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3. Stimmen im Dunkel

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Nach der Geburt, wenn es denn eine Geburt war, als in der frühen Morgendämmerung alle wieder auf den Feldern waren, band die Frau sich das Kind in einem Tragetuch auf den Rücken und brachte es weit hinaus in den Busch, zu einem tiefen Einschnitt zwischen den Hügeln, wo die Leute ihres Volks einen Steinhaufen aufgeschichtet hatten, einen heitsi-eibib; ein heitsi-eibib war es, der vom Anbeginn der Zeit stammte, als die Welt noch ganz neu und noch nass von der Geburt war. Jene Zeit war es gewesen, in welcher der Jäger-Gott Heitsi-Eibib noch unbeschwert unter den Menschen umherging, viele Male und auf vielerlei Art starb und immer und überall wiedergeboren wurde. Und wer an einem solchen Haufen vorbeikam, musste einen Stein dazulegen, um mit den Menschen eins zu werden, die vor ihm gelebt hatten und jetzt lebten und noch leben würden, vereint im Sterben und Leben Heitsi-Eibibs. Dies sicherte dem Vorüberkommenden ein glückliches Leben. Die Frau legte also einen Stein für sich und einen, nur einen Kieselstein, für das Kind dazu.

An dem Abend blieb sie, als alle schon schlafen gegangen waren, im Dunkeln ihrer Hütte sitzen. Sie hatte die Gabe des zweiten Gesichts, und sie sah den langen Weg, den ihr Volk gegangen war, vorbei an all den für Heitsi-Eibib errichteten Steinhaufen weit und breit im ganzen Land, um dort anzulangen, wo sie jetzt war und auf ihrem Schoß das kleine Wesen stützte, das sie nicht gewollt und nicht erwartet hatte, das aber irgendwie jetzt ihres war. Vieles sah sie mit ihren anderen Augen. Nicht nur, was geschehen war, sondern auch, was in den Jahren, die noch kämen, geschehen würde. Zum Beispiel wie eines Nachts in sechs, vielleicht acht Jahren der Junge hinausgeht, um im Mondschein ganz für sich allein zu spielen, lange nachdem alle anderen Kinder schon hineingegangen sind. Und wie er sich schließlich hereinschleicht und in der Hand etwas Glänzendes hält.

»Was ist das, was da so glänzt?«, fragt sie ihn.

Zuerst versucht er, es zu verstecken, aber dann erklärt er: »Es ist ein Stern, Ma. Ich habe ihn gepflückt.«

»Wie bist du denn an den rangekommen?«

»Um diese Jahreszeit, im Sommer, hängen sie mos so niedrig, dass sie einem in den Weg geraten.«

»Dann geh und häng ihn wieder auf.«

»Wenn man einen Stern gepflückt hat, kann man ihn nicht wieder aufhängen.«

»Du hättest ihn gar nicht erst pflücken dürfen. Nicht, solange er noch grün ist. Du solltest warten, bis er reif ist und von selber runterfällt.«

»Und was soll ich jetzt damit machen? Jetzt hab ich ihn nun mal.«

»Dann bring ihn raus, damit er von selbst zurückfindet. Zwei Sachen bringt man nie mit herein: einen Stern und eine Gottesanbeterin. Sie bringen Glück, beide, aber wenn man sie mit reinbringt, gerät man in Schwierigkeiten. Draußen gehören sie Tsui-Goab. Aber drinnen nimmt Gaunab sie weg und bringt sie in den schwarzen Himmel der Nacht, wo er haust.«

»Ist gut, Ma.«

Aber es ist dunkel, und sie kann nicht sehen, wie er den Stern wieder loswird.

Ein anderes Bild, das an ihren Augen vorbeizog, war wahrscheinlich aus sehr ferner Zukunft gekommen, denn darauf sah sie ihr Kind als verschrumpelten alten Mann, der sich durch eine leere, ausgedörrte Landschaft schleppt. Er wedelt mit den Armen, auf und ab, auf und ab. Und sie sieht, wie aus seinen langen, spindeldürren Armen Federn sprießen, lange Federn, braune, und andere, weiß gestreifte wie die des Gauklers, und vor ihren Augen hebt er vom Boden ab und fängt an zu fliegen, fliegt höher als der Wind. Und auf irgendeine unerklärliche Weise war sie neben ihm und sah alles, was er sah, unbekannte Flüsse und Bergketten, die unter ihnen vorbeizogen, ferne Länder und Orte, die von seltsamen Menschen und Tieren bevölkert waren. Sie sah fliegende Elefanten und Trappen mit Rhinozeroshörnern und Leute, denen der Kopf aus der Brust wuchs, und hochgewachsene Frauen mit riesigen funkelnden Diamanten an ihren großen Zehen. Sie sah Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte: einen Löwen und ein Schaf, die friedlich nebeneinander lagen, eine Kuhantilope, die eine Gans säugte, einen Leoparden, der ein paar Küken hütete, eine Elenantilope und eine Gottesanbeterin, die sich paarten.

Zuerst ängstigte sie, was sie sah. Doch schnell beschloss sie, sich dem zu überlassen und keine Fragen zu stellen. Nur einer Sache war sie gewiss – dieses ihr Kind war etwas Besonderes. Was vor ihm lag, hätte nicht ein Einziger ihrer Vorfahren erahnen können.

All das sah sie des Nachts; sie konnte nichts als seufzen. Und versuchen, nicht mehr nachzudenken. Was auch immer geschehen sollte, würde geschehen. Sie schob ihre Brustwarze wieder in den Mund des Säuglings. Während er nuckelte, sprach sie weiter. Gut möglich, dass Leute, die draußen vorbeigingen, stehen blieben, um den Stimmen zu lauschen. Denn bei dieser Frau konnte man nie sicher sein, ob sie Besuch hatte oder mit verschiedenen Stimmen zu sich selber sprach; und hätte man sich die Mühe gemacht zu fragen, hätte man wohl kaum gewusst, was man von der Antwort halten sollte. »Das war Heitsi-Eibib«, hätte sie vielleicht gesagt. »Er ist gekommen, um seinen Sohn zu besuchen.« In einer solchen Nacht konnte man deutlich den tiefen Bass einer Männerstimme erkennen. Genauso gut hätte es aber auch ein Fremder sein können, einer wie der Wanderer, der vor neun Monaten hier verweilt und seinen Samen in ihren Leib gesät hatte. Oder sogar der Adler, der ihn gebracht hatte. Wenn derlei Dinge geschahen, glaubten viele, die Welt sei immer noch so, wie sie in der Zeit vor aller Zeit gewesen war, als alles sprechen konnte: Mensch und Affe, Maus und Gottesanbeterin, Adler und Schlange und Steine, so wie Heitsi-Eibib sie nach dem Gebot Tsui-Goabs gemacht hatte.

»Und was hat Heitsi-Eibib gesagt?«, fragte einer vielleicht.

»Er hat gesagt, dieses Kind muss mit viel Umsicht aufgezogen werden, denn es wird ein großer Mann werden.«

»Schwer zu glauben, wenn man ihn so sieht. Hat er doch kaum die Größe einer Kakerlake.«

»Das stimmt.« Noch ein Seufzer. »Aber vergiss nicht, am Anfang hat Heitsi-Eibib auch nicht anders ausgesehen. Es steht uns nicht zu, daran zu zweifeln oder darüber zu spotten.« Unbeirrt, gelassen deckte sie dann den erbärmlichen kleinen Gnom wieder zu und erklärte: »Es ist Zeit für dich, zu gehen. Ich erwarte Gäste.«

Dann warfen die Leute einander vielsagende Blicke zu und schickten sich zum Gehen an. Ein paar lungerten vielleicht noch eine Weile draußen herum. Und drinnen fingen mit Sicherheit wieder die Stimmen an.

Kupidos Chronik

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