Читать книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs - Страница 11

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Ilse Wenninger füllte zwei Finger breit Eierlikör in ein Schnapsglas und hielt es eine Armlänge entfernt in die Höhe. »Auf dich, Kurt!« Sie leerte das Glas in einem Zug.

Dann hielt sie inne. Würde es zurückkommen? Das Gefühl für ihren großen Bruder? Wut und Hass hatten sie zu einer verbitterten alten Frau gemacht. Kurt, der Fremdling, der Mensch, der ihr so vertraut und gleichzeitig so fremd war … Würde sich jetzt, wo sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, das tief in ihr vergrabene Gefühl für diesen Mann wieder einstellen? Konnte sie ihm jetzt verzeihen? Doch ließ sich Unrecht mit Unrecht vergelten?

Sie dachte an ihre Kindheit zurück. Kurti hatte ihr das Radfahren und das Schwimmen beigebracht. Er war ihr Beschützer und ihr Held gewesen, ihr großer Bruder.

Dann war sie eingestürzt, ihre Welt. Von einem Tag auf den anderen hatte alles in Trümmern gelegen und sie hatte Kurti verloren.

Ilse griff nach der Flasche und schenkte sich ein weiteres Glas ein.

»Ilse?« Natascha Raschke steckte den Kopf durch die Tür. »Ich habe die Einkäufe ausgepackt. Brauchst du sonst noch was?« Ihr Blick fiel auf die Likörflasche. »Wollen wir noch ein Kaffee trinken und reden?«

Ilse schüttelte den Kopf. Einen Moment wirkte Natascha verunsichert, dann verschwand sie aus der Tür.

Ilse leerte ihr Glas. Jetzt war es vorbei. Kurt hatte bekommen, was er verdient hatte. Nur leider wollte sich bei ihr kein Wohlgefühl einstellen. Sie hatte geglaubt, mit seinem Tod auch ihren inneren Frieden zu finden.

Sie hatte sich getäuscht.

Es war bereits Abend, als das Ermittlungsteam im Konferenzzimmer der Mordkommission zusammentraf. Wie im gesamten Präsidium herrschte auch hier eine nüchterne Arbeitsatmosphäre. Ein Konferenztisch aus hellem Holz dominierte umsäumt von Metallschwingern mit grünen Sitzflächen den Raum. Jemand hatte ein Whiteboard mit Tatortfotos aufgestellt.

Malin setzte sich mit einem Kaffeebecher auf den freien Stuhl neben Ole Tiedemann.

Fricke stand mit ernster Miene an der Stirnseite des Tisches. »Der vorläufige Obduktionsbericht ist gerade gekommen. Am Körper des Toten wurden insgesamt vier Einschüsse festgestellt. In der linken Schulter, im rechten Oberschenkel, im Brustkorb und im Bauchraum, letztere führten zu schweren inneren Verletzungen.« Er sah in seine Unterlagen. »Neben Gewebe und Organen wurden auch einige große Gefäße in Mitleidenschaft gezogen … Kurz zusammengefasst: Kurt Wenninger ist verblutet. Man kann nur hoffen, dass der Mann schnell bewusstlos geworden ist.«

Er räusperte sich. »Laut Dr. Steinhofer hat der Täter nicht weiter als anderthalb Meter vom Opfer entfernt gestanden. Zumindest belegen das die Schmauchhöfe und die Pulvereinsprengungen an den Einschussstellen.« Er sah Frank Glaser an, der sich gerade einen Kaugummistreifen in den Mund schob. »Ich habe die Projektile aus der Rechtsmedizin mitgebracht und an deine Kollegen von 36 gegeben, mal sehen, was sie herausfinden.«

»Gibt es schon was Neues bezüglich des Todeszeitpunktes?«, fragte Andresen.

»Nein. Wir müssen den abschließenden Bericht der Rechtsmedizin und das entomologische Gutachten abwarten, aber das kann ein paar Wochen dauern. Bis dahin müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben. Kurt Wenninger wurde Dienstag Nacht vor zwei Wochen zuletzt gesehen.« Fricke schaute Malin an. »Hat sich daran etwas geändert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war das letzte Mal. Ich hänge mich später ans Telefon, um herauszufinden, welches Taxi-Unternehmen ihn gefahren hat.«

»Gut.« Fricke sah in die Runde. »Der fehlende Todeszeitpunkt erschwert uns die Arbeit bei der Alibi-Überprüfung, deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns vorerst auf das Mordmotiv konzentrieren.« Er wandte sich an seinen Stellvertreter. »Wissen wir schon etwas über die Vermögensverhältnisse?«

»Ich habe eine Bafin-Abfrage gemacht«, erwiderte Tiedemann. »Demnach gibt es neben dem Girokonto und einem Sparbuch noch ein Festgeldkonto bei einer anderen Bank. Außerdem hatte der Tote an seinem Schlüsselbund einen Schlüssel zu einem Bankschließfach. Sobald wir den Beschluss haben, statte ich der Bank einen Besuch ab.«

»Ich hab’s schon angeleiert«, informiert ihn Fricke. »Außerdem haben wir aus dem Haus des Opfers einen Ordner mit Kontoauszügen mitgebracht. Es wäre gut, wenn du dir die ansiehst. – Frank, was hast du für uns?« Er wandte sich dem hageren Kriminaltechniker zu.

»Die Spurenlage ist ziemlich mau.« Glaser rückte seine Brille zurecht. »Keine Fremdspuren an der Leiche. Überhaupt haben wir im Erdgeschoss des Hauses nicht die geringste DNA gefunden. Deshalb gehen wir davon aus, dass der Täter nach dem Mord gründlich saubergemacht hat. Das Einzige, was er uns netterweise übrig gelassen hat, waren ein paar Fingerabdrücke. Sie stammen vom Opfer, zumindest bis auf einen Abdruck an der Kaffeedose. Ich hab ihn bereits durch die Datenbank laufen lassen.« Er lächelte grimmig. »Keine Übereinstimmung.«

Fricke zerfurchte nachdenklich seine Stirn. »Was ist mit dem Rest des Hauses?«

»Nichts Auffälliges, allerdings sind die Spuren auch noch nicht alle ausgewertet.«

»Dann haben wir also bisher die Hülse und einen Fingerabdruck an einer Kaffeedose. Das ist nicht gerade üppig.« Fricke sah in die Runde. »Unsere Kollegin Brodersen hat im hinteren Garten des Opfers eine interessante Entdeckung gemacht. Wie es aussieht, wurde dort etwas in den Rasen gemäht. Wir vermuten, dass es sich dabei um Zahlen handelt.«

Malin erhob sich und befestigte einen stark vergrößerten Abzug ihres Handyfotos am Whiteboard.

Andresen kniff die Augen zusammen. »Also, ich kann da nichts erkennen. Das ist doch nur wieder eins von Brodersens Hirngespinsten.«

»Das dachte ich anfangs auch, als Hans mich angerufen hat.« Frank Glaser warf Malin einen entschuldigenden Blick zu. »Aber ich habe mir die Sache angesehen und bin zu dem gleichen Ergebnis wie unsere Kollegin gelangt.« Er hielt ein schwarzes Notizbuch in die Höhe. »Das habe ich im Geräteschuppen entdeckt. Kurt Wenninger hat penibel darüber Buch geführt, wann er seinen Rasen gemäht, gedüngt und vertikutiert hat. Gemäht hat er zuletzt am ersten August, also vor drei Wochen, und laut Buch auf eine Schnitthöhe von vier Zentimeter. Mittlerweile ist der Rasen auf sieben bis zehn Zentimeter nachgewachsen, aber an diesen Stellen …«, er stand auf und tippte mit seinem Kugelschreiber auf verschiedene Punkte des Handyfotos, »ist das Gras nicht nur wesentlich kürzer, sondern die Länge liegt teilweise unter den vier Zentimetern, an die sich Wenninger bei jedem Rasenschnitt pingelig gehalten hat.« Sein Gesichtsausdruck wurde grimmig. »Leider ist durch den unterschiedlichen Wuchs nicht zu erkennen, was dort eingemäht wurde, aber da werde ich mir noch was einfallen lassen.« Glaser setzte sich wieder an seinen Platz.

Andresen rieb sich sein unrasiertes Kinn. »Und was bringt uns das jetzt?«

»Wir müssen herausfinden, was dort eingemäht wurde«, erwiderte Malin trocken. »Und von wem.«

Niemand sagte etwas.

Fricke klatschte in die Hände. »Also gut, verteilen wir die Aufgaben. Ole, du und Sven, ihr nehmt euch den Ordner mit den Kontoauszügen vor, bis wir den Beschluss für die Bank haben. Und bitte fordert beim Telefonanbieter die Verbindungsprotokolle an. Findet außerdem heraus, ob es neben Wenningers Schwester noch weitere Verwandtschaft gibt.«

»Ilse Wenninger hat eine Tochter und zwei Enkelkinder«, erwiderte Tiedemann.

»Dann seht zu, was ihr über die in Erfahrung bringen könnt.« Fricke sah Malin an. »Brodersen, du klärst das mit dem Taxi. Ich möchte wissen, wo Wenninger an dem Abend vor zwei Wochen gewesen ist. Wie es aussieht, wurde er danach nicht mehr gesehen. – Sonst noch Fragen?«

»Eine noch«, sagte Malin. »Solange Fred im Urlaub ist, arbeite ich da alleine?«

Fricke musterte sein jüngstes Teammitglied aus zusammengekniffenen Augen. »Bei der momentanen Personallage ist eine Urlaubsvertretung für Bartels nicht drin. Im Zweifelsfall wende dich an Ole.« Er tauschte einen kurzen Blick mit Tiedemann. Dieser nickte.

Fricke klatschte ein weiteres Mal in die Hände. »Also dann, ab an die Arbeit.«

28. Januar 1979

Das einzige Fenster im Raum war mit Glasbausteinen zugemauert. Eine schmale Pritsche diente als Schlafgelegenheit, gegenüber stand ein kleiner Tisch mit einem Hocker. Waschbecken und Toilette befanden sich in der Nähe der Tür. Von der Decke aus tauchte eine grelle Neonröhre den Raum in kaltes Licht.

Rena saß auf dem Hocker und hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Sie starrte zu den Glassteinen. Zumindest waren sie lichtdurchlässig, und an der Dunkelheit dahinter meinte Rena zu erkennen, dass es Nacht war.

Sie hatte völlig das Zeitgefühl verloren. Wie spät war es? Mitternacht? Drei Uhr morgens oder war es gerade mal sieben Uhr am Abend? Wie lange war sie schon an diesem Ort? Stunden, Tage, Wochen? Anfangs hatte sie noch gezählt, erst die Minuten, dann die Stunden, hatte versucht, die Tageszeiten am matten Schimmer hinter den Glassteinen einzuschätzen. Und an den Mahlzeiten, die ihr durch eine in die Tür eingelassene Klappe gereicht wurden. Schweigend. Brot mit ein wenig Belag oder eine dünne Suppe.

Das Licht ging aus. Rena legte sich auf die Holzpritsche, schlüpfte unter die kratzige Decke und meinte jeden einzelnen Knochen zu spüren.

Sie registrierte den Lichteinfall durch den kleinen runden Spion in der Tür. Jemand beobachtete sie. Sie legte die Hände auf die Decke. Es wurde stockdunkel.

Obwohl Rena todmüde war, konnte sie nicht einschlafen. Unaufhörlich drehten sich die Fragen in ihrem Kopf. Warum bin ich hier? Wer steckt dahinter? Wo ist mein Kind?

Sie schluchzte auf. Wie lange muss ich es hier noch aushalten? Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern. Vor Kälte, vor Hunger und vor Angst. Peter, dachte sie, Peter wird mich hier herausholen. Mit dem tröstlichen Gedanken fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.

Sekunden später ging das Licht der Neonröhre wieder an.

Das Sandmann-Projekt

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