasse könne?

Servaas Ziervogel stechen ihre Augen in seine wie nie zuvor, und er schluckt so krampfhaft, dass sein Adamsapfel in dem langen, dünnen Kehlkopf auf und ab wandert wie das wiedergekäute Futter eines Pflanzenfressers. Er weist sie allerdings daraufhin, dass einige Regeln strikt einzuhalten seien. Im ganzen Haus dürfe kein Licht brennen, da dies ihren verstorbenen Gatten verscheuchen könnte. Keine Lampe, und auch keine Kerze irgendeiner Art, und die Läden der beiden Fenster müssten fest geschlossen sein. Die Kinder sollten vorher auf unbedingtes Schweigen eingeschworen werden, denn schon das kleinste Geräusch oder auch nur ein Wispern könnte entsetzliche Folgen haben; das Gleiche gelte für jeden Versuch irgendeines der Kinder, sich des Nachts in die Nähe ihres Bettes zu wagen. Und falls ihr Gatte tatsächlich im Dunkeln zu ihr komme, müsse sie ihn empfangen, ohne auch nur ein Wort zu ihm zu sagen. Ob das klar sei? Nicht ein einziges Wort, ansonsten kehre er auf der Stelle wieder dorthin zurück, wo er herkomme. Falls er komme, dann um seine Gattin auf die Weise zu trösten und zu erfreuen, wie ein Ehemann sein Weib tröstet, und nicht, um mit ihr zu plaudern. Sollte sie irgendwelche Botschaften für ihren Mann haben, könne sie diese tagsüber Servaas Ziervogel übergeben. Doch unter keinen Umständen dürfe sie ihn direkt ansprechen. Ob das klar sei?

Es ist klar.

Am darauffolgenden Morgen gibt die Witwe sich ungewohnt verschämt, doch ihre vorher bleichen Wangen ziert jetzt eine unmissverständliche Röte.

Als Servaas Ziervogel sich nach dem nächtlichen Besuch erkundigt, weicht sie zunächst aus, dreht ihm den Rücken zu und knetet hingebungsvoll den Teig für den Tagesbedarf Brot. Nach einer Weile räumt sie jedoch ein, ja, ihr Mann habe ihr einen Besuch abgestattet. Allerdings sei es ziemlich anders gewesen, als sie erwartet hatte. Anders als das, was sie gewohnt gewesen war.

Wie anders?

Einfach anders.

Aber inwiefern? Ob irgendetwas falsch gelaufen sei?

Nein, ganz und gar nicht. Eigentlich sei alles gutgegangen. Nur ...

Nur was?

Schließlich gesteht sie: Nur hatte es nicht nach ihrem Mann gerochen. Einfach – na ja, anders.

Das ist der Geruch des Jenseits, erklärt er ohne Umschweife. Er komme schließlich aus dem Reich der Toten, das dürfe sie nicht vergessen. Sie müsse sich eben daran gewöhnen. Er könne es aber auch so einrichten, dass ihr Mann nicht mehr wiederkomme.

Nein, nein, versichert sie. Er sei äußerst willkommen, wenn er komme. Erneut wird sie rot. Das sei um so vieles besser, als in der Nacht ganz allein schlaflos in dem großen Bett zu liegen.

Ob das alles sei, was sie störe?

Ja. Außer – er möge vergeben, dass sie über so private Dinge mit ihm spreche – ihr Mann sei – nun ja, bei der Sache ganz anders vorgegangen.

Bei der Sache vorgegangen?

Jetzt kehrt sie ihm endgültig den Rücken zu und bearbeitet den Teig, als wolle sie ihn in den Tisch treiben. Ihr Gatte – der Herrgott möge sich ihrer erbarmen –, aber ihr Gatte habe es meist ziemlich eilig gehabt und sei eher grob gewesen. Letzte Nacht sei es jedoch fast so gewesen, als wisse er nicht mehr so recht, wie es gehe.

Sie müsse sich immer dessen bewusst sein, dass es auch für ihren Mann ein ziemlich neuartiges Erlebnis gewesen sei. Nach so langer Abwesenheit unter den vielen Toten. Sie sollte ihm etwas Zeit lassen. Er fände bestimmt bald wieder zu seiner alten Selbstsicherheit zurück.

In Ordnung, verspricht sie und wendet sich wieder, etwas mitleidsvoller nun, dem Teig zu. Sie sei bereit, alles hinzunehmen. Und sie wolle ihm aus tiefstem Herzen danken.

Es sei ihm ein reines Vergnügen gewesen, versichert Servaas Ziervogel.

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