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4. Das Verhältnis zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrechtswissenschaft
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Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erschien das Verwaltungsrecht noch als eine klar vom Verfassungsrecht geschiedene Materie. Auch wenn schon länger ein Rückgang der beratenden Funktion des Conseil d’État zu verzeichnen war,[92] so ermöglichte erst der Bedeutungszuwachs des Verwaltungsprozesses in der Republik die Etablierung der Verwaltungsrechtswissenschaft als selbständige Disziplin, „aus soziologischem Blickwinkel als spezialisiertes Gebiet von Rechtsproduktion, das sich durch eine gewisse Kohäsion auszeichnet und eine zumindest relative Eigenständigkeit besitzt.“[93] Ohne Zweifel ist das Bild grob vereinfachend, wonach dem Verwaltungsrecht ein Verfassungsrecht ohne Richter gegenüberzustellen ist, mit einer Geschichte geprägt von Revolutionen, Regimewechseln und Verfassungsrechtlern, die, mit wenigen brillanten Ausnahmen, tendenziell das Recht vernachlässigten, um sich der Politikwissenschaft zuzuwenden. Es erlaubt aber zumindest die Schlussfolgerung, dass unter der Verfassung von 1958 in der Fünften Republik, insbesondere aufgrund der Einführung einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, ein Teil der Verfassungsrechtler begann, dem verwaltungsrechtlichen Vorbild zu folgen.[94] Die Verwaltungsrechtswissenschaft sah sich fortan mit einer Disziplin konfrontiert, die dazu neigt, die Idee einer „Konstitutionalisierung“ des gesamten Rechts zu propagieren, und die sich gelegentlich als die Königsdisziplin begreift. Auch wenn dies nur ein Element unter vielen ist, so wird daran doch „eine Abwertung des Verwaltungsrechts, auf normativer wie auf wissenschaftlicher Ebene“ festgemacht, ein „Absturz der Disziplin in der Hierarchie der Wissenschaften“.[95]
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Das hat Georges Vedel[96] nicht davon abgehalten, diese Entwicklung zu begrüßen. 1995 schrieb er: „Was wir seit ungefähr 30 Jahren erleben, in Grundzügen auch schon seit Inkrafttreten der Verfassung von 1958, ist die Vereinigung der beiden Rechtsgebiete. Die sprichwörtliche Kluft, die sie zu trennen schien, wurde überwunden und damit ein Begriff mit neuem Leben erfüllt, der Charles Eisenmann am Herzen lag: Das ‚öffentliche Recht‘.“[97] Ihm selbst, man kann es sich denken, war der Begriff ebenso wichtig. Bereits 1954 hatte er einen Artikel über „die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts“ veröffentlicht, den er mit der Erklärung begann, dass das Konzept des service public nicht der Eckpfeiler des Verwaltungsrecht sein konnte, weil es keine verfassungsrechtliche Grundlage aufwies: „Die Verfassung“, schrieb er, „ist die notwendige Grundlage der Regeln, die das Verwaltungsrecht bilden.“ Demgemäß gibt es in Frankreich „eine Verwaltung im Wortsinne, eine Herrschaft des Verwaltungsrechts und eine verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit nur, soweit es um eine Handlung geht, die materiell und formell in den Bereich der Exekutive fällt.“ Dabei versteht sich, dass die „ureigene Handlungsweise der Exekutive die Ausübung öffentlicher Gewalt [ist], das heißt von Befugnissen, die zwar außerordentlich weitreichend, aber gleichwohl inhaltlich determiniert sind.“[98] Ohne Zweifel ist dies immer noch die dominierende Vorstellung; jedenfalls findet man sie in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel der 1980er Jahre wieder, als Vedel zu dessen Mitgliedern zählte.[99]
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Vedel bezog sich auf Charles Eisenmann (1903–1980), einen Kollegen und Kritiker seines Aufsatzes von 1954. Eisenmann, Übersetzer und kritischer Schüler von Hans Kelsen, war „auf der Suche nach der Wissenschaft des Rechts“,[100] und eine weitere prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts. „Das Verfassungsrecht“, schrieb er 1972, „sagt absolut nichts über die Grundlagen des Verwaltungsrechts“. Es enthält keinen Hinweis auf den Begriff der „Verwaltung“ oder des „Verwaltungsrechts“.[101] Eisenmann beschreibt die Verwaltung als die „Gesamtheit der staatlichen Organe, die an das ‚Regierung‘ genannte Organ gebunden sind, sei es durch ein Unterordnungs-, sei es durch ein Kontrollverhältnis.“ Er hält es für „irrational“ und „unlogisch, die Disziplin auf die Gesamtheit der Regeln zu beschränken, die in die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit fallen“. Wenn seine Untersuchung in ihrem Ergebnis auch nicht besonders originell ist, so ist sie es dennoch insofern, als sie von einem Juristen stammt, der sich den Theoretikern zurechnet und die Ansicht vertritt, dass „das Studium des positiven Rechts und die allgemeine Theorie das geltende Recht nicht auf dieselbe Weise betrachten, behandeln und verwenden.“ Demgemäß unterscheidet er juristische Konzepte, die ihren Ursprung im positiven Recht haben, von denen, die „Theorie und nichts als Theorie“ sind.[102] Wie schon im Verfassungsrecht, übte er auch im Verwaltungsrecht eine systematische Kritik an seinen Zeitgenossen, indem er „eine Form des juristischen Konstruktivismus“ entwickelte, die heute wenig gebräuchlich ist. Die Mehrheit der Lehre bleibt nach wie vor einer induktiven Methode treu, die vom geltenden Recht ausgeht.[103] Die Verwaltung, von der Eisenmann sprach, ist ein theoretisches Konstrukt, das von einem Strukturbegriff ausgeht; die verschiedenen Verwaltungsorgane bilden untereinander lediglich eine sehr relative und näherungsweise Einheit.[104] Was das Verwaltungsrecht anbelangt, so suchte er dessen Besonderheit in der Methode der Erzeugung und Anwendung von „Normen“. Dies ist ein vorher in Frankreich kaum gebrauchter Begriff, der sich heute jedoch in den normalen juristischen Sprachgebrauch eingebürgert hat.[105]