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4. Neubeginn unter dem Bonner Grundgesetz
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Nach der „deutschen Katastrophe“ stand der Nachdruck des Lehrbuches von Walter Jellinek (1948) für ein Wiederanknüpfen an die Bestände vor 1933. Hingegen reklamierten die zu wesentlichen Teilen schon während des Krieges verfassten Lehrbücher des unbelasteten Hans Peters und von Forsthoff einen Selbststand, der sich aus einer kaum rezipierten methodischen Verbindung von Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre und -politik[48] bzw. einem reichlich eigenwilligen Konzept rechtsstaatlicher Durchdringung einer veränderten Verwaltungswirklichkeit ergeben[49] sollte. Forsthoffs Lehrbuch blieb mit zehn Auflagen bis Anfang der siebziger Jahre die „erste Autorität im Verwaltungsrecht“,[50] wenn auch eine gewisse „rechtsdogmatische Unterbilanz“ bei dem mehr auf Leitideen als auf klassische Rechtsbegriffe ausgehenden Werk zu vermerken ist.[51] Auf Grund ihrer daseinsvorsorgenden und sozialgestaltenden Funktion, aber auch ihrer Bedeutsamkeit angesichts der Gefahren des technisch-industriellen Fortschritts führt die Verwaltung bei Forsthoff ein Eigenleben gegenüber der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung, das von eigenen Rechtsprinzipien geprägt ist.[52] Als literarisches Pendant in der frühen Bundesrepublik fungierte das dreibändige „Verwaltungsrecht“ von Hans Julius Wolff, das im Rechtsquellenkapitel in einer Nachwehe der Naturrechtsrenaissance[53] den „verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen“ immerhin noch die „Rechtsgrundsätze“ voranstellte, die zwar nur „subsidiär“ zur Anwendung kämen, aber als „unabdingbares Fundament der Gesamt- und der Teilrechtsordnungen stets höchstrangig“ seien.[54] Die Lesbarkeit des seit 1974 von Otto Bachof fortgeführten Werkes leidet unter einer Gliederungsmanie, die wohl einer systematischen Bändigung und terminologisch prägnanten Verarbeitung der wachsenden Stoffmenge dienen sollte.[55] Zu den wichtigsten Begriffsprägungen Wolffs zählt das „Verwaltungsprivatrecht“,[56] um die Verfolgung öffentlicher Zwecke in privatrechtlichen Formen zu bezeichnen und öffentlich-rechtlichen Bindungen zu unterstellen, die eine „Flucht ins Privatrecht“ partiell neutralisieren.
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Schrittweise hat sich, ähnlich wie im Italien der Nachkriegszeit, aber im Gegensatz etwa zum vergleichsweise offeneren französischen Verwaltungsrechtssystem, im bundesrepublikanischen Verwaltungsrecht und seiner Wissenschaft die „durchgängige Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts“ durchgesetzt,[57] Ende der fünfziger Jahre überspitzt formuliert in der These vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“.[58] Impulsgebend wirkte die Anordnung unmittelbarer Grundrechtsbindung jedweder öffentlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz, verbunden mit einer allmählichen Entfaltung von Grundrechtsfunktionen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die über die reine Eingriffsabwehr hinaus die auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlende objektive Wertentscheidung sowie die Teilhabe-, Schutz- und Verfahrensdimension herausstellte.[59] Hinzu trat das „formelle Hauptgrundrecht“ des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, das gegenüber der parlamentarisch gesteuerten und kontrollierten Exekutive, wiederum angeleitet durch das Bundesverfassungsgericht, jenen effektiven Rechtsschutz eröffnete, der gegenüber der monarchischen Exekutive so nie bestanden hatte.[60] In der Folge verloren nicht nur die „besonderen Gewaltverhältnisse“ namentlich in Schule, Militär und Gefängnis ihre verfassungsrechtliche Exemtionswirkung, sondern der Vorbehalt des Gesetzes erfuhr gemäß einer aus den Grundrechten, dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip hergeleiteten Doktrin eine Ausdehnung über den klassischen Eingriffsbereich hinaus auf alle „wesentlichen Entscheidungen“ im Staat, wohingegen sich ein „Totalvorbehalt“ auch im Bereich der Leistungsverwaltung[61] nicht durchsetzen konnte.[62] Die durchschlagende Verrechtlichung ging auf der Ebene des einfachen Rechts mit einer umfassenden „Subjektivierung des Staat-Bürger-Verhältnisses“ einher,[63] die im Rahmen einer „geradezu kopernikanischen Wende“ insbesondere für drittbetroffene Nachbarn und Konkurrenten im polygonalen Verwaltungsrechtsverhältnis „unter dem Gestrüpp objektiver Normen“ und vormals reiner Rechtsreflexe zunehmend subjektiv-öffentliche Rechte entdecken ließ.[64] Administrative Entscheidungsspielräume in Form von Ermessen aber auch von Beurteilungsspielräumen in bestimmten Konstellationen der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, insbesondere im Prüfungs- und teilweise im Technikrecht, unterlagen rechtlicher Disziplinierung und einer wachsenden Kontrolldichte seitens der Verwaltungsgerichte,[65] dabei immer auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der Rechtsanwendung im Einzelfall. Über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz entfalteten schließlich auch die binnenrechtlich angelegten ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften eine die Verwaltung selbst bindende Außenwirkung.[66] Motor dieser Entwicklung waren in einem beträchtlichen Ausmaß die Verwaltungsgerichte, nicht jedoch ohne Vor- und Nacharbeit der nicht ohne weiteres zur „Verwaltungsgerichtswissenschaft“[67] abstufbaren Verwaltungsrechtswissenschaft. Zusammengenommen hat die beschriebene Verbindung von materieller Verrechtlichung, Subjektivierung und Judizialisierung rückblickend im europäischen Vergleich von einem neuen deutschen Sonderweg sprechen lassen.[68]
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Im Bereich der Handlungsformenlehre hat die Zentrierung auf den Verwaltungsakt mit den Jahren abgenommen, zumal das durch eine Generalklausel weit gestellte Verwaltungsprozessrecht ihm nicht erst seit Einführung der bundesgesetzlichen Verwaltungsgerichtsordnung (1960) seine rechtsschutzeröffnende Bedeutung genommen hatte.[69] Wissenschaftlichen Auftrieb erhielt Ende der fünfziger Jahre der verwaltungsrechtliche Vertrag durch das fast zeitgleiche Erscheinen einer Serie seine rechtliche Zulässigkeit attestierender Abhandlungen.[70] Geblieben ist jedoch eine weitgehende Fokussierung auf einen nach außen gerichteten abschließenden Entscheidungsakt, wenn auch die Betonung des „Rechtsverhältnisses“ als „viel umfassenderes Institut“[71], gerade in den leistungsverwaltungsrechtlichen Dauerbeziehungen, wie des Verfahrensgedankens,[72] noch über die Vorgaben des 1976 kodifizierten Verwaltungsverfahrensgesetzes hinaus, hier relativierend gewirkt hat. Einen teils euphorischen Aufschwung erlebten seit den sechziger Jahren das Instrument der Planung[73] und in der Folge das Planungsrecht mit einer ausziselierten Sonderdogmatik. Damit ging eine partielle Umstellung von der klassischen Konditional- hin zur vergleichsweise offenen und abwägungsabhängigen Finalprogrammierung einher, wie die in den siebziger Jahren zeitweilig wieder ambitionierte Verwaltungswissenschaft vermerkte.[74]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland › II. Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht