Читать книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs - Страница 10

5

Оглавление

Es dämmerte bereits, als Malin die verzinkte Stahlbrücke betrat, die vom Uferweg am Eilbekkanal zu einem modernen, holzverkleideten Hausboot mit Glaskuppeldach führte. Thies Conradi hatte seine Unterkunft mit dem Komfort eines Einfamilienhauses von einem befreundeten Architekten zur Verfügung gestellt bekommen, solange dieser im Ausland weilte.

Thies saß mit einem Buch in der einen und einem Glas Weißwein in der anderen Hand auf einem der Teakstühle auf der großen Holzterrasse.

Wie friedlich es hier ist, dachte Malin mit einem Blick auf das ruhig liegende Gewässer, in dem sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten. Die vergangenen zwei Wochen hatte sie fast komplett bei Thies auf dem Hausboot verbracht. Malin hatte den Professor für Strafrecht während einer Ermittlung an der Corvinius Law School zweieinhalb Monate zuvor kennengelernt, während sie dort den Mord an einer Studentin untersuchte. Damals hatte sie sich noch mitten in dem Gefühlschaos befunden, das ihr Teampartner Frederick Bartels ausgelöst hatte, in den sie lange Zeit verliebt gewesen war. Fred war verheiratet, einer der Gründe, warum aus ihnen kein Paar wurde. Und dann war Thies auf der Bildfläche erschienen.

»Malin!« Thies ließ sein unwiderstehliches Lächeln aufblitzen. Er legte sein Buch beiseite und umfasste ihre Taille, als sie neben ihn trat. »Möchtest du auch ein Glas Wein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber erst etwas essen.«

»Erst?« Er zwinkerte schelmisch.

»Vor dem Wein, meinte ich.« Sie löste sich lächelnd aus seiner Umarmung und trat durch die geöffnete Schiebetür ins Innere. Lasierte Eichendielen, eine weiße Sitzlandschaft und ein offener Essbereich samt Designer-Küche bildeten den Wohnbereich des Oberdecks.

Gleich zu Beginn ihrer Beziehung hatte Thies sie aufgefordert, sich auf dem Hausboot wie zu Hause zu fühlen. Dennoch kam es Malin immer noch vor, als täte sie etwas Verbotenes, wenn sie sich am Kühlschrank bediente.

Sie entdeckte eine Schüssel Salat, ein Schälchen mit gegrillten Scampi und eins mit selbstgemachtem Dressing. Malin nahm alles heraus, zog Besteck aus einer der Schubladen und mischte die Zutaten zusammen. Sie schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und ging mit ihrem Essen zurück auf die Terrasse.

»Im Brotkorb sind noch zwei Franzbrötchen«, sagte Thies, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte. »Meine Mutter hat sich so über deine Pralinen gefreut, dass sie gleich im Anschluss an unser Mittagessen zum Bäcker gelaufen ist, um sie für dich zu besorgen.« Er schmunzelte.

»Oh, Gott. Du hast ihr das mit den Franzbrötchen verraten?« Das süße, mit viel Butter und Zimtzucker hergestellte Hefegebäck gehörte seit Kindheitstagen zu ihren Leibspeisen. Sie fand es peinlich, dass dies eines der ersten Dinge war, die seine Mutter über sie erfuhr. »Das war sehr nett von ihr.« Sie schob sich mit der Gabel einen der gegrillten Scampi in den Mund. Ein Hauch von Knoblauch, Zitronengras und kaltgepresstem Olivenöl breitete sich auf ihrem Gaumen aus.

»Sie ist nett«, erklärte Thies. Sein Blick wurde ernst. »Habt ihr einen neuen Fall?«

»Einen Leichenfund in Wohldorf-Ohlstedt«, erwiderte Malin knapp. Sie hatten die Absprache getroffen, Berufliches und Privates weitestgehend zu trennen, da ihre unterschiedlichen Auffassungen zu einigen Themen bereits für Zündstoff in ihrer noch frischen Beziehung gesorgt hatten. Neben seiner Arbeit an der Corvinius Law School arbeitete Thies für eine Streetworker-Station und beriet ehrenamtlich Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren.

»Also ist dein Freizeitausgleich beendet?«

Malin nickte. Sie dachte an den Toten im Ohrensessel. Sofort verging ihr der Appetit. Von einer Sekunde auf die andere fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt und sehnte sich nach ihren eigenen vier Wänden. Sie schob die noch halbvolle Salatschüssel beiseite. »Ich glaube, ich geh lieber schlafen. Bist du mir böse, wenn ich nach Hause fahre? Ich muss morgen früh raus.«

Thies schüttelte ernst den Kopf. »Ich finde es nur sehr schade.«

Wortlos räumte Malin den Tisch ab. Sie wusste, dass sie ihn mit ihrer spröden Art manches Mal vor den Kopf stieß. Dennoch konnte sie nicht aus ihrer Haut.

Als sie das Hausboot wenige Minuten später verließ, hatten sich dicke Wolken am Abendhimmel gebildet.

Es nieselte leicht, als Malin am nächsten Morgen um kurz vor acht die Stufen zum Eingang des Polizeipräsidiums hinaufging. Der moderne Rundbau mit den zehn angefügten Blocks an der Hindenburgstraße im Stadtteil Alsterdorf erinnerte in seiner Form an einen Polizeistern. Das sechsgeschossige Gebäude beherbergte neben den LKA-Abteilungen diverse Verwaltungsstellen der Polizei, die Funkzentrale und den Führungsstab. Da Hamburg den Status eines Stadtstaates hatte, lag hier die Ermittlungsführung für Verbrechensbekämpfung im Verantwortungsbereich des Landeskriminalamtes.

Die Räume des LKA 41, des Fachkommissariats für Tötungsdelikte, befanden sich im dritten Stock und unterschieden sich kaum von anderen Großraumbüros. Hellgraue Möbel, wuchtige Schreibtische, die sich in Zweierblocks gegenüberstanden, und bis zur Decke reichende Aktenregale. Alles wirkte klar strukturiert und nüchtern.

Die Tür zum Büro der Mordkommission stand offen. Ole Tiedemann befestigte gerade Tatortfotos an einem Whiteboard, Sven Andresen saß an seinem Schreibtisch und blätterte in Unterlagen. Die rechte Wange des rothaarigen Ermittlers war geschwollen und bläulich verfärbt. Er trug eine seiner schwarzen Lederhosen und ein schwarzes Seidenhemd. Sein Handgelenk zierten neben einer protzigen Golduhr zahlreiche Lederarmbänder. Im Gegensatz zu dem schlaksigen Tiedemann, der im akkurat gebügelten Hemd und der Bundfaltenhose eher wie ein Steuerberater wirkte, erinnerte der muskulöse Andresen in seinem Auftreten an eine Kiezgröße.

»Guten Morgen.« Malin setzte sich an ihren Schreibtisch. Der gegenüberliegende Platz ihres Kollegen Bartels war verwaist.

»Moin, Malin«, erwiderte Tiedemann.

»Mahlzeit, Brodersen.« Andresen sah sie missmutig an. »Hattest du nicht noch ein paar Tage frei?«

»Gestrichen.«

»Ausgleichende Gerechtigkeit«, murrte Andresen und rieb sich seine geschwollene Wange. »Schließlich durfte ich hier trotz Wurzelbehandlung antanzen.«

Malin musste sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. »Gibt es etwas Neues, Ole?«

Tiedemann drehte sich zu ihr um. »Die Spusi hat einiges an Spuren in Wenningers Haus gefunden. Sie werden gerade ausgewertet.«

»Weiß man schon Genaueres über die Tatwaffe?«

»Bislang nicht, die Waffentechniker sitzen noch an der Hülse. Ist wohl etwas kniffelig, da die Prägung in schlechtem Zustand ist. Aber vielleicht helfen die Projektile weiter, sobald wir sie aus der Rechtsmedizin bekommen.«

»Vielleicht haben wir Glück und es gibt Fingerabdrücke«, überlegte Malin laut.

Andresen erhob sich von seinem Stuhl und platzierte sich auf Tiedemanns Schreibtischkante. Das Leder seiner Hose spannte bedenklich an seinen kräftigen Beinen. »Auf den Projektilen?« Er rieb an seinem Schnauzer. »Schon klar, Brodersen.«

»Ich meine natürlich auf der Hülse«, stellte Malin richtig. »Wenn der Täter unvorsichtig genug war, zu übersehen, dass eine Hülse fehlt, könnte es genauso gut sein, dass er keine Handschuhe getragen hat.«

»Oder die Täterin, Brodersen. Im Allgemeinen verlieren Frauen eher die Nerven und begehen Fehler.« Er warf ihr einen provozierenden Blick zu.

Malin atmete einmal tief durch. »Das ist völlig aus der Luft gegriffen, und das weißt du. Laut Statistik sind im letzten Jahr rund neunzig Prozent aller Morde von Männern verübt worden.« Ihre Stimme wurde lauter. »Bei Totschlag liegt der Prozentsatz sogar noch höher.«

»Siehst du, genau das habe ich gemeint.« Der rothaarige Ermittler grinste süffisant. »Ihr Frauen seid einfach viel zu schnell aus der Ruhe zu bringen.«

Fricke erschien in der Tür. »Wie ich sehe, ist hier alles beim Alten. Anscheinend habt ihr problemlos an dem Punkt angeknüpft, den ihr vor Brodersens freien Tagen erreicht hattet.« Er wandte sich an seinen Stellvertreter. »Seit wann befinden die beiden sich im selben Raum?«

Tiedemann lächelte schmallippig. »Keine fünf Minuten.«

Fricke setzte eine strenge Miene auf. »Wir sind erst am Anfang dieser Ermittlung, zumal wir, solange Fred im Urlaub ist, mit einem Mann weniger auskommen müssen. Also schont meine Nerven und reißt euch zusammen!« Er ging zum Whiteboard mit den Tatortfotos. »Legen wir los. Was wissen wir bisher über diesen Kurt Wenninger?«

Tiedemann rutschte hinter seinen Schreibtisch und zog ein paar Unterlagen zu sich heran. »Leider sind die Informationen bisher eher dürftig. Laut Melderegister wurde er 1936 in Hamburg geboren. Die Familie war bis Anfang der vierziger Jahre unter einer Adresse in Eimsbüttel gemeldet. Der nächste Eintrag stammt dann«, er sah auf einen Computerausdruck, »aus dem Jahr 1949. Interessanterweise umfasst er nur Margarethe und Ilse Wenninger.«

»Ach, und Kurt Wenninger und sein Vater?«

»Unbekannt verzogen«, erwiderte Tiedemann. »Danach gibt es eine zeitliche Lücke. Aber nach dem Krieg war das nichts Ungwöhnliches, das Melderegister musste erst wieder vollkommen neu aufgebaut werden. 1990 taucht der Name Kurt Wenninger im Hamburger Melderegister wieder auf. Und zwar unter der Adresse am Schleusenredder, die wir bereits kennen. Wo Wenninger sich zwischenzeitlich aufgehalten hat, bleibt noch offen.«

Fricke runzelte die Stirn. »Aber er muss doch bei der Anmeldung seine bisherige Wohnadresse angeben haben.«

»Hat er aber nicht«, erwiderte Tiedemann. »Oder die Meldebehörde hat es nicht erfasst.«

»Was hat die Befragung der Schwester ergeben?«

Tiedemann fasste das Gespräch mit Ilse Wenninger knapp zusammen.

»Die Sache mit dem Brief ist merkwürdig«, kommentierte Fricke.

»Die ganze Situation war merkwürdig. In meinen Augen hatte die Frau einfach nur keine Lust, über den Brief zu sprechen, genauso wenig wie über ihren Bruder. Irgendetwas ist zwischen den beiden extrem schiefgelaufen.«

Fricke nickte. »Wir behalten die Angelegenheit fürs Erste im Hinterkopf und sehen zu, dass wir mehr Informationen über das Mordopfer bekommen.«

»Vielleicht sollten wir Wenningers ehemalige Praxis aufsuchen«, schlug Malin vor. »Laut Stefan Biedermann, das ist der Postbote, war Wenninger Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, in Volksdorf.«

»Ein Seelenklempner?« Andresen rümpfte die Nase. »Vielleicht hat ihn irgendein durchgeknallter Patient umgebracht.«

»Wenniger war schon achtundsiebzig«, gab Malin zu bedenken. »Er wird schon länger nicht mehr praktiziert haben. Ich kann überprüfen, ob es die Praxis noch gibt, und gegebenenfalls sofort hinfahren.«

»Gut, mach das«, sagte Fricke. »Vielleicht arbeitet dort noch jemand, der Kontakt mit Wenninger hatte.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich habe gleich einen Termin mit dem Pressesprecher, danach fahre ich in die Rechtsmedizin. Sven, du begleitest mich, dann kannst du dir ein besseres Bild machen.«

»Soll ich mir in der Zwischenzeit einen Überblick über Wenningers Finanzen verschaffen?«, fragte Tiedemann.

Fricke nickte. »Und gib mir bitte Bescheid, wenn die Spusi mit dem Tatort fertig ist. Wir sollten sehen, was wir in dem Haus noch an Unterlagen finden. Noch Fragen? Keine? Gut, dann an die Arbeit.« Er hob die Hand zum Gruß und verließ den Raum.

Kurt Wenningers ehemalige Praxis für Neurologie und Psychiatrie in Volkdorf erwies sich als Sackgasse. Zwar hatte Malin mit seinem Nachfolger sprechen können, doch der hatte nur im Rahmen der Übernahme sporadisch Kontakt zu ihm gehabt. Die Abwicklung selbst war von Beratern vorgenommen worden. Obwohl der Patientenstamm im Jahr 2000 Bestandteil des Übernahmevertrages gewesen war, waren seitdem viele Patientenakten dem Schredder zum Opfer gefallen, da die gesetzliche Aufbewahrungspflicht überschritten war. Für die Einsicht in die restlichen noch von Wenninger angelegten Akten verlangte der Praxisinhaber einen richterlichen Beschluss.

Auch die Gespräche mit zwei von drei Sprechstundengehilfinnen verliefen im Sand. Keine von ihnen hatte mit Wenninger zusammengearbeitet, ebenso wenig wie die dritte im Bunde, die zur Zeit mit Magen-Darm-Grippe das Bett hütete.

Mittlerweile war es Mittag. Malin saß an der Fensterfront des Asia-Imbisses Seoul an der Alsterdorfer Straße und wartete auf ihre Bestellung, S4, Hühnchen mit Cashewnüssen. Das Seoul lag nur wenige Gehminuten vom Präsidium entfernt und galt unter den LKA-Beamten schon seit langem als Geheimtipp. Die Einrichtung des kleinen Lokals war schlicht. Weiße Kacheln, ein roter Tresen, auf dem ein dicker Buddha thronte, und halbhohe Spitzengardinen. In der offenen Küche hinter der Bedientheke wirbelte der Koch Schulter an Schulter mit der Inhaberin Frau Hu, die alle Hände damit zu tun hatte, Bestellungen entgegenzunehmen.

»S4!« Frau Hu reichte Malin das dampfende Hühnchengericht und die obligatorische Dose Cola light über die Theke. Malin ging zurück an ihren Fensterplatz und widmete sich ihrem Essen. Ihre Gedanken wanderten zu Thies. Die Enttäuschung über ihren abrupten Aufbruch am vergangenen Abend hatte ihrem Freund im Gesicht gestanden.

Ich darf das nicht vermasseln, dachte Malin. Nicht schon wieder. Sie trank einen Schluck Cola. Vielleicht war sie auch einfach nur beziehungsunfähig. Seit Thies davon angefangen hatte, sie unbedingt seiner Mutter vorstellen zu wollen, war die Leichtigkeit ihrer Beziehung verflogen. Oder lag es daran, dass sie in einem neuen Fall ermittelte?

Malin war erst knapp zwölf Monate bei der Mordkommission, hatte sich seitdem aber schon zweimal in äußerst brenzligen Situationen befunden. Das hatte Spuren hinterlassen. Immer wieder gab es Momente, in denen sie sich fragte, ob es beim nächsten Mal genauso glimpflich für sie ausgehen würde. Seit einigen Wochen quälte sie fast jede Nacht ein Albtraum, in dem ihr jemand minutenlang eine geladene Waffe an den Hinterkopf hielt und schließlich abdrückte.

Ihr Handy klingelte. Es war Fricke. »Konntest du in der Praxis etwas in Erfahrung bringen?«

»Leider nein.« Malin berichtete von dem Gespräch mit Wenningers Nachfolger.

»Gibt es noch Personalunterlagen oder die Adressen ehemaliger Mitarbeiter?«

»Ebenfalls Fehlanzeige. Wenningers letzte Arzthelferin ist 2003 in Rente gegangen. Mehr als den Namen konnte man mir nicht sagen. Es gibt noch einen Restbestand an Patientenakten, aber dafür brauchen wir einen Beschluss.«

»Gut, ich kümmere mich darum«, brummte Fricke. »Wo steckst du jetzt?«

»Beim Koreaner, eine Kleinigkeit essen, danach wollte ich zurück ins Büro.«

Fricke räusperte sich. »Pass auf, Brodersen, ich bin auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Es wäre gut, wenn du dich in Wenningers Haus noch mal etwas genauer umsiehst. Vielleicht findest du ein paar aussagekräftige Unterlagen.«

»Alles klar, Chef. Ist die Spurensicherung fertig?«

»Die Kollegen packen gerade ein. Am besten rufst du Glaser an und fragst, wie lange noch jemand vor Ort ist. Wenn ich es schaffe, komme ich später nach. Ansonsten treffen wir uns gegen Abend zur Besprechung im Präsidium. Bis dann, Brodersen.« Er legte auf.

Draußen regnete es noch immer Bindfäden. Ein Taxi fuhr vorbei. Es erinnerte Malin an etwas, das eine von Wenningers Nachbarinnen gesagt hatte. Die mit den vielen Kindern. Malin zog ihr Notizbuch heraus. Nadine Schröder hatte beobachtet, wie Kurt Wenninger vor zwei Wochen spät in der Nacht mit dem Taxi nach Hause gekommen war. Vielleicht wäre es interessant zu erfahren, woher.

Malin machte sich eine kurze Notiz und widmete sich dann ihrem Hühnchengericht.

Eine eigenartige Stille lag über dem Anwesen am Schleusenredder, als Malin vierzig Minuten später ihren Mini vor dem Spitzgiebelhaus abstellte. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Die Thujenhecke und die Pflanzen in den angrenzenden Beeten glitzerten vor Feuchtigkeit. Die Luft roch nach Moos, Tannen und Erde.

Vor dem Eingang blieb sie stehen. Kein Laut war zu hören. Als wüssten selbst die Vögel, dass der Tod an diesem Ort Einzug gehalten hatte. Malin öffnete die Haustür mit dem Schlüssel, den ihr ein Kollege von der Spurensicherung im Präsidium ausgehändigt hatte.

Der Leichengeruch hing noch immer in jedem Winkel des Hauses, hatte sich tief in Wände, Böden und Textilien gefressen. Sie zog ein Döschen mit Mentholsalbe aus ihrer Umhängetasche und strich sich etwas davon unter die Nase. Anschließend streifte sie Latexhandschuhe über.

Im Türrahmen zum Wohnzimmer blieb Malin einen Moment stehen. Die dunkle Holzdecke, der Eichenschrank, die durchgesessene Sofagarnitur und die verblichenen Perserteppiche auf dem Dielenboden, alles sah aus wie beim ersten Mal, als sie diesen Raum betreten hatte. Zumindest fast. Die Kaffeetasse auf dem Beistelltisch fehlte, genauso wie die Leiche.

Malin löste sich aus dem Türrahmen und fuhr mit ihrer behandschuhten Hand die Bücherrücken in einem der Regalfächer des Eichenschranks entlang. Goethe, Brecht, Mann, Molière, Heine, zahlreiche Klassiker. In weiteren Fächern standen etwa zwei Dutzend in Leder gebundene Bände einer Brockhaus-Enzyklopädie und etliche Fachbücher über Neurologie und Psychiatrie nebst weiteren medizinischen Nachschlagewerken.

Malin öffnete eine der Schranktüren und entdeckte ein halbes Dutzend Aktenordner. Den mit dem Vermerk Praxis zog sie als Erstes heraus. Es waren Steuerunterlagen. In einem weiteren fand sie Rechnungen, ausgestellt auf die Praxis, feinsäuberlich mit Überweisungsbetrag und Datum versehen. Sie stellte den Ordner zurück und griff nach einem anderen mit der Bezeichnung Hausunterlagen. Beim Durchblättern stellte sie fest, dass die Papiere bis in die dreißiger Jahre zurückreichten. Neben Grundstücksplänen, Versicherungspolicen und zahlreichen Abgabebescheiden fand sie in dem Ordner auch Grundbuchauszüge. Daraus ging hervor, dass im Jahr 1991 ein Eigentümerwechsel von Margarethe Wenninger, geboren im Jahr 1905, zu Kurt Wenninger stattgefunden hatte.

Und der Vater? Malin betrachtete das Datum auf dem Auszug, der Margarethe Wenninger als Eigentümerin auswies. Februar 1949. Unschlüssig, ob die Eigentumsverhältnisse des Hauses in ihrem Fall von Belang waren, notierte sich Malin die Daten und stellte den Ordner zurück.

Hinter den anderen Schranktüren verbargen sich Porzellan, Vasen und Gläser. Malin öffnete eine der beiden Schubladen. Nippes, vom Häkeldeckchen über Servietten mit Weihnachtsmotiven bis zu kitschigen Porzellanfiguren. Sie drehte eine davon um. Meißen.

In der letzten Schublade fand sie neben einem Pfeifenkästchen einen schmalen Aktenordner mit Kontounterlagen. Sie legte ihn beiseite, um ihn später mit ins Präsidium zu nehmen. Anschließend tastete sie die Ritzen und die Kissen der Sofagarnitur ab, drehte Bilder an den Wänden um, sah hinter dem Fernseher nach und kontrollierte die Unterseiten des Couchtisches, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, das weiteren Aufschluss auf den Bewohner gab. Nichts.

Sie ging zur Fensterfront und sah in den Garten. Sonnenstrahlen hatten sich durch die Wolkendecke gekämpft und ließen den regennassen Rasen glitzern. Wieder fiel ihr auf, wie akkurat die Hecke und die Buchsbäume getrimmt und die Beete angelegt waren. Malin dachte an ihren eigenen, handtuchgroßen Garten, in dem Blumen und Sträucher wild durcheinander wucherten und der Rasen eher einer Wiese glich.

Der weinrote Samt des Ohrensessels, in dem am Vortag der Tote gesessen hatte, hatte großflächige dunkle Verfärbungen. Sie wandte sich ab und ging ins angrenzende Zimmer. Die Einbauküche wirkte alt und abgewohnt, doch in den Schränken herrschte penible Ordnung. Ofen und Herd waren sauber, ebenso wie der aufgeräumte Kühlschrank.

Malin beschloss, ins Obergeschoss zu gehen. Durch das eingelassene Gitterfenster der Eingangstür tauchten vereinzelte Sonnenstrahlen einen Teil des Flurs in milchiges Licht. Am Garderobenständer hing noch immer der dunkelblaue Blazermantel.

Beklommen ging sie die ausgetretenen, knarzenden Stufen der Holztreppe hinauf. Sie stellte sich vor, wie Kurt Wenninger die Treppe das letzte Mal benutzt hatte. Ob er zu dem Zeitpunkt bereits geahnt hatte, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete? Unwillkürlich musste sie an ihren Großvater denken, der nur zwei Jahre jünger als der Tote war. Sie nahm sich vor, ihn in den nächsten Tagen zu besuchen.

Die Schlafzimmereinrichtung war trist und die Tapeten vergilbt. Unter der Dachschräge stand ein schmales Mahagoni-Bett, daneben ein passender Nachtschrank mit einer kleinen Messinglampe darauf. An der einzigen geraden Seite befand sich ein Kleiderschrank mit Spiegeleinsatz. Auf der Bettseite zum Fenster hin zeichnete sich ein Abdruck auf der Decke ab, so als hätte dort vor kurzem noch jemand gesessen.

In der Schublade des Nachtschranks lagen ein Gedichtband von Hermann Hesse, eine Ausgabe des Spiegels, eine Lesebrille und ein Stapel Stofftaschentücher mit Monogramm.

Sie öffnete den Schrank. Der muffige Geruch getragener Kleidung mischte sich mit dem drückenden Leichengeruch. Malin wurde übel und sie öffnete das Schlafzimmerfenster. Dankbar sog sie die frische Luft in ihre Lungen und betrachtete die benachbarten Gärten und die Bäume im angrenzenden Wald, deren Blätter sich bereits verfärbten. Ihr Blick fiel auf die Rasenfläche. Etwas irritierte sie.

»Brodersen!«

Malin zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, wie im Untergeschoss die Haustür geöffnet wurde.

»Ach, hier steckst du.« Fricke erschien in der Schlafzimmertür und deutete ein Lächeln an. »Und, hast du schon etwas Interessantes aufgestöbert?« Er strich sich über seine vom Wind zerzausten Haare und kam ins Zimmer.

Malin schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht. Im ganzen Haus habe ich nichts Persönliches gefunden. Die einzige Ausbeute ist ein Aktenordner mit Kontoauszügen.«

»Zumindest gibt uns das schon mal Einblick in die Vermögensverhältnisse«, erwiderte Fricke trocken. »Wäre nicht der Erste, der wegen Geld umgebracht wird.«

Sie drehte sich wieder zum Fenster um und starrte hinunter in den Garten. »Chef, komm mal.«

Fricke trat neben Malin und folgte ihrem Blick. »Ja, und?«

»Irgendwie ist der Rasen an manchen Stellen merkwürdig gewachsen.«

»Bist du jetzt unter die Botaniker gegangen?«, brummte Fricke. »Rasen wächst nicht überall gleichmäßig, das hat er von Natur aus an sich.«

»Trotzdem, schau mal genau hin.« Malin wies auf eine Stelle hinter der Terrasse. »Es sieht fast so aus, als hätte dort jemand etwas ins Gras gemäht. Sind das Zahlen?«

Fricke kniff die Augen zusammen. »Hm … Du könntest recht haben.«

»Das war mit Sicherheit nicht Wenninger.« Malin zog ihr Handy aus der Hosentasche und machte ein paar Fotos. Sie erinnerte sich an die Worte von Stefan Biedermann: ›Englischer Rasen sollte alle paar Tage gemäht werden. Die optimale Länge ist drei bis vier Zentimeter.‹

Malin betrachtete das Foto auf dem Display. »Wenninger saß in seinem Sessel, als er ermordet wurde. Und vermutlich hat er gesehen, dass etwas in den Rasen gemäht wurde.« Sie steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. »Jemand wollte, dass es das Letzte ist, was er in seinem Leben sieht.« Sie schloss das Fenster und wandte sich dann wieder zu Fricke um. »Fragt sich nur, warum.«

Das Sandmann-Projekt

Подняться наверх