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10. Unterwegs

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Ein, zwei Monate lang ging es mit diesen nächtlichen Besuchen so weiter. Möglicherweise auch drei oder vier, man weiß es nicht so genau. Zu jener Zeit war das nicht wichtig. Erst als klar wurde, dass die Nooi immer stärker zunahm – ein Wunder, wenn es denn je eines gegeben hat, war doch ihr Mann schon so lange tot und in der Steppe begraben –, wurde es für Servaas Ziervogel Zeit, seine Wagen wieder zu beladen und sich nach Gott weiß wohin auf den Weg zu machen.

Von dem Augenblick an, als Kupido Wind davon bekam, dass der Geschichten-Mann sich zur Weiterfahrt anschickte, lag er mit sich selber im Krieg. Er brannte darauf, auch wegzugehen, doch gleichzeitig wollte er bleiben. Angenommen, er ginge weg, und seine Mutter käme so leise, wie sie gegangen war, zurück? Was sollte dann aus ihr werden? Andererseits hatte sie ihm vom Tag seiner Geburt an erzählt, dass er eines Tages die Welt durchstreifen werde – warum sollte er seine eigentliche Natur verleugnen?

Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe herauszubekommen, was Heitsi-Eibib mit ihm vorhatte. Das wäre wirklich hilfreich gewesen. Doch seit jenem verwünschten Tag, als er den Namen des Jägers unnütz in den Mund genommen hatte, lebte er in Ungewissheit. Außerdem machte es ihm Sorgen, wie der große, hagere Neuankömmling auf der Farm ihm mit seinen Geschichten allmählich den Kopf verdrehte. Er war sich nicht mehr ganz sicher, was es mit Heitsi-Eibib auf sich hatte. Auch nicht, was Tsui-Goab und Gaunab anging. Allmählich sah es ganz so aus, als gäbe es weit mehr auf dieser Welt, als er bislang gedacht hatte. Schon allein bei dem Gedanken wurde es ihm eng ums Herz. Zugleich verspürte er aber eine Art Hunger in sich, die Art von Hunger, die einen Mann plagt, wenn er eine Frau braucht, einen Hunger nach zartem Himmelsfleisch, von dem er noch nie zuvor gekostet hat. Doch was würde aus seiner Mutter, was würde aus seiner Mutter?

Eines Morgens dann – gerade hat er gesehen, wie der Geschichten-Mann mit reichlich staksigen Schritten aus der schmalen Tür des Hauses getreten ist, so, als versuche er, irgendeinem unsichtbaren Hindernis auszuweichen – wendet Kupido sich ab, damit der Mann nicht merkt, was er da anstarrt. Hier stehen sie, die beiden himmelhoch beladenen Wagen, und im vorderen Teil des Wagens, der ihm am nächsten steht, die kleine Ansammlung von schwarz verhüllten Dingern, all die Wiederholungen des Mannes mit den Vielgesichtern, und zwischen ihnen, auf dem Sitz, genau in der Mitte, hockt, hoch auf den Hinterbeinen sich aufrichtend, die Vorderbeine in frommer Andacht gekreuzt und von so leuchtendem Grün, dass es einen schier blendet, eine Gottesanbeterin.

Das ist das Zeichen, das er sich erhofft hat.

Er wendet sich wieder dem Haus zu, kehrt dem Wagen den Rücken, und wartet, bis der Skelettmensch näher kommt.

»Ich komme mit Ihnen, Baas«, verkündet er. Ohne eine Spur von Aufdringlichkeit. Nichts als eine einfache Feststellung.

»Was redest du denn da, Kupido?«

»Wenn der Baas geht, gehe ich mit.«

»Was macht dich denn glauben, dass ich abreise?«

»Ich habe Sie beobachtet.«

»Selbst wenn es so wäre, und ich sage nicht, dass es so ist, ich habe schon Gehilfen, meine Ochsenführer. Warum sollte ich ein zusätzliches hungriges Maul stopfen?«

»Ich habe zwei geschickte Hände, Baas.«

»Und?«

»Es ist wichtig für mich, dass Sie mich mitnehmen. Ich glaube aber, dass auch ich für den Baas wichtig bin.«

»Bei was?«

»Ich kenne dieses Land wie meine Fußsohle, Baas. Überall lauern Gefahren, und wenn Sie nicht wissen, wohin Sie Ihren Fuß setzen sollen, ohne auf einen Schatten zu treten, kann es Sie das Leben kosten.«

Mijnheer Ziervogel ist geneigt, ihm zu glauben. Und er hat keineswegs den Wunsch, noch viel länger zu säumen. Im Verlauf der letzten paar Wochen hat der Leibesumfang der Farmersfrau beängstigend zugenommen.

Noch ehe der Tag sich neigt, teilt er ihr mit, ihm sei von Oben die Aufforderung zuteilgeworden, erneut ins Hinterland weiterzuziehen. Auch andere Leute bedürfen seiner Dienste: gerettete Seelen, die eine Bestätigung brauchen, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen haben, und die nicht geretteten, die nach Erlösung dürsten. Außerdem habe ihr verstorbener Ehemann, so erklärt er ihr, Verbindung mit ihm aufgenommen und ihn gedrängt, anderswo seine Tätigkeit im Dienst des Herrn fortzuführen.

Ob das heißen solle, fragt sie leise, dass er nie wieder ...? Er kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Furcht oder Erleichterung in ihrer Stimme mitschwingt.

Nicht ihr Ehemann, nein, bestätigt er. Aber wer weiß, vielleicht ein anderer ...? Wenn ihr Kind fällig ist, solle sie eine Reise mit ihrem eigenen Wagen in Betracht ziehen, schlägt er vor, vielleicht hinunter zum Kap. Er habe das Gefühl, Gott warte nur darauf, für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Eine Frau, die so hübsch sei wie sie, werde nie auf sich allein gestellt bleiben.

In dem Fall, verkündet sie, solle Gottes Wille geschehen. Sie habe nun ja genügend Zeit, über ihre Lage nachzudenken. Vielleicht sei es letztlich gar nicht so schlecht, ihr Bett wieder für sich allein zu haben.

Fast bringt ihn das dazu, seine Meinung zu ändern. Doch es gibt, sozusagen, eine Zeit fürs Kommen und eine Zeit fürs Gehen.

Noch vor Ende der Woche (in der Entlegenheit des Koup ist sich ohnehin niemand je sicher, welcher Wochentag gerade ist) will er aufbrechen und Kupido mitnehmen. Seine anderen Bediensteten sind nicht allzu erfreut über diese Aussicht, aber sie wagen es nicht, aufzubegehren.

Doch zuerst müssen die Wagen für die Reise hergerichtet werden. Wo nötig, neue Felgen, eine neue Nabe; etliche Speichen müssen ersetzt, beide Zugstangen repariert werden; neue Joche und Halfter, ein neuer Deckel für eine der Kisten. Kupido wird in die Vorberge geschickt, um im Dickicht Holz zu schlagen. Anschließend macht er sich mit Säge, Hammer und Meißel (selbst das neue Jagdmesser erweist sich als nützlich) an die Arbeit, bis jedes Scharnier vollkommen sitzt, jeder Dorn in seine Nut passt. Es ist eine wahre Freude, das anzusehen. So gut wie neu. Schließlich ist alles bereit.

Nachdem Servaas Ziervogel eine Auswahl an Geschenken getroffen hat, die er der Witwe übergeben möchte (ein Fässchen Arrak, Chintz und Leinen, eine Perlenschnur aus dem Neuen Jerusalem, Spielzeug und Naschwerk für die Kinder, Zucker und Kaffee sowie einen der nach wie vor liebevoll in Schwarz gehüllten Handspiegel), weist er Kupido an, alle restlichen Spiegel noch einmal gründlich zu polieren. Der starrt erneut voll heiliger Scheu den Vielgesichter-Mann an, erleichtert, aber auch beunruhigt, als ihm klar wird, dass diese auf dem Treck dabei sein werden. Und eines Tages versammelt sich, lange vor Tagesanbruch, die ganze Farm, um sich von ihnen zu verabschieden: die rundliche Nooi und ihre gaffenden Kinder, die Arbeiter mitsamt ihren Sprösslingen, sogar die Ziegen und Schafe, die fünf Kühe und ihr Stier, die Hühner und die Moschusenten, die drei Truthähne, die Schweine und ein kleiner Springbock, den sie selber aufgezogen haben.

Und so fahren sie los, ein Auftakt – wiewohl dies Kupido lange Zeit nicht klarwerden sollte – zu weiteren Wendepunkten in seinem Leben. Es wird nicht seine einzige Fahrt in das weite Landesinnere bleiben.

Die Reise bringt ihn in der Tat sehr weit weg von der Farm, auf der er das Licht der Welt erblickt hat: den ganzen Weg vom Koup bis in die Gegend jenseits Graaff-Reinet.

Mit etwas Raten und Wunschdenken könnte man eigentlich auch heute noch versuchen, auf einer Landkarte ihre Route von einem Ausspannen der Ochsen bis zum nächsten Halt nachzuzeichnen, doch ab einem gewissen Punkt könnte die Reise ohne weiteres alle vertrauten Marksteine hinter sich lassen und in eine Wildnis jenseits aller Namen fuhren. Einen geraden Verlauf nimmt sie jedenfalls nicht, diese Reise. Als Kupido eines Abends zu fragen wagt, wohin sie am nächsten Morgen wohl aufbrechen werden, antwortet der trauervolle Reisende: »Wie soll ich das denn im Vorhinein sagen? Nur dessen bin ich gewiss: Wenn wir zu einer Abzweigung kommen, folgen wir ihr.« Und deshalb könnte die Route ganz gut so verlaufen sein:

über die Jakkal- und die Dwyka-Berge und die Gamka Rivers,

entlang des Sand River durch das Vyevlei oder Feigental,

über den Droëberg, den Trockenberg, und den Witberg, den Weißen Berg,

die Droëkloofberge, die Trockenschluchtberge hinauf

und zur Bakoondlaagte, der Ofenebene, und Groenpoort, dem Grüntor,

vorbei am Kwaggapoel, dem Quagga- oder Zebrateich, und der Rietkuil, der Schilfkuhle,

vorbei an Eensam, was Einsamkeit bedeutet,

zum Boesmanpoortberg, dem Buschmannstorberg,

vom Fuß des Trompettersberg, des Trompeterberges zur Graslaagte, der Grasebene,

und weiter nach Platbosch und Bluepoort und zu den Klein-Winterhoekbergen,

durch die öden Landstriche bei Vaaldrai und Snake Fountain, der Schlangenquelle,

die Große Straße hinauf zum Plum Hill, dem Pflaumenberg, und zur Olive Fountain, der Olivenquelle,

nicht zu vergessen die Horse Fountain, Pferdequelle, und die Garlic Fountain, die Knoblauchquelle,

oder aber entlang der Kleinen Straße nach Hoogeneest und Outkraalleegte,

dann kommen Speelmanskraal und Vaaldraai und Gwarina;

verlockend sind Namen wie Kootjieskolk und Wagendrift und Windheuwel,

das heißt Kootjiesstrudel und Wagenfurt und Windhügel,

vorbei an Sandkraal und Voorspoed und Kwaggasfontein

bis nach Goedverwachting, was Große Erwartungen bedeutet,

und dann nach Gans Fontein, was Gansquell heißt,

nach Bossieskraal oder Strauchkraal, und zu den Dakklipheuwels, den Dachschieferhügeln,

vielleicht auch nach Fisanterivier und Vinkfontein und Bulwater und Rooiheuwel,

oder durch die Murderer’s Karoo beim Middle Lake und Mud Dam, die Mörderwüste beim Mittelsee und dem Schlammdamm,

vorbei an Scoppelmaaikraal und Skoorsteen und Die Puts

und Wolf Fountain, Wolfsquelle, und Jackal Fountain, Schakalquelle, und Herb Fountain, Kräuterquelle,

und Kleinkraalvoëlkuil und Grootkraanvoëlkuil und Hannekuil

nach Bakoond und Gannahoek und Poffertjiesleegte

und dann zu den Two Fountains, den Zwei Quellen, und zur Bulrush Fountain, der Binsenquelle,

zur Rhinoceros Fountain, der Nashornquelle, und der Wild Duck Fountain, der Wildentenquelle: zu all diesen Quellen (und alle haben sie ihre Schlange, die meisten auch ihre Nixe);

dann weiter nach Riem und Luiperdskloof

und noch weiter hinunter zu den Onder-Sneeubergen und den Moordhoeksbergen,

vielleicht auch nach Geveltje und Wilgerbosch und Gemora,

dann kommen Gannalaagte und Noordhoekskloof

und, wer weiß, sagt Servaas Ziervogel, vielleicht auch Samaria und Damaskus

und der Khaiberpass und Usbekistan,

vorbei an Wladiwostock und Nischni Nowgorod und Samarkand,

und zum Toten Meer und zum Kaspischen Meer und zum Schwarzen Meer,

vorbei an Uranus und Saturn und Pluto

und an der Sonne und dem Mond und Tsui-Goabs Milchstraße;

sie erliegen der Verlockung der Blomfonteinsberge, der Blütenquellenberge,

und des Nardousbergs, ziehen zum Aasvoëlberg, dem Geierberg,

oder auch nach Slechtgenoeg, Schlechtgenug, und Goedgegund, dem Wohlbestallten,

wo die Quellen ebenfalls todbringende Maiden und wunderschöne Schlangen gebären:

Paardefontein, Blinkfontein, Vlakfontain, Boesmanfontein, die Buschmannsquelle

– und dort machen sie Halt.

Die ganze schier endlose Reise über sind die beiden auf einanders Gesellschaft angewiesen, da die Ochsenführer und Gehilfen stets unter sich bleiben. Servaas Ziervogel kann endlose Tage seine Erzählungen fortspinnen. Meistens sind es biblische Geschichten, die er allerdings aus dem Gedächtnis und mittels seiner Vorstellungskraft großzügig ausschmückt; im Gegenzug überschüttet Kupido ihn mit Geschichten, die seine Mutter ihm erzählt hat, als er noch klein war. Gelegentlich singen sie, vorwiegend Hymnen, die der fromme Mann ihn gelehrt hat, dann wieder gleichförmige, vertrackte Melodien, die Kupido ihm – zumeist vergeblich – beizubringen versucht. Wann immer sie einen Hügelkamm oder einen Berg überqueren, schreit Kupido gegen die Klippen und Schroffen an, um das Echo zu sich zurückkommen zu hören. Mit einer Stimme, die für Servaas Ziervogel ein steter Quell der Verwunderung ist, denn es ist schier unglaublich, dass so brausende Orgeltöne aus einem so mickrigen Körper kommen.

»Du solltest Prediger werden«, sagt er oft. »Eine solche Stimme ist geschaffen dafür, gehört zu werden; du darfst sie nicht hier im Busch, zwischen Steinen und Aloen verstecken.«

Dann grinst Kupido nur verlegen. Gelegentlich erwidert er: »Ich bin Hottentotte, Baas.«

Um sich erleuchten zu lassen, greift der große dünne Mann regelmäßig auf die Heilige Schrift zurück, aus der er des Abends am offenen Feuer vorliest und dabei seine große braune Prachtbibel auf den knochigen Knien liegen hat. Viel versteht Kupido nicht, doch er ist vom bloßen Klang der Worte entzückt. Immer öfter fragt er sich, ob er nicht die Welt Heitsi-Eibibs hinter sich lassen und in die des Buches eintreten sollte. Doch dann ziehen sie zufällig wieder durch eine enge Schlucht, in der ein Steinhaufen für den Gott aufgeschichtet ist; und jedes Mal, ohne Ausnahme, fühlt er sich verpflichtet, vom Wagen herunterzuspringen und seinen Stein auf den Haufen zu legen; die anderen Hottentotten-Helfer folgen ohne zu zögern, seinem Beispiel. Zwar verbirgt Heitsi-Eibib sich seit jenem Tag, an dem sie auf der Jagd waren, vor Kupido, aber man kann ja nie wissen. Er könnte immer noch irgendwo auf der Lauer liegen, ihm entgeht nichts, und eines Tages, wer weiß, taucht er vielleicht wieder auf und fordert Rechenschaft von Kupido.

Noch einer anderen Pflicht kommt er gewissenhaft nach. Auf der langen Reise verweilt er bei jedem spruit oder Strom oder Fluss und bei jeder Quelle und bringt sein Opfer aus Innereien oder Früchten und Knollen dar, um sich der Gunst der Schlange zu versichern, die dort im Hinterhalt liegt.

Auch auf die Jagd geht er weiterhin. Manchmal zusammen mit den Ochsenführern, meistens jedoch allein. Dann hat er nur das Jagdmesser bei sich, das Servaas Ziervogel ihm gegeben hat; er folgt einer Fährte im Busch – keiner kann unerbittlicher ein Tier aufspüren als Kupido – und kehrt viele Stunden, manchmal einen ganzen Tag später mit seiner Beute, einem Blessbock oder einem Riedbock oder einem Quagga, zurück.

Einmal treffen sie auf einen Löwen, ein zahnloses, hinkendes altes Männchen, das bestimmt von einem jüngeren Rivalen im Rudel besiegt und aus der Gruppe ausgestoßen worden ist; nun bleibt es ihnen seit Tagen auf den Fersen. Abends schichten sie zwei hohe Lagerfeuer auf, zwischen denen sie sich schlafen legen, aber man kann nie wissen, wann es das Raubtier möglicherweise zum Äußersten treibt und es geradewegs über die Flammen springt. Keiner wagt auch nur ein Auge zuzutun. Und dann, eines frühen Morgens, verkündet Kupido: »Sie fahren voraus. Ich habe erst ein Wörtchen mit diesem Löwen zu reden.«

Servaas Ziervogel sagt nichts, wird aber ganz blass im Gesicht; die hottentottischen Gehilfen kichern, doch Kupido beachtet sie nicht. Entschlossen umfasst er sein Messer und marschiert mit weitausholenden Schritten in das Ganna-Gestrüpp, das in dieser Gegend ziemlich hoch wird.

»Nimm eins von meinen Gewehren«, ruft Servaas Ziervogel ihm nach.

»Nein, das Messer reicht.«

Die Wagen setzen ohne Kupido ihre Fahrt fort. Gemächlich fahren sie dahin, bis es Abend wird; von Zeit zu Zeit blicken sie um sich oder verdrehen die Augen gen Himmel, ziehen dann weiter. Bis kurz nach Sonnenuntergang, als die Dunkelheit sich auf sie senkt und Kupido, anscheinend völlig unbeschwert, aus den Büschen hinter ihnen auftaucht.

»Und?«, fragt Servaas Ziervogel. »Wo ist der Löwe?«

»Der wird uns nicht mehr belästigen.«

Mehr sagt er nicht. Doch von dem Löwen ist nichts mehr zu sehen.

Wann immer sie unterwegs bei einer Farm haltmachen, wird daraus unweigerlich ein langer Aufenthalt. Servaas Ziervogel kennt keine Eile, vor allem dann nicht, wenn sich bei ihrer Ankunft herausstellt, dass der Farmer nicht zu Hause ist. Möglicherweise ist er unterwegs nach Kapstadt, um seine Produkte zu verkaufen oder einzutauschen oder um Sklaven zu kaufen; oder er ist weit im Landesinneren auf der Jagd oder auf einem Streifzug gegen Buschmänner – in einem solchen Fall weiß der Mann Gottes immer eine Möglichkeit, sich in die Stellung des abwesenden Ehemannes hineinzuschmeicheln. Witwen findet er besonders unwiderstehlich. Diese sorgen zudem für günstige Gelegenheiten, seine Waren loszuwerden.

Mit der Zeit folgt Kupido bei derlei Gelegenheiten dem Beispiel seines Herrn, in seinem Fall bei den Sklaven- und Dienstfrauen auf der Farm, und findet allmählich recht großes Gefallen daran, legt auch immer größeres Geschick dabei an den Tag.

Bald schon entdeckt er, dass Servaas Ziervogel bei diesen Aufenthalten auf verschiedenen Farmen sich als lobenswert großzügig erweist, was die Arrakfässchen in seiner Ladung betrifft. Im Verlauf der Reise findet auch Kupido allmählich Geschmack an Branntwein, und mit dem Trinken und da ihm unbeschränkt Frauen zur Verfügung stehen, wird das Leben zu einem fortwährenden Fest. Das nimmt nicht immer einen guten Ausgang: Vielleicht wegen seiner Unerfahrenheit führt sein Umgang mit Frauen zu schlimmen Streitereien. Zweimal sorgt sein Jagdmesser für beträchtliche Schwierigkeiten. Beim ersten Mal trägt sein Widersacher lediglich eine Fleischwunde davon. Beim zweiten Mal jedoch bringt die Klinge zwischen zwei Rippen den Mann fast um. Servaas Ziervogel kommt nicht umhin, eine Entschädigung an die Betroffenen zu zahlen, was beklagenswerte Einschränkungen von Kupidos Branntweinrationen zur Folge hat. Zu dem Zeitpunkt hat er allerdings bereits herausgefunden, wie man das Fass entstöpselt, sich bedient und den fehlenden Branntwein durch Wasser ersetzt, und so ändert diese Strafe praktisch kaum etwas. Und allmählich eilt ihm auf der Reise nicht nur sein Ruhm als Jäger, Spurenleser und Sänger voraus, auch sein Ruf als Schürzenjäger, Rauf- und Trunkenbold breitet sich aus. Langsam nimmt die große Zukunft, die seine Mutter ihm einst vorausgesagt hat, Gestalt an.

Doch das Beste am Ganzen ist für ihn Servaas Ziervogels Bereitschaft, ihn lesen zu lehren. Viel Zeit für Lektionen bleibt zwar nicht, da offenbar stets irgendetwas anderes dringlicher ist. Doch allmählich, ganz allmählich beherrscht er die Grundzüge des Schreibens. Und als sie schließlich in der Gegend anlangen, in die Servaas Ziervogel die ganz Zeit über eigentlich wollte, hat er genügend Fortschritte gemacht, um sorgfältig, fast ehrfurchtsvoll mit ausgestrecktem Zeigefinger die Worte auf ein Stück Papier zu stupsen, ungefähr so, wie ein Mistkäfer seine wertvolle kleine Kugel vor sich her rollt.

Ihr vorläufiges Ziel im Ostkap ist eine Farm in den Ausläufern der Renosterbergkette. Und dann eine andere in Agter-Sneeuberg. Und noch eine andere im Gebirgszug Bouwershoek. Und zu allerletzt landen sie in der Nähe des Tandjiesbergs, auch Kleinzahnberg genannt, schon recht nahe dem kleinen Dorf Graaff-Reinet. Dort bleibt Kupido irgendwann zurück, während Servaas Ziervogel weiterzieht. Ein trauriger Abschied ist es, denn mittlerweile ist ihm der Mann mit seinen Geschichten, seiner Musik und den vielen seltsamen Dingen auf seinen Wagen ans Herz gewachsen. Aber er hat bei einem Farmer Arbeit gefunden, der ihn zum Spurenlesen, Jagen und Holzfällen im fast undurchdringlichen Busch der Bergschluchten, die mit so zaubrischen Namen gesegnet sind, gebrauchen kann. (Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet auf dieser Farm der Branntweinvorrat Servaas Ziervogels endgültig zur Neige geht.)

Eines sänftigt den schweren Schlag der Trennung: Servaas Ziervogels Entschluss, Kupido, als er endgültig Abschied nimmt, mit einem seiner wundersamen Spiegel zu beschenken. Im Besitz dieses Zauberdings, ist er nun für alles gerüstet, was die Zukunft noch bringen mag. Viele Jahre hindurch wird er den Spiegel sorgsam in seiner Hülle aus schwarzem Krepp lassen und das Tuch nur zu ganz besonderen Anlässen entfernen, um mit diesem allgegenwärtigen Fremden, der sich unerklärlicherweise auch als ein anderes Ich erweist, Rücksprache zu halten.

Der Meister der Geschichten, Musiker und Gottgesegnete zieht seines unvorhersehbaren Weges zum Mond und zu den Sternen und in fremde Länder. Kupido Kakerlak lässt sich auf der Farm nieder.

Dieser Abschied muss – sofern es überhaupt möglich ist, dem so folgenschweren Ereignis ein bestimmtes Datum zuzuweisen – um das Jahr des Herrn 1790, vielleicht auch ein, zwei Jahre früher oder später, stattgefunden haben, als Kupido um die dreißig Jahre alt war.

Es war ungefähr die Zeit, als er eine Frau fand. Und so kommt Anna Vigilant ins Spiel.

Kupidos Chronik

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