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6. Die institutionelle Festigung der Verwaltungsrechtswissenschaft

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Duguit und Hauriou konnten ihre herausragende Rolle nur deshalb erlangen, weil das Leitbild des Zivilrechtlers an den juristischen Fakultäten an Strahlkraft eingebüßt hatte. Davon zeugt die Reform der Professorenrekrutierung von 1896, die für das nationale Zulassungsverfahren vier Spezialgebiete vorsah: Privatrecht, öffentliches Recht, Rechtsgeschichte und Wirtschaft. Zum Kreis der Verwaltungsrichter kam so ein universitärer Zirkel hinzu, der einige herausragende Persönlichkeiten hervorbrachte. Wie ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert machten auch diese Hochschullehrer häufig aus ihrer Bewunderung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit keinen Hehl, in einer Mischung aus Faszination und „Gerichtsgläubigkeit“. Aber sie wollten mehr sein als bloße Wissensvermittler. „Damit nehmen also die beiden gegensätzlichen Figuren des Theoretikers und des Praktikers Gestalt an“:[123] „Da ja die Theorie die Praxis informieren und anleiten muss, streben die eifrigen Kommentatoren der höchstrichterlichen Rechtsprechung nach einer inoffiziellen Funktion, die ihnen gleichwohl beträchtlichen Einfluss sichert: Berater der Richter.“[124]

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Das Ergebnis war ein „zweistimmiger Chor“, der das Hauptinstrument der institutionellen Verfestigung der Verwaltungsrechtswissenschaft im 20. Jahrhundert war. Einige Auseinandersetzungen erlangten bleibende Berühmtheit, wie „der Streit zwischen Dogmatismus und Empirismus“ Anfang der 1950er Jahre.[125] Auf Seiten des Conseil d’État hob Bernard Chenot die Notwendigkeit eines richterlichen Empirismus hervor, der sich von jeder Verbeugung vor theoretischen Konstruktionen freimachen müsse.[126] Seitens der Universität verfasste Jean Rivero eine „Apologie der Systembauer“.[127] Das Konzept des service public war Ausgangspunkt der Diskussion. Da es nicht als alleiniges Kriterium der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit angesehen werden konnte, blieb die altbekannte Abgrenzungsfrage weiter offen, ohne Aussicht auf eine überzeugende Antwort, und so war es letztlich wieder die Natur des Verwaltungsrechts selbst, die zur Debatte stand. Georges Vedels Ansicht haben wir bereits vorgestellt.[128] Ihr Siegeszug ging mit der Aufgabe der Vorstellung einher, dass es ein einziges Kompetenzkriterium geben müsse. Dies hat allerdings nichts daran geändert, dass weiterhin von einer Krise gesprochen wurde. „Seit über dreißig Jahren“, so konnte man vor mehr als zwanzig Jahren lesen,[129] „ist in der Literatur ‚Krise‘ die bevorzugte Beschreibung für den Zustand des Verwaltungsrechts, so dass man zu schreiben versucht sein könnte, die Krise sei die Ausdrucksform des Verwaltungsrechts.“ Da die Krisenrhetorik unterschiedslos auf das positive Recht wie auf die Rechtswissenschaft zu zielen scheint, drängt sich die Frage auf, wer genau sich eigentlich in der Krise befindet. Ist es nicht zuvörderst „eine intellektuelle Gemeinde, die es nicht mehr schafft, zu überzeugenden Erkenntnissen zu gelangen“?[130]

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Allen Krisendiskussionen zum Trotz scheint es um die Verwaltungsrechtswissenschaft, wenn auch mit einigen Höhen und Tiefen, ganz gut bestellt, jedenfalls wenn man dem Conseil d’État Glauben schenkt. Dessen Mitglieder selbst feiern die „Erneuerung des Verwaltungsprozesses innerhalb eines Zeitraums, der mit dem Gesetz vom 8. Februar 1995 begann“:[131] „Solchermaßen vom Gesetzgeber mit neuen und wirksameren Instrumenten ausgestattet, sah sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in gewisser Weise gestärkt.“[132] Dazu zeigt sich nun auf Seiten der Richter ein wahrhaft pädagogisches Anliegen: „Symptomatisch für diese neue Haltung sind die Urteile, die über den bloßen Streitgegenstand hinaus in vorbildlicher Weise den rechtlichen Rahmen einer Streitsache darlegen.“[133] Wo ihm vormals der elliptische Charakter seiner Urteile vorgehalten wurde, geriert sich der Conseil d’État im universitären Verständnis jetzt als „Systembauer“, auf die Gefahr hin, dass er in seinen allzu breiten Ausführungen Widersprüchlichkeiten zeigt, die ansonsten unbemerkt geblieben wären.[134] Wie immer ist der Richter am Conseil d’État guter Dinge, und er muss nur noch René Chapus mit der Feststellung zitieren, dass „in Frankreich heute nichts moderner [ist] als der Conseil d’État.“[135] Letzteres gilt gerade auch im Rahmen seiner gleichfalls „produktiven“ beratenden Funktion.

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