Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Andrzej Wasilewski - Страница 55

1. Perspektivenwandel und Omnipräsenz in Forschung und Lehre

Оглавление

40

Führte das Europarecht in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine randständige Existenz in der rechtswissenschaftlichen Forschung und Lehre, so sind seine Einflüsse und Bedeutsamkeit jedoch keineswegs vollständig ignoriert worden, wie seine frühe Einbeziehung in den Kreis der verwaltungsrechtlichen Rechtsquellen belegt.[218] Periodisierungen sprechen hier von einer „Phase der Bestandsaufnahme“,[219] die auf eine „deskriptiv-ordnende“ Erfassung der in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes entwickelten „Verwaltungsrechts-Grundsätze“[220] sowie der punktuellen fachrechtlichen Bezüge in den Rechtsetzungsakten der Gemeinschaft ausgerichtet war. Eine zweite, Ende der siebziger Jahre anhebende Phase der „Europäisierung“ habe den „ausgreifenden Regelungsanspruch des EG-Rechts in Verwaltungssachen“ und die durchschlagende Wirkung der EuGH-Rechtsprechung auf das nationale Verwaltungsrecht verdeutlicht,[221] was in der Wissenschaft zu euphorisch zustimmenden wie skeptisch abwehrenden, aber auch ausgleichend vermittelnden Reaktionen führte, kulminierend in den Referaten und der Diskussion der Mainzer Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1993. Pointiert sprach der damalige Richter des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Manfred Zuleeg den „Strukturen des nationalen Verwaltungsrechts“ einen „Eigenwert“ ab,[222] den Diskussionsredner hingegen als „Verwaltungsrechtskultur eines Rechtsstaats“[223] oder mit Hinweis auf die „historische Entwicklung“, die verfassungsrechtliche Verankerung und ihre „Vernetzung als System“[224] verteidigten. Der separierten Wahrnehmung hier des ingerierenden Europarechts, dort des weitmöglichst zu bewahrenden Verwaltungsrechts entspricht die abgesonderte Stellung des Wahlfachs „Europarecht“ im akademischen Lehrbetrieb. Schließlich begann in den neunziger Jahren eine „Phase der Strukturbildung“, die einer „umgreifenden Ordnung“ der „Gesamtheit der administrativen Beziehungen in der Gemeinschaft“, d.h. des „Europäischen Verwaltungsrechts“ in einem übergreifenden Sinne gilt.[225] Verbunden hiermit ist ein Perspektivenwandel hin zu einer systematischen Einbindung des Europarechts in die verwaltungsrechtliche Dogmatik, namentlich der Handlungsformen, des Organisations-, Verfahrens- und Prozessrechts, sichtbar auch an der gegenseitigen „Zuwendung“ von vormals „reinen“ Verwaltungs- und Europarechtlern.[226] Vorbildliche Lehrbücher weisen jetzt nicht nur eigene Abschnitte über „Europäisches Recht und Verwaltungsrecht“ auf, in denen neben den Rechtsetzungs- und Handlungsformen der Union, das System der Vollziehung des Unionsrechts samt seiner Auswirkungen auf das nationale Verwaltungsrecht und den Rechtsschutz sowie die vielfältigen Verwaltungskooperationen im europäischen Rechtsraum dargestellt werden,[227] sondern durchwirken die gesamte Stoffmasse unter diesem Aspekt. Diese sachliche Verknüpfung prägt ebenfalls die verwaltungsrechtliche Lehre und hat für den Studenten zur Folge, dass auch europarechtliche Fragestellungen in die Übungs- und Examensklausuren zum Verwaltungsrecht Einzug halten.

41

Der voranschreitende Europäisierungsprozess hat nicht nur ausgewählte Referenzgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts, wie namentlich das Umwelt-, Wirtschaftsverwaltungs-, Vergabe- und Regulierungsverwaltungsrecht ergriffen, das bereits seine Existenz weitgehend der europarechtlichen Liberalisierung unter anderem der Telekommunikation verdankt.[228] Unberührt sind selbst das Kommunal-, Beamten- und Polizeirecht nicht geblieben. Die „strukturelle Tiefenwirkung“ der Europäisierung hat vor allem auch Kernbereiche des Allgemeinen Verwaltungsrechts und Verwaltungsprozessrechts erfasst.[229] Wie dürren Zunder traf der gleißende Blitz des Gemeinschaftsrechts etwa die deutsche Dogmatik der Rücknahme von Verwaltungsakten im Falle gemeinschaftswidriger Beihilfen und stellte die gesetzlichen Grundentscheidungen in puncto Vertrauensschutz, Rücknahmeermessen und -frist in einem Ausmaß in Frage, dem nur schwerlich mit Hilfe einer europarechtskonformen Auslegung Rechnung getragen werden kann. Attackiert sieht sich auch die deutsche Konzeption subjektiv-öffentlicher Rechte, insbesondere in Form der sog. Schutznormtheorie, da das Gemeinschaftsrecht nicht zuletzt deswegen viel großzügiger Klagebefugnisse zuspricht, um den Einzelnen im Wege einer „funktionalen Subjektivierung“ zugunsten der effektiven Wirkung des Gemeinschaftsrechts in die gerichtliche Vollzugskontrolle einzuspannen.[230] Dieselbe Tendenz findet sich im Staatshaftungsrecht, in dem der EuGH durch die Ausbildung eines gemeinschaftsrechtlich fundierten Anspruchs die Rechtsposition des Einzelnen nicht nur um ihrer selbst willen, sondern zugleich zur Durchsetzung des Europarechts enorm aufgewertet hat. Ebenfalls im Gemeinschaftsinteresse hat der EuGH die Dogmatik der grundsätzlich aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte aus den Angeln gehoben und darüber hinaus den vorläufigen wie einstweiligen Rechtsschutz ganz eigenen Vorgaben unterworfen. Frühzeitig wies die Literatur auf zwei Reaktionsmöglichkeiten hin, um den unweigerlichen Veränderungen entweder in einem ein- oder zweispurigen Modell systematisch Rechnung zu tragen.[231] Zweispurig verfahren nach wie vor etwa verwaltungsrechtliche Lehrdarstellungen, die zunächst die gewachsene deutsche Dogmatik vorstellen, um dann punktuelle Abweichungen auf Grund sektoral begrenzter gemeinschaftsrechtlicher Einflussnahmen anzufügen.[232] Auch von diesem Ansatz aus bleibt es möglich, sich über das rechtlich zwingend gebotene Maß hinaus vereinzelt einen „Overspill (eine ‚produktive Überwirkung‘) des europäischen Rechts“[233] mit Folgewirkung für die verwaltungsrechtliche Systembildung insgesamt dienstbar zu machen. Teilweise wird mit der Ermunterung, „auch diese Probleme lassen sich aber dogmatisch bewältigen“,[234] eine Harmonisierung von europäischen Vorgaben und deutschen dogmatischen Strukturen favorisiert, die ein vorwiegend aus dem nationalen Fundus gespeistes Einheitsmodell nahelegt. Für die gemeinhin deutlich umbruchfreudiger verstandene und europarechtlich gegründete Einspurigkeit streitet in jedem Fall das systematisch-ästhetische Anliegen, gerade die allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts nicht dauerhaft getrennt für den gemeinschaftsrechtlich infizierten und einen schwindenden, davon noch unbelastet gebliebenen Bereich formulieren zu müssen.[235]

42

Grundlage der Europäisierung des Verwaltungsrechts bildet die mit dem supranationalen Charakter des Gemeinschaftsrechts verbundene unmittelbare Wirkung auch für und gegen den Einzelnen sowie sein Anwendungs-, nicht Geltungsvorrang gegenüber kollidierendem nationalen Recht, wobei der aus dem Völkerrecht übernommene effet-utile-Grundsatz dem Gemeinschaftsrecht auch in Fällen indirekter Kollision Vorfahrt gegenüber wirksamkeitshinderndem mitgliedstaatlichen Recht verschafft.[236] Der EuGH hat sich durch die Ausbildung dieser Rechtsinstitute Einwirkungsinstrumente geschliffen, die die deutsche Literatur grundsätzlich anerkennt, wenn auch in der eher verfassungsrechtlich und rechtstheoretisch bestimmten Diskussion unterschiedlich begründet, sei es im Sinne einer autonomen Geltung des Europarechts oder sei es mit Hilfe eines zwischengeschalteten staatlichen Rechtsanwendungsbefehls.[237] Die eigentlichen verwaltungsrechtlichen Konfliktlinien verlaufen entlang der Fragen der Reichweite des den Primat vermittelnden Effektivitäts- und Kohärenzarguments, um nationales Verwaltungsrecht auszuhebeln oder umzuformen, das keine innere Begrenzung in sich trägt.[238] Insbesondere das reduktionistische funktionale Verständnis prinzipiell begrenzungstauglicher individueller Rechtspositionen zugunsten der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses stößt auf Kritik, wie überhaupt gegen die „Eindimensionalität des Gemeinschaftsrechts“ der „Doppelauftrag des Verwaltungsrechts“ in Stellung gebracht wird, neben der Handlungsfähigkeit auch die Garantie eigenwertigen Rechtsschutzes zu gewährleisten.[239] Dass das „Gebot eines möglichst einheitlichen Vollzuges des EG-Rechts“ das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht nicht dominieren kann, sondern dass „jede Verwaltungsrechtsordnung zuallererst eine materielle Rechtsverhältnisordnung zwischen Bürger und Verwaltung“ darstellt, findet sich auch im Rahmen systembildender Bemühungen um ein genuin Europäisches Verwaltungsrecht betont.[240]

43

Konsens besteht über den „Modernisierungsschub“, den die Europäisierung dem deutschen Verwaltungsrecht jenseits kritischer Auseinandersetzungen im Einzelnen letztlich gebracht hat, zunächst in normativer Hinsicht, denkt man an die Kodifikationen im Bereich des Kommunalwahlrechts, der Umweltverträglichkeitsprüfung, des Umweltinformationsrechts sowie der Informationsfreiheit der Verwaltungsöffentlichkeit insgesamt.[241] Zu den rechtsdogmatischen Innovationsfeldern zählt unbestreitbar das Staatshaftungsrecht, das bei ausstehender Kodifikation einen tiefgreifenden Gestaltwandel erfahren hat, sowie das Privatisierungsfolgen- und Regulierungsverwaltungsrecht. Kräftige Impulse erhalten haben darüber hinaus die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, die Dogmatik der Entscheidungsspielräume der Verwaltung auf der Tatbestands- wie Rechtsfolgenseite des Gesetzes, die Grundfrage außenrechtswirksamer sog. normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, die der EuGH nicht zur Umsetzung von EG-Richtlinien tauglich erachtet, die Verhältnisbestimmung zwischen Privat- und Verwaltungsrecht sowie das Grundverständnis des Verwaltungsverfahrens, das sich entgegen gesetzgeberischen Beschleunigungstendenzen aufgewertet sieht.[242] Auf der Gewinnseite wird schließlich die Bedeutungszunahme der Rechtsvergleichung verbucht,[243] die in einem Wettbewerb der Rechtssysteme verortet ist, aus denen der europäische Gesetzgeber und Richter jeweils zentrale Einspeisungen vornimmt. Nicht introvertierte Selbstbespiegelung erlittener Einbußen, sondern aktiver Export entsprechend aufbereiteter Dogmatik wird auf diesem Gebiet angemahnt.[244] Ebenso steht der Nutzen informierter Importe von gesetzgeberischen und dogmatischen Anregungen grundsätzlich außer Frage. Insgesamt hat die deutsche Verwaltungsrechtslehre sich vergleichsweise früher als die Verfassungsrechtswissenschaft den mit der Europäisierung einhergehenden Herausforderungen in ihrer ganzen Breite und Tiefe gestellt,[245] geleitet wohl von der ebenso pragmatisch formulierten wie unprätentiös aufgenommenen Einschätzung einer mangelnden Alternative.[246]

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх