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b) Stationen der Entwicklung
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Die erste Blüte der Verwaltungsrechtsforschung ist untrennbar verbunden mit der zunehmenden Aktivität des Conseil d’État. Daher haben die meisten der heute noch zitierten Autoren eines gemeinsam: „Häufig sind sie zugleich hochrangige Verwaltungsbeamte, Mitglieder des Conseil d’État, Professoren, Buchautoren und Parlamentarier [...]; alles in allem sind sie in erster Linie Protagonisten (oder zumindest Akteure) des politischen und administrativen Geschehens und nur in zweiter Linie Autoren.“[27] Nach Einschätzung von Sabino Cassese, der sich für diese Hypothese auf Pierre Legendre beruft,[28] liegt dies darin begründet, dass in Frankreich eine „administrative Gesellschaft“ entstanden war, innerhalb derer „der höchsten Gerichtsbarkeit eine fundamentale Rolle zukam, eine Machtstellung durchaus vergleichbar dem Adel der vorangegangenen Jahrhunderte.“ „Eine administrative Gewalt, losgelöst von der exekutiven Gewalt trat hervor“, dergestalt, dass „das Postulat eines vom Staatsrecht verschiedenen Verwaltungsrechts als Reflex der Selbstbestätigung einer Verwaltung angesehen werden kann, die als von der Regierung getrenntes Verfassungsorgan verstanden wurde.“[29] Immerhin ist von dieser Epoche an, mit der zunehmenden Verbreitung des Verwaltungsrechts als Lehrfach an den Provinzuniversitäten, auch eine verstärkte publizistische Aktivität aus dem universitären Umfeld zu verzeichnen.
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Man fuhr fort, Texte zu exzerpieren, zu sortieren und zu klassifizieren, immer nach einer historischen Methode, mit der Hilfe von Juristen, die „gezwungenermaßen Historiker waren“.[30] Daneben tat sich mit der Analyse der Rechtsprechung des Conseil d’État ein anderer Weg auf, der bis heute der bestimmende geblieben ist, weil er die gesamte Ausrichtung des Verwaltungsrechts entscheidend geprägt hat. So konnte Rodolphe Dareste (1824–1911) konstatieren, dass die Rechtsprechung „das geworden ist, was sie sein sollte, ein wahrhaftiger Fundus für die Verwaltungsrechtswissenschaft.“[31] Gewiss, erkennt er an, ist sie das Produkt einer Justiz, die unter dem Ancien Régime (vermittels des Conseil du roi) eng mit dem Etatismus und Zentralismus verbunden war, aber „die Revolution hat diese Erfindung des Despotismus in einen Garanten der Freiheit verwandelt.“[32] Diese Feststellung ist selbstredend bis heute strittig geblieben. Ebenso umstritten war und bleibt der Zuschnitt des Forschungsgebiets selbst. Auf der einen Seite führte die Orientierung an der Rechtsprechung zu einer Abgrenzung, zu der Einschätzung, die Verwaltungswissenschaft entstamme „dem Bereich der Spekulation“, während die Verwaltungsrechtswissenschaft sich auf „das Gebiet des Realen“ beschränke[33] und nur Letzteres beachtlich sei. Auf der anderen Seite nötigte das starke Bewusstsein der politischen Implikationen dazu, eine solche Beschränkung vehement abzulehnen. Es galt, so stellte Laboulaye klar, „Kenntnisse in Politik und Verwaltungsangelegenheiten zu vermitteln, im Sinne einer liberalen Ausbildung der Bürger“.[34] Keine Frage, dass die rechtswissenschaftlichen Fakultäten, die aus der Reform der Rechtsschulen von 1808 hervorgegangen waren, darauf nur unzureichend vorbereitet waren. Indem dort auf Verwaltungswissenschaft nur wenig Wert gelegt, ja eine Verbreiterung der Lehre sogar schlichtweg abgelehnt wurde,[35] erwiesen sie sich als unfähig, den Erfordernissen der Ausbildung zukünftiger Beamter gerecht zu werden. Damit bereiteten sie selbst den Weg für ein bis heute prägendes Charakteristikum des französischen Bildungssystems: Nach der nur kurzlebigen Ecole d’administration 1849, wurde 1872 die Ecole libre de sciences politiques eröffnet, eine private Einrichtung, die 1945 zum Institut d’Etudes Politiques (IEP) der Universität Paris wurde; ebenfalls 1945 kam die Ecole Nationale d’Administration (ENA) hinzu. Der Staat rekrutiert seine Eliten in Politik und Verwaltung, angefangen mit den Mitgliedern des Conseil d’État, nicht mehr von den juristischen Fakultäten, und das trotz der Reformen, die diese seit der Dritten Republik erlebt haben.
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So wie Dareste sie verstand, war die „Wissenschaft vom Verwaltungsrecht“ eine technische Angelegenheit, die darin bestand, Fachwissen zu verbreiten und eine vernünftige Ordnung einzuführen, wo es bisher nur verstreute Verwaltungsmaterien gab. Diejenigen „Techniker“, die unmittelbar in die Aktivitäten des Conseil d’État involviert waren, haben sicher gleichermaßen, wenn nicht sogar stärker durch ihre Teilnahme an dessen Beratungen als durch ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen Einfluss ausgeübt. Sie erfüllten ihre oben genannte Aufgabe, indem sie, quasi bei Gelegenheit, die Idee einer notwendigen Rechtsbindung der öffentlichen Verwaltung etablierten. Was das Œuvre der Jurisprudenz anbelangt, fällt eine Gesamtbilanz in wenigen Worten schwer. Jedenfalls ist seine Geschichte untrennbar mit der institutionellen Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst verbunden. Ohne die Windungen und Wendungen in ihrem Verlauf nachzuzeichnen, kann man zumindest feststellen, dass sich die Rechtsprechung jener Zeit stark am zivilrechtlichen Paradigma orientierte, was zusammen mit dem vorherrschenden Liberalismus zu einer Fokussierung auf den Schutz individueller Rechte führte. Aus dieser Perspektive ging es weniger darum, die auf die Verwaltung anwendbaren Regeln zu identifizieren, als vielmehr die Fälle zu erfassen, in denen ihre Tätigkeit die Rechte Einzelner berührt: „Gefangen in ihrem abwehrrechtlichen Paradigma können Conseil d’État und Lehre den Verwaltungsakt nicht eigenständig definieren. Besessen von der sakrosankten Unabhängigkeit des Verwaltungshandelns gegenüber den Gerichten verinnerlichen sie erst das Prinzip des gerichtsfreien ‚reinen‘ Verwaltungshandelns [pure administration], um dann ex negativo den Bereich des gerichtlich überprüfbaren Verwaltungshandelns zu umschreiben. Dies geschieht dann auf indirekte Weise, weil nicht die Handlung der Verwaltung, sondern die Beeinträchtigung der Klägerrechte als Ansatzpunkt dient.“ Dabei steht die Entschädigung des Klägers im Vordergrund und weniger die Sanktion unrechtmäßigen Handelns.[36] Man muss freilich präzisierend hinzufügen, dass schon sehr früh Akte der pure administration wegen Kompetenzüberschreitung (excès de pouvoir) gerichtlich aufgehoben werden konnten.[37] Auf diesem Wege setzte der Conseil d’État nach und nach eine „objektive Rechtsbindung“ durch. So kam es vom Zweiten Kaiserreich an zu einer „Explosion der Nichtigkeitsklagen [recours pour excès de pouvoir]“: Angesichts eines autoritären Regimes „sah sich der Conseil d’État gezwungen, den Kreis der zulässigen Klagen auszuweiten“.[38]