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b) Aufgaben im europäischen Rechtsraum
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Dogmatik bietet eine Lese-, Ordnungs- und Verständnishilfe im Umgang mit dem Rechtsmaterial sowie eine Folie seiner Kritik. Aus diesem Grund erscheint eine dogmatische Aufbereitung der verwaltungsrechtlichen Normen und Judikate im europäischen Rechtsraum als dringende rechtswissenschaftliche Aufgabe.[138] Dies gilt insbesondere angesichts einer nicht immer argumentativ entfalteten und konsistenten Rechtsprechung des EuGH und einer Rechtsetzungspraxis, bei der aufgrund zahlreicher Faktoren die Kohärenz eine nur nachgeordnete Rolle spielt. Es gibt zum europäischen Verwaltungsrecht kaum im gesamten europäischen Rechtsraum rezipierte rechtswissenschaftliche Konstrukte, die Lese-, Ordnungs- und Verständnishilfen bieten, insbesondere in einer rechtsgebietsübergreifenden Weise. Die dogmatische Ausrichtung bildet daher eine sinnvolle Mitte für eine gemeinsame Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum.
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Allerdings sollte sich eine solche Dogmatik des Verwaltungsrechts der Europäischen Union erreichbare Ziele setzen. Auch dies zeigt eine vergleichende Betrachtung der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften. Dort bleibt die Systembildung angesichts der Stoffmasse und Kurzlebigkeit vieler verwaltungsrechtlicher Regelungen regelmäßig hinter derjenigen im Strafrecht, im Privatrecht, aber auch im Verfassungsrecht[139] zurück. Als „kleine“ Alternative wählen viele Autoren die Fokussierung auf gerichtliche Entscheidungen, die sie systematisieren oder in einzelne Prüfungsschritte zerlegen. Die Verwaltungsrechtsdogmatik entwickelt sich in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung; oft ist die Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit gar der Zündfunken für die disziplinäre Etablierung. Bisweilen erstarkt diese Perspektive gar zum alles dominierenden Ansatz, so dass das Verwaltungsrecht zum Recht gerichtlicher Kontrolle öffentlichen Handelns schrumpft.[140]
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Viele Unterschiede zwischen den verschiedenen Dogmatiken stehen in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Geschichte der Gerichtsbarkeit und den Arten ihrer Kontrolle hoheitlicher Maßnahmen, ihrer Kompetenzen, Verfahren sowie Begründungsstilen. Dies ist besonders offensichtlich im Unterschied einer allgemeinen Gerichtsbarkeit zwischen einer spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit: Letztere legt theoretische, dogmatische und praktische Abgrenzungen und „Systembildungen“ nahe, die nicht nur ihre Zuständigkeiten im Gerichtsaufbau ausloten, sondern zur Identität des Faches in den entsprechenden Ländern wesentlich beitragen. Weiter zeichnet sich etwa in den Wissenschaftsstilen ab, ob die Dogmatik eher in den Händen von Professoren, so in Deutschland, Italien oder Spanien, oder aber in den Händen von Richtern, so in Frankreich und im Vereinigten Königreich, liegt.[141] Dies mag erklären, warum ein Urteil sich in einem deutschen wissenschaftlichen Text zumeist in der Fußnote zwecks Belegs eines davon grundsätzlich unabhängigen wissenschaftlichen Gedankens befindet, in Frankreich hingegen oft im Haupttext den wesentlichen Gegenstand der Erörterung bildet. Zudem erscheint eine Verwaltungsrechtswissenschaft und insbesondere die Dogmatik erheblich von der wissenschaftlichen Qualität der Judikate abzuhängen. Auf den europäischen Rechtsraum gewandt: Mehr begriffliche Stringenz, argumentative Prägnanz und systematische Kohärenz in der Entscheidungspraxis des EuGH würden die Entfaltung einer europäischen Verwaltungsrechtsdogmatik beflügeln.
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Bisweilen werden tiefgreifende methodische Differenzen zwischen englischem und kontinentalem Rechtsdenken vermutet. Dagegen ist es für den europäischen Rechtsraum wichtig festzuhalten, dass sich die britischen hermeneutischen Praktiken im Umgang mit Rechtstexten nicht prinzipiell von denjenigen des Kontinents unterscheiden. Die besondere Bedeutung von Sir Edward Coke und Sir William Blackstone für das englische Recht beruht gerade darauf, dass sie die auf dem Kontinent entwickelten argumentativen Standards in die Common-Law-Tradition einführen.[142] Wohl aber ist der Eigenstand rechtswissenschaftlicher Konstrukte geringer als in der kontinentalen, insbesondere deutschen Tradition, und ein kryptoidealistisches Systemdenken hat sich im britischen Rechtsdenken nie etablieren können. Dies mag ein Grund sein, warum sich im britischen öffentlichen Recht leichter ein zukunftsweisender verwaltungsrechtswissenschaftlicher Pluralismus entfalten konnte.
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Wenn sich die Dogmatik als identitätsbildende Mitte der Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum anbietet, so sollte sie nicht in ihr verharren. Wichtige Anstöße hierzu, gerade im Anschluss an die anempfohlene emanzipatorische Identität, kommen aus dem Vereinigten Königreich. Gegen Diceys konservativ inspirierte Ablehnung des Verwaltungsrechts formiert sich eine nicht primär dogmatisch, sondern funktionalistisch und progressiv ausgerichtete Verwaltungsrechtswissenschaft an der London School of Economics and Political Science (LSE).[143] Dieser britischen Tradition ist ein Typus rechtswissenschaftlicher Beiträge zu verdanken, der das rechtliche Material prozessorientiert anhand genauer Analyse der tatsächlichen Probleme sowie Positionen der diversen Akteure und ihrer Einflussnahmen erschließt. Die Zweckmäßigkeit dieser Forschung verdeutlicht sich, wenn man den juristischen Diskurs als einen Unterfall des allgemeinen praktischen Diskurses begreift, der gerade im europäischen Kontext fließend aus dem Rechtsetzungsdiskurs in den Implementationsdiskurs übergeht. Es ist kein Zufall, dass dieser britische Modus des Umgangs mit dem unionsrechtlichen Material gerade unter den Praktikern des Unionsrechts so erfolgreich ist.[144]
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Die Verwaltungsrechtswissenschaft der LSE versteht das Verwaltungsrecht nicht allein als Schöpfung und Ausdruck des liberalen Rechtsstaates, sondern als Instrument gesellschaftlicher Reformen,[145] ähnlich wie es Jahrzehnte später Wissenschaftler wie Sabino Cassese oder Eberhard Schmidt-Aßmann und Wolfgang Hoffmann-Riem tun. Diese englische Debatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist, ungeachtet ihrer Eigentümlichkeiten, Ausdruck einer bedeutenden Entwicklungslinie des Verwaltungsrechts und seiner Wissenschaft: eine den Bedürfnissen der komplexen Gesellschaft entgegenkommende, emanzipatorisch ausgerichtete administrative Einflussnahme auf soziale Prozesse. Bei aller Skepsis gegenüber hoheitlichen Steuerungsversuchen ist diese Orientierung unverzichtbar für eine zukunftsweisende Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum.[146] Eine solche politiknahe, prozessorientierte Verwaltungsrechtswissenschaft ist jedoch zu kombinieren mit spezifisch dogmatischen Ansätzen, die sektorübergreifende Bündelung und Systembildung leisten. Hierfür bietet sich eine verfassungsrechtlich inspirierte Durchdringung des europäischen Verwaltungsrechts an, die in den Verfahrensgarantien des Art. 41 GRC ihr dogmatisches Zentrum finden könnte[147] und nicht allein auf die Rationalisierung und Legitimation des geltenden Rechts, sondern auch auf seine Kritik und Fortentwicklung ausgerichtet ist.
Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › III. Verwaltungsrechtswissenschaft als Teil des neuen ius publicum europaeum