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b) Kritik der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“
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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ sieht sich als Ergebnis einer Krise, die gegen Ende der achtziger Jahre eine „tief greifende Umbruchphase“ im deutschen Verwaltungsrecht eingeleitet habe.[93] Vollzugsdefizite, belegt durch empirische Implementationsforschung namentlich im Umweltrecht, sowie verbreitete Kooperations- einschließlich paralegaler Duldungspraktiken, Informationsdefizite und -dilemmata, ungeheure Aufgaben- und Komplexitätszuwächse, schließlich der untergründige „Wandel des bürgerlichen Rechtsstaats zum intervenierenden Wohlfahrts- und Präventionsstaat“ erforderten einen „grundsätzlichen Umbau des Verwaltungsrechts und seiner Dogmatik“.[94] Der doppelspurige Ansatz umschließt ein über das herkömmliche normverwertende Wissenschaftsverständnis hinausgehendes, auf Dauer gestelltes rechts- und verwaltungspolitisches Reformanliegen, um dem „komplexen Zusammenhang zwischen Rechtsetzung, konkreter Entscheidung und Vollzug“ gerecht werden zu können.[95] Damit verbunden ist die Ergänzung der rechtsakt- um eine wirkungsbezogene Sicht auf das nunmehr primär als Verhaltens- und nur sekundär als Kontrollprogramm verstandene Verwaltungsrecht.[96] Die explizite Einbeziehung der Frage nach der „Zweckmäßigkeit einer Lösung“ samt der Erklärungskraft entsprechender wissenschaftlicher Argumente bedingt eine Schwerpunktverlagerung von der rechtsaktfixierten Dogmatik auf eine „problemorientierte Handlungsperspektive“.[97]
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Proklamiert im Einleitungsaufsatz eines dreibändig angelegten Handbuchs des Verwaltungsrechts, das die Erkenntnisse von zehn Tagungsbänden zur „Reform des Verwaltungsrechts“[98] systematisieren und fortschreiben will,[99] bezeichnet „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ kein fertiges und homogenes Programm, sondern zeigt eine Richtungsänderung mit im Einzelnen noch unklarem Bewegungsverlauf an. Konzeptionell offen erscheint noch die Frage der Anlehnung entweder an den verwaltungswissenschaftlichen Steuerungsbegriff,[100] der eine Unterscheidbarkeit von Steuerungssubjekt und -objekt voraussetzt, oder den sozialwissenschaftlichen Leitbegriff „Governance“.[101] Letzterer eröffnet eine institutionalistische Perspektive auf Regelungsstrukturen, toleriert Grenzverwischungen aller Arten, legt den Anschluss an Netzwerkmodelle nahe und kann hybride Phänomene gegenwärtiger Verwaltung beschreiben, sperrt sich allerdings gegen klare normative Kompetenz- und Verantwortungszuschreibungen. Auch das mit dem Begriff des „Gewährleistungsstaates“ verbundene Konzept der „Regulierungsverwaltung“ sowie der „hoheitlich regulierten gesellschaftlichen Selbstregulierung“[102] bietet lediglich einen begrenzten, zudem „ungefilterten“[103] Zugriff auf die Verwaltungswirklichkeit, da sich dem modalen Ansatz keine Regulierungstatbestände und -maßstäbe entnehmen lassen. Greifbar ist das Anliegen einer problem- und wirkungs-, d.h. auch effizienzorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft, die die Bereitstellungs- und Bewirkungsfunktion von Recht ebenso berücksichtigt wie die „Qualität staatlich verantworteter Aufgabenerfüllung“ und die „Pluralität von normativen Legitimationsbausteinen“.[104] Nicht in der Sache, aber in der Konzentration und Verdichtung neu ist die Herausstellung des „Verfahrens-, Organisations- und Haushaltsrechts als wichtige Steuerungsressourcen“, die Betonung konsensualer, informaler und auch privatrechtlicher Techniken der Normumsetzung.[105] Neu vermessen werden unter Einbeziehung unter anderem der „Gewährleistungsverwaltung“ und des unübersehbaren Trends der „Ökonomisierung“ des Verwaltungshandelns die Typen hoheitlicher, kooperativer und privater Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben sowie Formen staatlicher Marktteilnahme.[106]
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Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ übt nicht nur, sondern erntet auch massive Kritik, insbesondere ihre „Selbstausrufung“, die durch „Großschreibung den Anspruch auf die Verkörperung einer Epoche“ ankündige,[107] teils schon assoziiert mit „Neuer Republik“.[108] In der Tat stellt sich, wie vormals schon bei der Diskussion über das „Neue Verwaltungsrecht“, die Frage, inwieweit die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ mehr ist als eine „rein verbale Innovation“.[109] Ob sie am Ende einen „Quantensprung“ und „Traditionsbruch“ auslösen wird, bleibt abzuwarten.[110] Nüchterne Betrachtung anerkennt bereits jetzt die Bereicherung um „zusätzliche Themen und Perspektiven“ sowie die „sorgfältige Erweiterung und Ergänzung der Problemtafel“.[111]