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Kapitel 7
ОглавлениеDas Lernen machte ihr keinen Spaß, früher war das alles ganz anders gewesen, aber nun saß sie vor ihren Skripten und nichts wollte in ihren Kopf. Sie war müde und unkonzentriert.
Die letzten vier Monate waren ein einziger Horrortrip gewesen. Zuerst das Begräbnis von Anke im Kreis der Familie. Vera musste die Kondolenz aller Angehörigen an der Seite ihres Vaters über sich ergehen lassen und fühlte sich noch viel mehr niedergeschlagen, da ihr alle erklärten, wie arm sie nun sei.
Dann der große Trauergottesdienst für alle Opfer in der größten Kirche Hamburgs. Da waren Fernsehen und Presse dabei. Sogar die Bundeskanzlerin war da und hielt eine kurze und ergreifende Ansprache.
In der Schule hatten alle Professoren vollstes Verständnis für Veras Situation als Opfer eines Terroristen, der ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. In der Klasse war sie so eine Art stille Heldin. Alle betrachteten sie ehrfurchtsvoll ob ihrer dramatischen Erlebnisse, und sie selbst sagte am liebsten gar nichts dazu. Sie wollte nicht darüber reden.
Sie war auch etliche Male bei einem Psychologen gewesen, der versucht hatte, sie wiederaufzurichten. Es hatte nichts gebracht. Der Verlust von Anke saß tiefer. Hier war eine Verbindung gekappt worden, die noch sehr ausbaufähig hätte sein können, und die nun nie mehr genutzt werden konnte. Vera konnte nicht begreifen, wie ein Mensch zu so einer Tat fähig sein konnte.
Durch glückliche Umstände erfuhr Vera nicht, dass sie den Attentäter persönlich gekannt hatte und einmal in ihn verliebt gewesen war. Die Polizei hielt die Daten über die Familie des Attentäters geheim, da sich bei dieser keinerlei Anhaltspunkte über eine Mitwisser- oder Mittäterschaft ergeben hatten. Es drang nichts an die Presse durch. Das Bild von Ali, das durch alle Medien ging, war so schlecht, er war darauf einfach nicht zu erkennen. Nur in manchen nicht öffentlichen rechten Internetforen wurde darüber gemunkelt, der Attentäter sei der Sohn des Besitzers einer Hamburger Bäckereikette gewesen, aber Beweise wurden nicht gebracht. Doch Vera war in solchen Foren nicht aktiv und öffentlich bekannt wurde nichts, da die Beweise von der Polizei unter Verschluss gehalten wurden.
Trotzdem war Hassan, Alis Vater, ein gebrochener Mann, der nicht mehr daran dachte, sein Filialnetz zu erweitern, sondern der sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen wollte und sich schwerste Vorwürfe machte, Ali zu wenig kontrolliert zu haben. Das war nicht sein Gott, der da als Rechtfertigung für die Terroristen herhalten sollte. Allah konnte so etwas niemals befehlen. Er würde seine Filialen verkaufen und sich zurückziehen.
So blieb Hassan zumindest die Öffentlichkeit erspart, wobei die Deutschen Zeitungen nach Interviews mit der Täterfamilie geradezu gegiert hatten. Aber die Hamburger Polizei hatte richtig entschieden, es sollten nicht noch mehr Leben zerstört werden. Stattdessen gingen die Ermittlungen in Richtung einzelner Moschee Vereine, die im Ruf standen, Salafisten zu unterstützen.
Aber all das war Vera völlig egal. Sie saß alleine in der großen Villa und versuchte, ihre Gedanken auf das unmittelbar bevorstehende Abitur zu konzentrieren. Georg konnte seine Geschäfte nicht völlig vernachlässigen und sie waren auch eine willkommene Ablenkung vom Tode von Anke.
Doch so ganz alleine war sie nicht, denn Sigrid Tatenberg, eine alte Freundin ihrer Mutter, kümmerte sich um Vera. Denn Veras Großeltern, die Eltern von Georg, waren mit der Situation überfordert, und die Eltern von Anke waren schon vor Jahren gestorben. Sie hatten den Tod ihrer einzigen Tochter nicht erleben müssen.
Die Noten der letzten Schularbeiten von Vera waren in den Keller gerasselt. Sie stellte sich immer wieder die Frage, wieso Anke ausgerechnet zu dieser Boutique in diesem Moment gewollt hatte. Und sie hatte ständig ihre Vision des gelben Minikleides im Kopf und ihre eigene Panik vor dem Tod, die ihr das Leben gerettet hatte, da sie, wäre sie nicht vor dem Kleid davongelaufen, jetzt genauso tot wäre, wie ihre Mutter. Sie hatte keine Idee, was das gelbe Minikleid mit der ganzen Geschichte zu tun hatte, und wieso sie die Panik unmittelbar vor der Explosion so deutlich hatte spüren können. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen und der Psychologe, mit dem sie versucht hatte, darüber zu sprechen, hatte das alles als Stressreaktion auf den Verlust ihrer Mutter begründet.
Als Vera ihm versuchte zu erklären, dass zum Zeitpunkt ihrer Panik ihre Mutter ja noch gelebt habe, erzählte er ihr irgendetwas über posttraumatische Belastungsstörungen, die Vera dazu brächten, ihre Erinnerungen zu vermischen. Vera glaubte dem Psychologen nicht, wusste aber bald selbst nicht, was sie glauben sollte, und was nicht.
Doch Sigrid Tatenberg hatte die Gabe, tröstende Worte zu finden und Vera zu helfen, wieder an ihre Zukunft zu denken und nicht in Trübsinn zu versinken. Sie kannte die Familie Bauer schon so lange. Sie war einmal maßgeblich an der Rettung Georgs beteiligt gewesen, als dieser von Terroristen entführt worden war, und niemand mehr sein Versteck kannte, in dem er gefangen gehalten wurde (siehe „Das Seelenkarussell“ Band 1 – Vera). Denn alle Terroristen bis auf einen, waren bereits tot. Und dieser eine wollte Georg in seinem Verließ vermodern lassen, wenn nicht Sigrid mit ihren medialen Fähigkeiten eingegriffen hätte, und sie Georg in letzter Sekunde gefunden hätten. Diese Geschichte kannte Vera gut, da sie ihr X-Mal von Anke erzählt worden war.
Und nun hatte Sigrid Vera den Rat gegeben, sich in das scheinbar Sinnlose zu fügen und einfach nach vorne zu schauen, um ihr Leben wieder leben zu können. Sie sollte versuchen, ihre Zukunft wieder aktiv zu gestalten und in die Hand zu nehmen. Ihr Leben lag ja noch vor ihr.
Vera war sich da nicht so sicher, aber sie nahm sich die Ratschläge von Sigrid zu Herzen und konzentrierte sich auf ihr Abitur.
Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 13
Die Freitagspredigten sind so langweilig. Mein Vater will aber, dass ich in die Moschee mitkomme, aber mich interessieren die alten Geschichten vom Propheten nicht. Ich will kein Muslim sein, da hat man nur Probleme. Alle schauen dich schief an und verachten dich als rückständigen Kameltreiber und sagen „Kümmeltürke“ oder Schlimmeres zu dir. Und nichtmuslimische Mädchen kannst du auch nicht heiraten, die wollen dich alle nicht.
Aber das darf ich niemandem sagen, dass ich austreten will, denn als Muslim kann man nicht austreten, da steht die Todesstrafe drauf. Da haben es die Christen besser, die können austreten, wenn es ihnen nicht passt, und keiner hat etwas dagegen.
Im Koran steht, wer seinen Glauben verrät, der ist des Todes. Unser Prediger sagt das auch, aber was will er mir tun, hier mitten in Deutschland, das ist doch ausgemachter Unsinn, aber austreten kann ich trotzdem nicht.
Aus dem Weblog von Ali – Eintrag17
Jetzt gibt es einen neuen Prediger in der Moschee, der spricht ganz anders. Der redet viel spannender und verständlicher. Er sagt, er hat Beweise, dass wahr ist, was der Prophet gesagt hat.
Tarik, der Prediger, ist ein waschechter Deutscher, der zum Islam konvertiert ist, wie er selbst in der Predigt erzählt. Er wurde von Allah erleuchtet und hat sich zum einzig wahren Glauben bekannt. Jetzt vertritt er die wahre Lehre der Sunna und der Salafisten.
Wenn jetzt schon Deutsche übertreten, dann muss doch was am Koran dran sein. Tarik spricht viel besser, als der alte Prediger. Aber wer sind die Salafisten, das will ich wissen.
Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 21
Tarik hat mich eingeladen, ich soll immer auch Dienstag in die Moschee kommen, das Freitagsgebet ist nur für die Muslims mit schwachem Glauben. Dienstag und Freitag hingegen treffen sich die wahren Muslims, dort sind auch Salafisten sagt Tarik. Ich bin neugierig, was das für Leute sind. Ich bin persönlich eingeladen, das macht mich stolz.
Tarik hat mir Mut gemacht: „Gib niemals auf und vergiss nie, dass du ein Muslim bist. Muslims sind die besseren Menschen. Lass dich nicht mit den Kuffar ein. Beziehungen mit Kuffars sind schlecht für wahre Muslims. Such dir eine anständige Muslima.“
Tarik hat recht, die Ungläubigen wollen keine Muslims. Das hat mir diese Vera bewiesen. Ich habe sie geliebt, aber sie hat meine Tradition mit Füßen getreten und wollte wegen meines Glaubens nicht mit mir zusammen sein. Dabei habe ich ihr den Heiratsantrag gemacht, bevor sie zum Islam konvertiert ist, das war mehr als großzügig von meiner Familie, dass sie das erlaubt hat.