Читать книгу Wo ist deine Heimat? - Andy Hermann - Страница 15
Kapitel 10
ОглавлениеDie Halle war riesig, man konnte kaum an das Ende sehen. Vor Vera reihte sich Tisch an Tisch und an jedem Tisch saß genau ein Kandidat. Alle mussten den gleichen Test machen. Die Zeit lief und der Stress war gewaltig.
Aufseher gingen zwischen den Tischen durch und achteten gnadenlos darauf, dass jeder Kandidat auf der richtigen Seite arbeitete. War die Zeit für eine Seite vorbei, musste umgeblättert werden, auch wenn noch nicht alle Fragen beantwortet waren.
Es waren sechzehntausend Kandidaten. Burschen und Mädchen aus drei Dutzend verschiedenen Ländern saßen hier in Wien, Graz und Innsbruck zur selben Zeit vor ihren Fragebögen.
Alle wollten Medizin studieren und hier in Wien hatte man eine Messehalle als Prüfungsarena umfunktioniert, denn einen so große Saal gab es auf keiner Uni.
Und mitten drinn saß Vera. So schwer hatte sie sich den Test nicht vorgestellt. Sie hatte zwar die Vorbereitungsskripten durchgearbeitet, und sie konnte gut kombinieren und leicht auswendig lernen, aber die wenigen Wochen zwischen ihrem Abitur und der Aufnahmsprüfung in Österreich waren doch recht kurz gewesen, um sich auf diese Megaprüfung vorzubereiten. Vera hatte erfahren, dass es Studenten gab, die sich zwei Jahre lang auf diese Prüfung vorbereiteten, nur um es am Ende doch nicht zu schaffen, einen der begehrten Ausbildungsplätze an der Med Uni Wien zu bekommen.
Umso länger der Test dauerte, umso mehr bekam Vera das Gefühl, zu viele Fragen unbeantwortet gelassen zu haben. Da war schon vor Beginn des Studiums medizinisches Fachwissen im Detail gefordert, dass sie als Abiturientin eines normalen deutschen Gymnasiums einfach nicht hatte. Sie hätte sich längst viel mehr mit Medizin beschäftigen müssen. Aber daran hatte sie in Hamburg nicht gedacht, sie hatte fest damit gerechnet, den Numerus Clausus zu schaffen.
So blieb ihr nur mehr die Hoffnung, dass die anderen Deutschen Numerus Clausus Flüchtlinge, wie sie hier in Wien so uncharmant genannt wurden, noch schlechter waren und sie dadurch einen Platz im fix definierten Kontingent bekäme.
Erst zwei Tage vor der Prüfung hatte sie erfahren, dass dies auch bedeuten könne, in Graz oder Innsbruck studieren zu müssen, falls in Wien schon alle Plätze belegt wären. Das wäre eine völlige Katastrophe, da ihr Vater seinen Job in Wien antreten würde, und sie dann fernab in den Tiroler Bergen säße.
Das österreichische Medizinstudiensystem war für sie völlig fremd. Das war so völlig anders, als in Deutschland, wo sie sich auf den Websites der Universitäten über ihre Möglichkeiten informiert hatte.
Die hatten hier alles komplett straff durchorganisiert, wie wenn die Schule einfach weiterginge. Von freiem Studentenleben keine Spur, es gab hier Anwesenheitspflicht und einen strengen Stundenplan.
Vera erfuhr von Kolleginnen, dass sie hier vor einigen Jahrzehnten das völlig Chaos im Medizinstudium hatten. Da konnte es passieren, dass jemand fünfundzwanzig Semester studierte, da er nie Plätze in den vorgeschriebenen Praktika bekam und alle Proseminare auf ein Jahr ausgebucht waren.
Jetzt hatte jeder seine Seminarplätze und Laborplätze fix, wenn er einmal im System war, und den Aufnahmetest geschafft hatte. Dadurch wurde die Studiendauer gewaltig reduziert. Allerdings nur bis zur Diplomprüfung. Dann kamen die Lehrjahre in einem Spital als Turnusarzt und danach noch eine Facharztausbildung, wenn man nicht als praktischer Arzt irgendwo in der Provinz enden wollte, wo man den Leuten den Schnupfen kurieren konnte, und sie bei jedem echten Problem an den nächsten Facharzt überweisen musste. Das war für Vera nicht erstrebenswert.
All das und noch vieles mehr ging Vera durch den Kopf, als sie nach der Prüfung erschöpft in der neuen Wohnung in Hietzing aus dem Fenster ihres Studierzimmers blickte.
Georg hatte eine geräumige Wohnung in Hietzing, einem der Wiener Nobelbezirke gemietet. Genaugenommen war es eine Etage in einer ehemals herrschaftlichen Villa, ganz in der Nähe von Schloss Schönbrunn in einer ruhigen Seitengasse. Die Villa einer Geliebten von Kaiser Franz Joseph solle ganz in der Nähe sein, hatte man Georg erzählt.
Fünf Wohnräume, kleiner wollte es Georg nicht haben. Ein geräumiges Wohnzimmer in der Mitte, links Veras Studierzimmer und anschließend ein kleines Kabinett, welches sie als Schlafzimmer nutzte. Rechts auf der anderen Seite des Wohnzimmers lag das Arbeitszimmer von Georg, welches auch noch als kleiner Saloon genutzt werden konnte. Dahinter gab es ein großes Schlafzimmer, in das Georg kein Doppelbett gestellt hatte, obwohl das Zimmer dazu gerade einlud. Doch er hatte gesagt, das brauche er jetzt nicht mehr in seinem Alter und im Andenken an Anke.
Alle Räume hatten große Fensterflächen und waren nach Süden oder Westen gerichtet. Sie hatten sie viel Sonne in der Wohnung und blickten in eine weitläufige Gartenlandschaft mit altem Baumbestand, die sie aber nicht benutzen konnten, da diese sich nur über die Nachbargärten erstreckte.
Sie hatten sich nur mit den notwendigsten Möbeln ausgestattet, alles in modernem und nüchternen Stil mit dunklem Holz, das gut mit den weißen Wänden der Wohnung harmonierte. Alle Möbel waren noch nicht geliefert worden, es gab noch einige Lücken und etliche Umzugskartons waren an Stelle der Möbel an die leeren Wände geschoben worden und vermittelten den Eindruck, noch nicht wirklich in Wien angekommen zu sein.
Vera war müde, die Prüfung hatte sie sehr angestrengt. Jetzt war Ende Juni und das Ergebnis würde sie erst Mitte August erfahren. Das war knapp, für den Fall, dass sie es nicht geschafft hatte und sie sich dann noch wo anders bewerben musste.
Ihr Kopf sank auf die Schreibtischplatte, sie wollte nur für einen Moment die Augen schließen, doch schon nach wenigen Sekunden war sie in einen tiefen und festen Schlaf gekippt.
Sie lief über eine große baumlose Wiese. Nirgendwo war eine Grenze zu erkennen, es gab nur weiten Horizont rings um sie und sie konnte keinen Weg finden. Alles war gleichmäßig grün und eintönig. Sie wusste die Richtung nicht, in die sie laufen sollte. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht alleine war, aber sie konnte niemanden sehen. Sie glaubte, ein ganz leises homerisches Gelächter zu hören, welches sie gut kannte.
„Alexander, bist du es“, wisperte Vera. Das Lachen wurde lauter. Vera blieb stehen und sah sich um, konnte aber niemanden sehen.
„Direkt vor deiner Nase“, kam ihr unvermittelt in den Sinn.
Vor ihr schien die Luft ein wenig zu flimmern. Vera versuchte sich zu konzentrieren, um besser sehen zu können.
„Lass gut sein, du kannst mich hören, wenn du mich nicht siehst, macht das nichts“.
Veras Konzentration ließ nach. „Puh, war das jetzt anstrengend“, dachte sie.
„Du hast dir deinen Weg selbst vorgenommen, erinnere dich, bevor Anke dich geboren hat“.
Auf einmal hatte sie Klarheit, wie wenn jemand einen Schleier von ihrem Unterbewusstsein weggezogen hätte. Sie konnte ihren Weg als Medizinerin sehen. Sie wusste plötzlich ganz bestimmt, dass sie einen Studienplatz in Innsbruck bekommen würde, da Wien so voll war und ihre Punkte für Wien nicht ausreichten.
In Innsbruck würde sie ungeahnte Möglichkeiten haben. Schon als Studentin wäre sie in ein Projekt der ganz anderen Art eingebunden. Sie würde bei bahnbrechenden Forschungen mitarbeiten dürfen, die einmal das Leben aller Menschen auf der Erde nachhaltig verändern könnten.
Als Assistentin eines berühmten Professors würde sie gleich nach dem Studium eine gutbezahlte Stelle bekommen, denn sie würde mit Auszeichnung abschließen. Die Assistentenstelle war aber nicht an der Uni, sondern ein weltumspannender Konzern bezahlte das alles. Sie würde die Welt sehen, den Professor zu Kongressen begleiten und viele interessante Leute kennenlernen.
Sie sah sich später als Ärztin im eigenen Labor eigene Forschungen betreiben. Sie war neugierig und sah genauer hin, sie wollte sehen, was sie tun würde. Sie hörte eine Stimme, es war nicht die Stimme Alexanders, es war die Stimme ihres Chefs. „Hier schaffen wir den neuen Menschen, die neuen genetisch verbesserten Modelle werden bald in den Fertilisationskliniken verfügbar sein.“
Sie sah vor sich einen Computerbildschirm auf dem unzählige Embryonen in den verschiedensten Stadien der Entwicklung zu sehen waren. Alle hatten schwerste Missbildungen. Bei vielen fehlten ganze Gliedmaßen. „Du musst den Fehler in den DNA-Strängen finden“, sagte ihr Chef, „erst dann können wir in Serie gehen, du hast nicht mehr viel Zeit. Hast du das Ziel vergessen. Du hast einen Vertrag mit dem Konzern du kannst nicht aussteigen.“
Vera kroch die Angst über den Rücken und setzte sich in ihren Eingeweiden fest. Sie war Teil einer weltumspannenden Maschinerie geworden, sie war an der vordersten Forschungsfront dabei. Sie führte ein Luxusleben, aber sollte sie versagen, wäre sie ihren Job und ihr Luxusleben sehr schnell los.
Und vor Veras Auge erschien das Ziel, das sie nie würde vergessen können. Arbeiterkolonen marschierten an ihr im Gleichschritt vorbei, es waren aber keine Arbeiter, wie wir sie heute kennen. Alle sahen völlig gleich aus und waren zu gleichen Teilen Mensch und Maschine. Jeder einzelne hatte die Kraft von zehn herkömmlichen Arbeitern und keinen freien Willen mehr. Diese Arbeiter wurden dank ihrer genetischen Veränderung und den implantierten Mikrochips alle gemeinsam von einem Computer gesteuert und überwacht. Sie waren die neue Unterschicht, die niemals mehr eine Revolution machen konnte, da sie dafür nicht programmiert war. Das waren nur mehr gehirnamputierte menschenähnliche Lebewesen, die sich auch bestens für Kriegseinsätze eigneten, da sie leicht reproduzierbar waren. Der Maschinenmensch war Realität geworden und sie hatte dazu beigetragen.
Veras stöhnte auf, war das ihre Medizinlaufbahn, das war ja ein Alptraum. „Die Wissenschaft wartet auf dich, Vera, wir brauchen dich“, vernahm sie die Stimme ihres Chefs.
„ALEXANDER, was soll das“, hörte Vera sich empört schreien.
Homerisches Gelächter ertönte und sie hörte Alexander, ihren Schutzengel: „Deine Entscheidung, wenn du es nicht machst, erfinden es eben andere.“
„Das soll niemals erfunden werden!“, schrie Vera zurück.
Sie war überrascht, wie laut sie schreien konnte. Das war kein Traum mehr, wo befand sie sich eigentlich.
„Dann tu´ was dagegen, aber das ist auch deine Entscheidung.“
„Ich decke solche Schweinereien auf, das schwöre ich, bei allem, was mir heilig ist“, hörte sich Vera mit derartiger Energie antworten, dass sie ein wenig vor ihrer eigenen Kraft erschrak.
„Weiter so, nicht nachlassen“, hörte sie Alexander von weit weg. „Ich sehe, deine Kräfte kommen, das ist erst der Anfang“.
Vera fühlte sich plötzlich emporgerissen und von einer Energie durchflutet, die sie so noch nie gespürt zu haben glaubte.
Die grüne einförmige Wiese war verschwunden, stattdessen sah sie einen Sternenhimmel in all seiner Pracht mit Millionen von Sternen und Galaxien, die über ihr am Firmament funkelten.
Sie fühlte, wie Informationen und Ideen auf sie einstürzten und sie sich stark fühlte. Ihr war klar, sie würde Aufdeckerjournalistin werden, dazu musste sie bloß schnell einmal Publizistik studieren um das nötige Handwerkszeug zu haben, um dann loslegen zu können. Das war der alternative Lebensplan. Auch den hatte sie bereits vor ihrer Geburt gefasst.
Aber ihr Leben würde extrem verlaufen. Lebensgefahr war angesagt, aber das war es wert. Sie würde in diesem Leben vollen Einsatz geben und volle Power.
Von Ferne hörte sie das homerische Gelächter von Alexander: „Gut so, du bist auf dem rechten Weg.“
Dann schob sich etwas Riesiges in ihr Blickfeld. Was war das denn jetzt.
Da erkannte sie die Erde, den blauen Planeten, der über ihr im Weltraum hing und auf den sie mit atemberaubender Geschwindigkeit zuraste. Ihr Tempo steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Sie glaubte ein lautes Pfeifen zu vernehmen, als sie in Kometengeschwindigkeit in die Erdatmosphäre eintauchte. Gleich würde sie aufschlagen.
Bumm, war der Aufschlag da und ihr Kopf war auf die Schreibtischplatte gekracht. Sie schlug die Augen auf und war in der nächsten Sekunde hellwach und auf den Beinen. Sie stand mitten in ihrem Studierzimmer und spürte, wie die Energien des Traumes in ihr herumwirbelten.
Sie musste sich erst wieder der Umgebung ihres Studierzimmers bewusstwerden, so real war der Traum gewesen.
Sie platzte vor Tatendrang. Ihre Müdigkeit des heutigen Tages war völlig verflogen. Sie sah zur Uhr und stellte fest, dass ihr Schlaf keine zehn Minuten gedauert hatte, sie aber wie nach einem langen Achtstundenschlaf völlig erfrischt war.
Sie schwang sich an ihr Notebook und begann das Internet nach den passenden Studienangeboten für Publizistik zu durchforsten. Gleichzeitig war sie schrecklich neugierig, ob sich ihr Klartraum mit dem Studienplatz in Innsbruck bewahrheiten würde. Wenn ja, dann war der Rest auch wahr. Vera schauderte, sie als Ärztin in der Abteilung für biologischen Monsterbau, das konnte doch nicht wahr sein. Was kam da auf die Menschheit zu. Aber da hatte sie schon die ersten Angebote für Publizistik am Bildschirm und begann sie zu studieren.
Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 40
Es ist vollbracht, ich bin von zu Hause ausgezogen, Tarik hat mich überzeugt, meine Eltern sind in Wahrheit Ungläubige, Kuffars. Sie sind keine wahren Muslims. Sie haben sich mit dem Feind arrangiert. Mein Vater liefert sein Brot auch schon an Ungläubige, er verhandelt mit dem Magistrat, dort sind nur Ungläubige, das sind jetzt seine neuen Freunde, mit denen geht er abends Essen, sagt Tarik, er hat ihn gesehen.
Aber ich kann ein wahrer Muslim werden. In der WG sind wir fünf Burschen, die wollen das auch. Wir werden die Welt zum einzig wahren Glauben bekehren. Wir sind die wahren Muslims, das werden die anderen noch erfahren.