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Kapitel 12

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Der Herbst war ins Land gezogen und der Winter stand vor der Tür. Vieles hatte sich verändert. Die Bäume vor Veras Studierzimmer hatten ihre Blätter verloren, dunkelgrauer Hochnebel hing tagelang über der Stadt. Keine Sonne war zu sehen. Allerheiligendüsternis hatte sich breitgemacht. Wirklich kalt wurde es nicht, aber nass, trüb, düster und ungemütlich.

Doch Vera achtete nicht aufs Wetter, sie steigerte sich hinein in ihr Studium der Publizistik und der Kommunikationswissenschaften. Sie hatte viele neue Kollegen und Kolleginnen kennen gelernt, mit denen sie schon so manchen ausgelassenen Abend verbracht hatte. In Wien gab es voll hipe Szenelokale, da war immer etwas los.

Irgendwie, sie wusste selbst nicht wie, hatte sie es geschafft, ihrem Vater klarzumachen, dass sie immer schon zwei Lebenspläne gehabt hätte, und sie das Innsbruck Angebot als klaren Wink des Schicksals sähe, doch nicht Medizin zu studieren. Die Details ihres Traumes blieb sie ihrem Vater schuldig. Sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Sie wollte nicht, dass er glaubte, seine Tochter hätte merkwürdige Ansichten bezüglich der Realität von Träumen. Von ihrer Mutter wusste sie aber, dass es diese Realität geben könne. Anke hatte das alles von ihrer Freundin Sigrid, die spirituell sehr aktiv war und vieles wusste, was jeder Rationalist vehement abstreiten würde.

*

Vera war mit ihrem Vater in der Oper gewesen. „Wenn wir in Wien wohnen, müssen wir einmal in der Staatsoper gewesen sein, dass gehört einfach dazu“, hatte Georg darauf bestanden. Der fliegende Holländer von Wagner war auf dem Programm. Vera hatte sich schrecklich gelangweilt.

Nach der Oper nahmen sie in einem gemütlichen Altwiener Lokal in einer engen Seitengasse der Kärntner Straße ein spätes Abendessen ein. Die Tische dort waren nur spärlich besetzt, sie waren fast die einzigen Gäste.

Georg fand, Vera sah in ihrer Operngarderobe hinreißend aus. In ihrem tief ausgeschnittenen Abendkleid sah sie eigentlich viel zu gut aus, dachte Georg. Welcher junge Mann ihr wohl einmal das Kleid ausziehen durfte, dachte er weiter. Dann schalt er sich einen Narren, da ihn das schließlich nichts anginge.

Vera lächelte ihn an: „Glaubst du nun auch, dass Oper nichts für uns ist?“ Er musste ihr recht geben, da es ihm auch nicht gefallen hatte und lächelte zurück.

Die Wiener Küche konnte recht deftig sein, der original Tafelspitz aus zartestem Rindfleisch hatte so viele Beilagen, dass Vera nachher das Kleid spannte. Aber die Kartoffelrösti, das Gemüse und die Schnittlauchsauce waren einfach zu gut. Auch Georg hätte sich gerne den Hosenriemen gelockert, aber das ging natürlich nicht.

Beim Riesling aus Soos, einer angesagten Weingegend südlich von Wien, hatte Georg einen Fehler gemacht und eine ganze Flasche Auslese geordert. Der schwere Wein, den sie als Bewohner des Nordens nicht gewohnt waren, tat sein Übriges, um sie in einen Zustand seltsamer Schwerelosigkeit zu versetzen, den der gelernte Wiener unschwer als mittleren Rausch identifiziert hätte.

Taxi war Georgs erster Gedanke, als sie das Lokal verlassen hatten. Aber sie waren in der Fußgängerzone, da gab es keine Taxis. So spazierten sie über die nächtliche Kärntnerstraße in Richtung Oper, wo Georg einen Standplatz gesehen hatte.

Im Licht der Straßenbeleuchtung glänzte Veras Haar verführerisch, als Georg sie von der Seite ansah. Irgendwie sah er heute seine Tochter mit anderen Augen, wie wenn er sie schon ewig kennen würde. Gut, er kannte sie seit ihrer Geburt und er hatte ihr Aufwachsen erlebt, doch wie oft war er nicht daheim gewesen und hatte gar nichts davon mitbekommen.

Der nächtliche Spaziergang schlug eine andere, längst vergessen geglaubte Saite in ihm an. Erinnerungen an einen anderen Nachtspaziergang stiegen auf (siehe „Das Seelenkarussell“ Band 1 – Vera). Vera Zimmermann, den Namen hatte er niemals vergessen können. Eine Kollegin, mit der er vor vielen Jahren zu Fuß durchs nächtliche Brüssel gelaufen war. Damals hatte er sich unsterblich in diese Vera Zimmermann verliebt und das war jetzt mehr als zwanzig Jahre her.

Irgendwie erinnerte ihn seine Tochter an diese Vera Zimmermann, er begriff aber nicht, wieso. Vera Zimmermann hatte doch ganz anders ausgesehen, glaubte er sich zu erinnern.

So gingen sie schweigsam, aber sehr beschwingt Arm in Arm durch die Fußgängerzone. Georg wollte die Schatten der Vergangenheit verdrängen. Denn diese Vera Zimmermann war am nächsten Tag von Terroristen in einer Einkaufspassage erschossen worden. Der Fall war nie aufgeklärt worden. Und jetzt war Anke, seine Frau wieder von einem Terroristen ermordet worden. Wie wenn er das Unglück anzöge, dachte Georg.

Vera schmiegte sich hingegen ganz unbekümmert enger an ihn und war wohlig zufrieden. Georg brachte die Gedanken an diese andere Vera nicht aus seinem Kopf. Da fiel ihm zum ersten Mal überhaupt auf, dass beide Frauen Vera hießen. Er hatte dem noch nie eine Bedeutung gegeben, aber es war doch seltsam. Anke hatte darauf bestanden, dass wenn es eine Tochter wird, diese Vera heißen solle. Und Georg hatte dem nie widersprochen. Vielleicht weil ihn der Name unbewusst an diese Vera Zimmermann aus Brüssel erinnerte. So hatte er eine Tochter, die Vera hieß, wenn es schon mit der Beziehung zu Vera nichts geworden war. Aber eine Vater Tochter Beziehung war ja auch schön, konnte aber die große Liebe nicht ersetzen.

Aber hatte er nicht eben Vera so angesehen, wie wenn sie seine Geliebte sei. Verlangen von seiner Seite wäre da schon vorhanden, gestand er sich ein. Aber das wollte er nicht weiterdenken, schon im Andenken an Anke nicht.

Er hatte immer Männer verachtet, die sich bei der eigenen Tochter nicht zurückhalten konnten. Und nun war er selbst auf einmal in einer Situation, wo ihm ein Kübel kalten Wassers gutgetan hätte.

Der Taxistandplatz war leer. Georg traute seinen Augen nicht. Sie gingen weiter und sahen den Grund. Die U-Bahn Abgänge waren gesperrt. Männer in Warnwesten der Wiener Linien standen davor und erklärten, dass auf Grund von Polizeieinsätzen in U-Bahnstationen die Linie U1 leider derzeit nicht verkehren könne.

Georg bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube. Was war da schon wieder passiert. Wie nahe waren die Terroristen diesmal gekommen. Besorgt sah er seine Tochter an. Ihr durfte auf keinen Fall etwas passieren.

Doch Vera war gut gelaunt und genoss den Spaziergang durch die Wiener Innenstadt. Keinen Moment lang kam ihr eine Gefahr in den Sinn. Sie genoss es, einmal so an ihren Vater gelehnt gehen zu können, das gab es ja sonst nie. Heute war eine Ausnahmesituation.

Vera bekam erst mit, worum es ging, als ihr Vater mit dem Mitarbeiter der Wiener Linien sprach und erfuhr, dass ein Schienenersatzverkehr erst in einer halben Stunde verfügbar wäre.

Da erwachte sie aus ihrem wohligen Gefühl, zog ihr Smartphone aus der Tasche, um nach einem Taxidienst zu recherchieren, der sie von hier wegbrächte. Denn nach Hietzing laufen wollte sie nicht.

Zehn Minuten später ließen sie sich in die Rückbank einer bequemen Taxilimousine fallen. Vera verkniff sich eine Bemerkung über die Vorteile der modernen Smartphone Technik.

Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 50

Die Ausbildung ist mühsamer als ich dachte, jetzt sitzen wir schon vier Wochen in Bosnien-Herzegowina in einem abgelegenen einsamen Bauernhof in den Bergen herum. Fünfmal täglich das Gebet, da gibt es kein Pardon, in der Nacht die Gefechtsausbildung draußen im Wald, damit wir nicht auffallen. Tagsüber Vorträge und psychologisches Training, wie sie es nennen. Folter wäre die bessere Bezeichnung. Wasser gibt’s nur draußen beim Brunnen und das Essen ist miserabel. Ich will endlich in den Einsatz, aber Tarek sagt, wir sind noch nicht so weit, das Programm ist noch nicht zu Ende.

Meine Familie geht mir ab, aber das darf ich niemandem sagen, das wäre ein Zeichen von Schwäche. Abdul haben sie nach Hause geschickt, Tarik hat gesagt, er sei zu schwach, er würde auf alle Fälle in den Feuern der Hölle landen. Nein, ich will nicht in die Feuer der Hölle, ich will kämpfen und als Märtyrer sterben und ins Paradies zu den Jungfrauen kommen.

Wo ist deine Heimat?

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