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Kapitel 2
ОглавлениеEs ist ein unbeschwerter Sommer und es sind Ferien. Eineinhalb Jahre vor den Ereignissen in der Shopping Mall radelte Vera durch die engen winkeligen Gässchen von Othmarschen, einem Hamburger Villenvorort.
Die Sonne schien heiß, doch unter den schattigen alten Bäumen, die es hier überall gab, war es angenehm kühl und fast ein wenig zu schattig.
Vera war zu spät dran, sie war zum Tennis verabredet und hatte sich mit ihrem Tablet in der Zeit vergoogelt und in ihrer Community zu lange Messages getauscht. Zuerst Tennisstunde und dann eine Partie mit Marie, ihrer besten Freundin. Und der Tennislehrer schätzte es gar nicht, wenn sie zu spät kam. Da könnte sie sich wieder etwas anhören, von wegen Pünktlichkeit.
Sie beeilte sich mächtig und trat kräftig in die Pedale. Sie sah nicht nach links und rechts, als aus dem Schatten eines Quergässchens ein anderer Radfahrer wie aus dem Nichts von rechts auftauchte, und seitlich in ihr Vorderrad krachte.
Dessen Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass sie beide nicht zu Sturz kamen, da er Vera gesehen hatte, und eine veritable Notbremsung hinlegte, die aber erst in Veras Vorderrad ihr Ende fand.
Sie schlitterten mit ihren Rädern ineinander verkeilt schräg über die kleine Kreuzung und kamen erst beim Randstein zu stehen. Beide noch immer die Lenkstangen ihrer verkeilten Räder in der Hand, die Füße aber schon auf dem sicheren Boden.
„Hast du keine Augen im Kopf, du hast Nachrang!“, rief der unbekannte Radfahrer heftig aus.
Vera war so erschrocken, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte. Dann erst sah sie den Fremden an, der so unmittelbar und ganz nahe vor ihr stand, da die Kotschutzbleche sich ineinander verhakt hatten und noch keiner der beiden abgestiegen war.
Es war ein hübscher junger Mann mit rabenschwarzem Haar mit einer angesagten Igelfrisur stilisiert, die den richtigen Kontrast zu seinem dunklen Dreitagesbart abgab. Das enganliegende Radtrikot verdeckte einen muskulösen und trainierten Oberkörper.
Er sah Vera an, die sich nur rasch ein T-Shirt zur Radlerhose übergeworfen hatte, denn ihre Tennissachen hatte sie im Club, wie wenn er noch nie ein Mädchen so nahe gesehen hätte.
Vera, die sich nun von ihrem Schreck erholt hatte, erkannte sehr rasch, dass sie Nachrang gehabt hatte und sah ihrerseits den jungen Mann groß an.
„Tja, ich glaube, da habe ich nicht geschaut, …“, meinte sie schließlich verlegen.
„Ich bin Ali“, entgegnete dieser und klang dabei auch recht verlegen.
„Ich heiße Vera“, erwiderte sie und wunderte sich, wieso sie auf einmal so verlegen war.
„Migrationshintergrund, na klar“, schoss es Vera politisch korrekt durch den Kopf. „Typischer südlicher Typ, etwas dunkle Hautfarbe, aber irgendwie nett“, dachte Vera weiter.
„Du sprichst sehr gut Deutsch“, sagte sie, um irgendwas zu sagen.
„Ich bin hier geboren“, erwiderte Ali mit leichten Unmut in der Stimme. „Mein Großvater ist aus der Türkei eingewandert, schon mein Vater ist hier geboren.“
„Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen, es hätte ein Kompliment sein sollen.“
Noch immer standen sie über ihre Räder gezwungenermaßen viel zu nahe zusammen. Vera überlegte, wie sie jetzt ohne peinliche Verrenkungen von ihrem Rad runterkäme ohne an Ali anzustreifen, da die Räder so ineinander verhakt waren, dass sie sie nicht auseinanderbekämen, ohne vorher abzusteigen.
Beide machten einige hilflose Versuche abzusteigen, ohne den jeweils anderen zu berühren, dann sahen sie sich an und mussten beide plötzlich lachen. Denn die Sache war ja zu komisch, wie sie da an der Straßenecke mit ihren Rädern verhakt standen und keinen Abstand einnehmen konnten. Wenn sie ein Bekannter so sähe, der würde sich was Schönes denken.
Endlich schaffte es Ali, seinen Fuß über den Sattel zu schwingen, ohne Vera dabei zu streifen. Nun war es auch ein Leichtes für Vera, sich von ihrem Rad zu befreien.
Nachdem sie ihre Räder getrennt hatten, ging es an die Schadensbesichtigung. Beide Vorderräder waren so kräftig verbogen, dass eine Weiterfahrt ohne Reparatur nicht möglich war. Und beide Räder waren bis eben fast fabrikneu gewesen.
Vera dachte an ihr Taschengeld, das würde teuer werden. Zwei neue Vorderräder waren zu bezahlen.
Aber von neuen Rädern wollte Ali nichts wissen, er habe einen Freund, der kenne jemanden in einer Fahrradwerkstatt, das sei kein Problem, die kriegen das hin.
Denn er wollte Vera wiedersehen, hatte aber keine Ahnung wie, und so war ihm die Fahrradwerkstatt eingefallen.
Vera wollte protestieren, aber warum, denn eigentlich wollte sie Ali auch wiedersehen, gestand sich den wahren Grund aber nicht ein.
Die Tennisstunde war ohnehin schon gelaufen, zu Fuß würde sie es nicht schaffen und direkten Bus gab es keinen. Sie schickte eine SMS an den Tennislehrer, in der sie einen Fahrraddefekt angab. Für den konnte sie ja schließlich nichts.
Ali hatte zur Elbe gewollt, um sich die großen Containerschiffe anzusehen, die dort ständig vorbeifuhren. Auf so einem Schiff wollte er einmal Offizier sein.
Vera und Ali schoben ihre Fahrräder dann nebeneinander her und gingen langsam in Richtung Veras Zuhause. Ali ging einfach neben ihr her und sie erzählten sich zwanglos aus ihrem Leben.
Irgendwie fand Vera, das könnte endlos so weitergehen. Doch bald waren sie vor ihrer Villa angekommen und Ali meinte beeindruckt: „Wow, in so einem Schloss wohnst du.“
Vera war peinlich berührt, denn sie dachte, eine solche Villa würden sich Alis Eltern vermutlich nie leisten können.
„Halb so wild, das Haus ist uralt, nur außen frisch gestrichen.“
„Du brauchst dich nicht zu verstecken, ich sehe doch, was ich sehe, den Garten, die Doppelgarage, den gepflegten Rasen und die Sonnenschirme, deine Eltern müssen reich sein.“
„Nein, nur wohlhabend, wir sind nicht reich, da gibt es ganz andere Villen“, wollte Vera ihren Luxus entkräften.
„Ich wäre auch gerne so reich“, entgegnete Ali entwaffnend ehrlich.
Dann verabredeten sie sich für den nächsten Tag wegen der Fahrradreparatur und Ali verabschiedete sich von Vera auf höflichste Art und Weise, so richtig altmodisch.
Vera schob ihr kaputtes Rad möglichst rasch und unauffällig in den Schuppen hinter dem Haus, wo die Räder und Gartengeräte aufbewahrt wurden und beschloss, möglichst nichts über Ali, den Unfall und die missglückte Tennisstunde zu Hause zu erzählen.