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Kapitel 8

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Geschafft, das Abitur war abgehakt. Aber Vera hatte keine Lust, zu feiern. Die ganze Klasse war in Feierstimmung, aber Vera wollte nicht feiern.

Die offizielle Ehrung mit den Auszeichnungen und der Urkundenübergabe durch den Direktor des Gymnasiums hatte sie mitmachen müssen. Aber der Abi Ball, der heute steigen würde, das brächte sie nicht übers Herz, nachdem der versuchte Kauf eines Ballkleides direkt zum Tod ihrer Mutter geführt hatte. Ihre eigenen Verletzungen waren ja längst verheilt, aber die seelischen Wunden waren noch frisch.

Die Klasse wusste Bescheid, warum Vera heute nicht am Ball sein würde, und es verstanden alle. Es würde auch eine Schweigeminute zum Andenken an Anke als Mutter einer der Abiturientinnen und an alle anderen Opfer des Anschlags geben. Die Hamburger Gesellschaft hatte dieses feige Attentat noch nicht vergessen.

Aber trotzdem würde es heute eine rauschende Ballnacht geben, schließlich waren Eltern, Geschwister und sonstige Freunde geladen. Es gab schließlich kräftig was zu feiern und ein bestandenes Abi konnte man ja nur einmal im Leben feiern, das ließ sich niemand nehmen.

Vera saß stattdessen im geräumigen Wohnzimmer im Erdgeschoß der Villa und versuchte sich durch Zappen durch die Fernsehkanäle etwas abzulenken.

Ihr Leben war eigentlich gelaufen, denn es gab noch einen Grund, nicht feiern gehen zu wollen. Sie hatte den Numerus Clausus versaut und einen Notenschnitt von nur 1,4 hingelegt. Jetzt konnte sie zusehen, ob es eine Medizin Uni gab, die sie haben wollte, oder wo sie den Aufnahmetest schaffte. Mit dem Fixplatz, mit dem Vera so gerechnet hatte, war es Essig.

Und wenn es keine Uni gab, wo sie unterkam, dann konnte sie ihre Idee, Ärztin zu werden, endgültig begraben. Was sollte sie dann bloß studieren, sie hatte keine Ahnung. Aber nur mit dem Abitur alleine gab es ja keine vernünftigen Jobs.

Sigrid hatte ihr gesagt, sie solle nach vorne sehen, aber der Tod ihrer Mutter hatte sie mehr aus der Bahn geworfen, als sie sich eingestand. Und von ihrer Schreckensvision mit dem gelben Minikleid hatte sie nicht einmal Sigrid erzählt. Dabei hätte ihr Sigrid die richtige Antwort geben können, da sie die Geschichte des gelben Minikleides kannte.

Doch Vera war nicht auf die Idee gekommen, es Sigrid zu erzählen, da sie ihre Vision einfach nicht in ihr Weltbild einordnen konnte.

Auf keinem Kanal war etwas Sinnvolles zu sehen, Vera wollte gerade das Gerät abstellen, als ihr Vater unerwartet bei der Wohnzimmertür hereinkam. Vera hatte nicht gerechnet, dass er so zeitig am Abend schon nach Hause käme.

Auch Georg war noch nicht über den Tod von Anke hinweg. Aber er hatte wenigstens die Routine in seiner Arbeit und seine Büroumgebung, sie hatte nur ihr Zuhause, wo alles an Anke erinnerte. Denn Anke hatte seinerzeit die Inneneinrichtung der Villa betrieben und viele Stücke liebevoll einzeln ausgesucht. Veras Zimmer war von Anke gemeinsam mit Vera eingerichtet worden. Ihr altrosa Himmelbett, das Vera selbst als kitschig empfand, liebte sie heiß, aber jetzt erinnerte es sie viel zu oft an Anke. Das Lernen in dieser Umgebung war eine Qual gewesen.

„Hi Paps“, begrüßte sie ihn überrascht, „dass du um diese Zeit schon da bist“.

„Hi Vera, dich frage ich jetzt nicht, wie es dir geht, aber Kopf hoch, es wird wieder besser.“

„Was soll da noch besser werden, mit Achtzehn den Numerus Clausus vergeigt, und jetzt wartete wohl nur mehr der Sarg auf sie, oder irgendein öder Bürojob als Sekretärin. Vera schauderte.

Ihr Vater, der ja wusste, dass der Numerus Clausus in die Hose gegangen war, und der auch fest damit gerechnet hatte, dass sie den Notenschnitt nicht schaffen würde, lächelte verschmitzt.

„Wer sagt denn sowas“, begann er seine Rede, wobei er auf einmal ein feierliches Gesicht aufsetzte.

„In unserem Leben wird sich noch viel ändern. Der Tod von Anke hat schon vieles verändert, aber noch längst nicht alles. Und jetzt wird es an der Zeit, dass wir beide es akzeptieren, dass Anke tot ist. Sie kommt nicht mehr und unsere Erinnerung an sie kann uns keiner nehmen. Aber dieses Haus atmet den Geist von Anke. Jede Tapete und jede Kommode erinnert an sie. Wir müssen diesen Teil unseres Lebens abschließen. Wir müssen umziehen.

„Spann mich nicht auf die Folter, wohin sollen wir ziehen, sprich“, war Vera plötzlich interessiert. Denn so hatte sie ihren Vater seit Ankes Tod nicht mehr reden gehört. Es klang nach Aufbruchstimmung.

Bisher hatte er nur niedergeschlagen und gedrückt gewirkt. Nichts hatte ihn aufmuntern können, denn erst nach Ankes Tod hatte er begriffen, wie sehr er an ihr hing und wie sehr er sie geliebt hatte. Vor Vera versuchte er seine Selbstvorwürfe zu verbergen. Er wollte nicht als Schwächling dastehen, als Mann, der mit Schicksalsschlägen nicht fertigwerden konnte.

„Eigentlich wollte ich es dir erst morgen sagen, aber ich denke, deine Stimmung muss schon heute aufgehellt werden.“

„Wir ziehen nach Wien“, verkündete er mit einem Lächeln.

Vera blieb der Mund offenstehen, mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Ihr Vater war der waschechte Hamburger aus dem Bilderbuch, mit Segelboot und allem was dazu gehörte. Und er wollte nach Wien? Was sollte aus seinem Job werden, den er doch so liebte? Er war doch nicht mehr so jung, um alles hinzuschmeißen.

Aber Georg sprach weiter: „Die Umstände waren günstig und ich nutze die Gelegenheit. In Wien wurde der Posten des Direktors der Niederlassung frei und ich habe mich konzernintern beworben und den Posten bekommen. Der alte Direktor hat einen Schlaganfall nicht überlebt, und seine Stellvertreter waren von der Konzernleitung als nicht geeignet befunden worden. Ich habe den Posten bekommen, da ich hier schon jahrelange Erfahrung als Niederlassungsleiter habe. So hat sich mein Einsatz hier schlussendlich voll ausgezahlt.“

„Und was du vielleicht nicht weißt, Vera, in Wien gibt es auf der Medizin Uni ein Kontingent für deutsche Numerus Clausus Flüchtlinge, wie es die Wiener ganz uncharmant nennen, da kannst du reinkommen und in Wien auf der Med Uni Medizin studieren. Was sagst du dazu.“

„Das geht?“, war Vera überrascht, dann sprang sie aus ihrem Fauteuil und fiel ihrem Vater um den Hals.

„Danke Paps, aber du machst das doch nicht nur wegen mir, du willst doch wirklich auch nach Wien?“

„Sicher, ich habe den Job ja nur in Wien. Und da hängt fast ganz Osteuropa dran. Anders als hier in Hamburg, wo wir uns ständig mit München und Berlin um die Aufträge prügeln mussten, geht es von Wien bis Bukarest in einem durch. Da gibt es Möglichkeiten ohne Ende. Für uns beide.“

„Lass uns ein neues Leben in einer fremden Stadt beginnen und es gibt wieder eine Zukunft, für die es sich zu leben lohnt.“

Vera war überwältigt, eben noch schien Selbstmord die erstrebenswerteste Option und nun war alles ganz anders.

„Wann starten wir“, wollte Vera wissen, und weiß Onkel Alfred schon davon. Onkel Alfred war Georgs älterer Bruder, der das Familienerbe, die Bauer Werke, als Vorstandsvorsitzender leitete, seit sich Großvater endgültig zur Ruhe gesetzt hatte. Georg hätte auch dort arbeiten können, er wollte aber nicht unter der Fuchtel seines Bruders stehen, er wollte sich selbst etwas aufbauen. Die beiden Brüder waren grundverschieden. Alfred war der Familienpatriarch, der die Bauerwerke im Sinne eines feudalen Fürstentums leitete. Georg war da ganz anders, er arbeitete mit modernen Managementmethoden und war viel sensibler als sein rauerer Bruder. Und so war das Verhältnis der beiden Brüder recht kühl und distanziert.

„Nein, wie kommst du darauf, du bist die erste in der Familie, die es erfahren hat“, antwortete Georg.

„Es ist erst seit zwei Tagen fix, seit ich die Verträge unterzeichnet habe. Wir fliegen nächste Wochen nach Wien, um einmal eine Wohnung zu finden und damit ich mich dort einmal in der Niederlassung bekannt machen kann. Denn dort werde ich in der ersten Zeit wenig Freunde haben, dafür sorgen sicher meine beiden Stellvertreter, die nicht zum Zug gekommen sind.“

„Aber mach dir keine Sorgen, das wird schon, denn mein Job in Wien geht erst im August los, bis dahin muss ich hier in Hamburg alles an meinen Nachfolger übergeben haben. Aber das ist einfach, denn das ist mein Stellvertreter Heinrich Krause, dem kann ich voll vertrauen und er wird seine Chance nutzen. Da bin ich überzeugt.“

Vera wäre am liebsten sofort auf ihr Zimmer gelaufen, um zu packen. Doch Georg hatte eine bessere Idee

„Ich habe im Petit Four in Altona einen Tisch für uns beide reserviert. Das gönnen wir uns jetzt.“

Der Schreck durchzuckte Vera, wie sah sie denn aus, völlig strubbelig und in ihren Hausklamotten. Da musste sie sich ja elegant herrichten und das sozusagen in Nullzeit. Sie rannte los und stürmte das Badezimmer und überlegte, wie sie ihre Frisur ohne Friseur so hinbekäme, so dass sie frisiert aussähe. Und dann noch rasch ein passendes Kleid aus dem Schrank und ein wenig Make Up auftragen und es konnte losgehen.

Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 24

Tarik versteht mich. Wenn ich ihm folge, hat er gesagt, kann ich ein wahrer Muslim werden. Und hat gesagt, mein Vater ist nicht mit dem Herzen Muslim, er lebt den Koran nicht, er hält sich nicht an die Gebote. Er tut nur so, als ob. Ich habe ihn sogar schon Bier trinken sehen. Das ist gefährlich, da drohen ihm die Höllenfeuer. Aber das darf ich meinem Vater nicht sagen, Tarik hat es verboten.

Tarik wird uns unterrichten, wir sind nur eine ganz kleine Gruppe und Tarik ist unser Prediger. Er sagt, er wird uns in eine große Zukunft führen. Aber noch darf es niemand wissen. Wir müssen schweigen, nur hier schreibe ich alles auf, sonst merke ich es mir nicht. Den Blog sieht Tarik aber nicht, und sonst auch niemand.

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