Читать книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs - Страница 14

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Michael Baumann glitt aus einem unruhigen Schlaf. Er hatte einen Albtraum gehabt, an den er sich nur noch schemenhaft erinnern konnte. Da war diese Frau gewesen …

Er öffnete die Augen. Sein Blick erfasste die bunt gemusterte Tapete und erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er in einem Hamburger Hotelzimmer war. Und warum.

Er schob die Bettdecke beiseite und stand auf. Im hellblau gefliesten Badezimmer starrte ihm sein Spiegelbild entgegen. Etliche rote Stressflecken überzogen sein Gesicht. Verdammt.

Schon als er gestern aus dem Zug gestiegen war, hatte er geahnt, dass ihm ein schwieriger Weg bevorstand. Deshalb hatte er sich zunächst ein Hotel gesucht. Um zur Ruhe zu kommen. Doch statt zu schlafen, hatte er sich die halbe Nacht in dem fremden Bett hin- und hergewälzt. Und nun das! Es geschah immer in den unpassendsten Momenten.

Michael schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Tief einatmen. Ausatmen. Einatmen und ausatmen. Manchmal half es. Dieses Mal nicht. Die Flecken blieben.

Plötzlich sehnte er sich nach Ina und seiner kleinen Tochter. Wäre er bei ihnen zu Hause geblieben, würde es ihm jetzt vermutlich besser gehen. Dann schalt er sich selbst einen Narren. Die Unruhe würde ihn einholen, wie sie es immer tat. Sie begleitete ihn bereits sein ganzes Leben. Nein, er musste da jetzt durch, musste sich endlich Gewissheit verschaffen.

Er wandte seinem Spiegelbild den Rücken zu und zwängte sich in die kleine Duschkabine hinter der Badezimmertür. Dann duschte er lang und ausgiebig, putzte sich anschließend die Zähne und rasierte sich sorgfältig. Als er damit fertig war, bemerkte er zufrieden, dass die Flecken fast aus seinem Gesicht verschwunden waren. Sein Magen knurrte. Er hatte sein Zimmer ohne das überteuerte Frühstück gebucht und überlegte nun, ob er sich in der Nähe ein Café suchen sollte.

Michael schlüpfte in seine Kleidung und kontrollierte seine Brieftasche, ob er genügend Bargeld hatte. Dabei stach ihm der gelbe Notizzettel mit der Adresse ins Auge. Er kannte sie mittlerweile auswendig. Sein Puls beschleunigte sich. Ohne in den Spiegel zu schauen wusste er, dass sich die Flecken in seinem Gesicht wieder ausbreiteten.

»Ich kenne keinen Michael Baumann.« Ilse Wenninger verschränkte ihre Arme demonstrativ vor der Brust. In ihren alterstrüben Augen blitzte es. »Wer soll das denn sein?«

Malin unterdrückte ein Seufzen. Seit einer geschlagenen Viertelstunde versuchte sie, brauchbare Informationen aus dieser widerspenstigen Person herauszuholen. Ohne Erfolg. Ilse Wenninger war ein harter Brocken. »Das ist der Mann, der von ihrem Bruder als Alleinerbe ins Testament eingesetzt wurde.«

»Als …« Ilse Wenninger blieb das Wort buchstäblich im Hals stecken. Sie wirkte sichtlich geschockt.

»Was ist zwischen Ihnen und Ihrem Bruder vorgefallen?«, schob Malin nach.

Ilse Wenningers Züge wirkten wie versteinert.

»Frau Wenninger?«

»Das geht niemanden etwas an.« Ihre Stimme war kalt und schneidend.

»Frau Wenninger, wir müssen den Mord an Ihrem Bruder aufklären«, entgegnete Malin scharf. »Uns geht alles etwas an, das mit ihm in Zusammenhang steht. Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie mit ins Polizeipräsidium zu nehmen. Möchten Sie das?«

Ilse Wenningers Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengekniffen, als sie schließlich den Kopf schüttelte.

»Was hatte Ihr Bruder für eine Verbindung nach Berlin?«

Malins Frage schien die Frau zu irritieren. Sie öffnete ihre Haltung. »Na, Kurt hat doch in Berlin gelebt. In Ost-Berlin. Er ist erst nach der Wende zurück nach Hamburg gekommen.«

»Ach«, sagte Malin überrascht und zückte ihr Notizbuch. »Erzählen Sie mehr darüber. Was hat Ihren Bruder nach Berlin verschlagen? Noch dazu in den Osten der Stadt?«

Die alte Frau musterte sie abschätzig. »Sie sind noch zu jung, um das zu verstehen.« Ehe Malin protestieren konnte, sprach Ilse Wenninger weiter: »Ich war noch ein Kind, damals, während des Krieges.« Sie senkte den Blick auf ihre gefalteten Hände. »Unser Vater war Berliner. Und ein elender Kommunist! Doch das erfuhr ich erst, als ich bereits erwachsen war. Meine Mutter lernte meinen Vater Anfang der dreißiger Jahre hier in Hamburg kennen, als er zu Besuch bei Bekannten war. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Meine Großeltern waren damals angesehene Leute in Hamburg. Als meine Mutter mit Kurt schwanger wurde, war es beschlossene Sache, dass ihr Enkelkind im Kreis der Familie aufwachsen würde. Zwei Jahre später bin ich dann auf die Welt gekommen.« Ilse Wenninger hob den Blick. »Mein Vater hat sich in Hamburg nie richtig wohlgefühlt. Immer wieder sprach er davon, zurück nach Berlin zu gehen. Zwischen meinen Eltern ist es deswegen ständig zum Streit gekommen.« Ein milder Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. »Kurti und ich haben uns gemeinsam unter der Bettdecke verkrochen, wenn sie sich stritten. Wir hatten schon damals Angst, dass unsere Eltern sich trennen würden. Dann kam der Krieg. Mein Vater wurde eingezogen, Kurti und ich wurden mit der Kinderlandverschickung aufs Land gebracht. Unsere Familie wurde regelrecht auseinandergerissen.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Als wir zurückkamen, lag alles in Trümmern. Die Straße, in der unser Haus gestanden hatte, gab es nicht mehr. Meine Großeltern waren tot und mein Vater war zu einem völlig anderen Menschen geworden. Er verlangte von meiner Mutter, mit ihm nach Berlin zu gehen, doch sie weigerte sich. Nach dem Verlust ihrer Eltern wollte sie nicht auch noch ihre Heimat verlieren. Wir sind dann in das Haus am Schleusenredder gezogen. Es gehörte meinen Großeltern.« Eine Träne löste sich aus Ilse Wenningers linkem Auge und rann ihre faltige Wange hinunter. »Eines Tages war mein Vater verschwunden. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem er meiner Mutter mitteilte, dass er zurück nach Berlin geht. Kurti hat er mitgenommen.« Sie wischte sich mit einer resoluten Geste die Träne von der Wange. »Jetzt wissen Sie, wie mein Bruder damals nach Berlin gekommen ist.« Ihre Gesichtszüge verhärteten sich wieder.

»Und danach?«, fragte Malin, die den Schilderungen der alten Frau gespannt gelauscht hatte. »Hatten Sie mit Ihrem Bruder Kontakt?«

Ilse Wenninger schnaubte. »Sie wissen wohl nicht besonders viel über die DDR. Für die waren wir der Klassenfeind. In den ersten Jahren gab es noch einen Briefwechsel zwischen meinem Bruder und mir, doch der wurde mit der Zeit immer weniger, bis ich irgendwann gar nichts mehr hörte.« Ihre Stimme wurde hart. »Mehr möchte ich nicht dazu sagen. Und wenn Sie mich deswegen mit aufs Präsidium schleppen wollen, dann tun Sie das meinetwegen. Dort werden Sie von mir auch nicht mehr erfahren.«

Malin zweifelte keinen Moment an den Worten der alten Frau, die nun stocksteif in ihrem Sessel thronte. »Dann beantworten Sie mir bitte noch eine letzte Frage. Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

»Sie haben mir die Frage schon einmal gestellt, an der Antwort hat sich seitdem nichts geändert.« Ilse Wenniger sah ihr direkt in die Augen. »Bei der Beerdigung meiner Mutter. Vor dreiundzwanzig Jahren.«

Auf dem Weg von Niendorf zum Polizeipräsidium legte Malin einen Zwischenstopp im Cafe Elbgold ein, ihrem Stammcafé für Samstagvormittage. An der Theke orderte sie das obligatorische Franzbrötchen, dazu einen Milchkaffee, und ergatterte anschließend einen der begehrten Fensterplätze mit Blick auf den Mühlenkamp. Gedankenversunken beobachtete sie die Passanten, während sie genüsslich ihr Frühstück verzehrte.

Es war Malins erste Mahlzeit nach einer viel zu kurzen Nacht. Thies hatte für sie am vergangenen Abend ein Drei-Gänge-Menü auf seinem Hausboot gezaubert. Die romantische Stimmung hatte dafür gesorgt, dass Malin weder an Frederick noch an den Einsatz ihrer Kollegen einen Gedanken verschwendet hatte. Jetzt hätte sie allerdings nur allzu gerne gewusst, wie es für Tiedemann und Andresen im Admiral gelaufen war und was es mit dem Pfeifenclub auf sich hatte.

Malin stippte ihr Franzbrötchen in den Milchkaffee. Ilse Wenninger war ihr ein Rätsel. Die Geschichte der Frau hatte sie berührt und sie fragte sich, was zwischen den Geschwistern Wenninger in den vergangenen Jahren schiefgelaufen war. Was hatte Ilse Wenninger zu dieser verbitterten alten Frau gemacht? Und warum hasste sie ihren Bruder so sehr?

Ihre Reaktion auf das Testament gab Malin ebenfalls zu denken. Offenbar hatte Ilse Wenninger mit etwas anderem gerechnet.

Während Malin den letzten Zipfel ihres Franzbrötchens verschlang, dachte sie über die neugewonnene Erkenntnis nach. Kurt Wenninger hatte einen Großteil seines Lebens in Ost-Berlin verbracht. Spielte das für ihren Fall eine Rolle? Ihr fiel ein, dass dieser ominöse Erbe, Michael Baumann, ebenfalls aus Berlin stammte.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In einer knappen halben Stunde würde die Besprechung im Präsidium beginnen. Sie leerte ihre Kaffeetasse und ging zum Tresen, um sich ein weiteres Franzbrötchen zum Mitnehmen einpacken zu lassen.

Die Luft im Konferenzzimmer war stickig, als Malin mit zehn Minuten Verspätung eintraf. Ihre Teamkollegen waren bereits anwesend, ebenso wie Frank Glaser von der Kriminaltechnik und Fricke, der neben dem Whiteboard stand.

»Guten Morgen zusammen!« Malin öffnete zunächst eines der Fenster, ehe sie sich einen Kaffee einschenkte.

»Mahlzeit, Brodersen.« Andresen warf einen provozierenden Blick auf seine goldfarbene Armbanduhr. »Ausgeschlafen? Wir sind schon seit einer Stunde im Dienst. Trotz Wochenendes.«

Malin ignorierte den Spruch und rutschte auf den Platz neben Tiedemann.

»Gut, wo wir jetzt endlich vollständig sind, können wir anfangen«, brummte Fricke mit einem Blick auf sein jüngstes Teammitglied.

»Sorry für die Verspätung, Chef.« Malin zog ihr Notizbuch aus der Umhängetasche. »Ich komme gerade von Ilse Wenninger.«

»Ach. Lass hören.«

Sie fasste ihr Gespräch mit der Schwester des Opfers zusammen.

Fricke sah sie interessiert an. »Wie ist deine Einschätzung, Brodersen? Hältst du es für möglich, dass Ilse Wenninger mit dem Mord an ihrem Bruders etwas zu tun hat?«

»Es könnte durchaus sein«, entgegnete Malin. »Zumindest scheint sie mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten. Vielleicht erfahren wir von ihrer Tochter mehr.«

»Wir werden noch heute mit ihr sprechen.« Fricke wandte sich an seinen Stellvertreter. »Wie ist euer Besuch bei diesem Pfeifenclub gestern Abend gelaufen?«

»Relativ unaufgeregt.« Tiedemann zog sein Notizbuch zu sich heran. »Wir waren gegen einundzwanzig Uhr im Admiral. Siebzehn Mitglieder des Pfeifenclubs waren anwesend, übrigens allesamt Männer zwischen fünfzig und achtzig. Sie nennen sich Schmauchfreunde.«

»Schmauchfreunde?« Fricke schmunzelte. »Wie haben sie auf den Mord an Wenninger reagiert?«

»Die meisten wirkten betroffen, einige waren regelrecht schockiert.«

»Hat sich jemand dazu geäußert, was an besagtem Dienstag vor zwei Wochen vorgefallen ist?«

Tiedemann kratzte sich hinter dem Ohr. »Angeblich hat es nie einen Vorfall gegeben. Wenninger soll an dem Abend bereits angetrunken in der Gaststätte aufgetaucht sein. Mit jedem Pils sei er dann streitlustiger geworden.«

»Ist das schon häufiger vorgekommen?«

»Es war wohl das erste Mal«, entgegnete Tiedemann. »Wenninger soll das Clubtreffen vorzeitig verlassen haben. Kurz vor Mitternacht. Das deckt sich mit der Aussage des Kochs. Die restliche Gruppe ist noch bis halb eins geblieben.«

»Habt ihr irgendetwas Interessantes über Wenninger erfahren? Etwas Persönliches?«

Tiedemann schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir sollten mit den Mitgliedern einzeln sprechen. Vor einer Gruppe redet es sich nicht so leicht. Wir haben die Personalien der Anwesenden aufgenommen. Allerdings gibt es noch weitere Mitglieder.«

Andresen schnalzte. »Also, wenn ihr mich fragt – das war ein ganz merkwürdiger Haufen.«

»Merkwürdig inwiefern?«, hakte Fricke nach.

»Möglicherweise habe ich eine falsche Vorstellung von einem Pfeifenclub, aber ich hatte immer ein Bild von einer Gruppe gemütlich rauchender Rentner vor mir.« Andresen zwirbelte an seinem roten Schnauzer. »Unter den Pfeifenheinis waren einige äußerst schmierige Typen. Kann nicht schaden, bei denen ein wenig auf den Busch zu klopfen.«

Fricke nickte. »Haben die auch eine Art Gruppenleiter?«

Tiedemann sah in sein Notizbuch. »Ein gewisser Wolfgang Herzog. Allerdings war er bei dem gestrigen Treffen nicht dabei.«

»Also gut. Dann würde ich sagen, ihr klappert schon mal die Mitglieder ab, von denen ihr die Personendaten bereits habt. Ich sehe zu, dass ich ein bis zwei weitere Leute kriege, die uns unterstützen, sobald wir die komplette Mitgliederliste haben. Hast du die Adresse von diesem Herzog, Ole? Um den Herrn möchte ich mich persönlich kümmern.«

»Ich habe seinen Namen bereits durch den Computer gejagt.« Tiedemann reichte seinem Vorgesetzten ein Blatt Papier mit Notizen.

Fricke runzelte die Stirn. »Der Mann ist Anwalt? Hatten wir davon nicht schon im Fall Althoff mehr als genug?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Brodersen, du begleitest mich zu Herzog. In zwei Stunden geht es los. Hat sonst noch jemand was? Frank, gibt es was Neues aus der Kriminaltechnik?«

Glaser nickte. »Sämtliche DNA-Spuren, die wir in Wenningers Haus sichergestellt haben, stammen vom Opfer.« Er nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit einem Zipfel seines Hemds. »Aus der Waffenabteilung gibt es ebenfalls Neuigkeiten. Die Kollegen haben sich die Projektile vorgenommen. Demnach haben wir es mit Neun-Millimeter-Patronen zu tun.«

Fricke seufzte. »Eines der gängigsten Kaliber. Das macht die Sache nicht unbedingt leichter.«

»Vielleicht doch.« Glaser setzte seine Brille wieder auf. »Die Untersuchungen und Tests sind noch nicht abgeschlossen, aber fest steht, dass es sich nicht um eine der standardisierten Patronen handelt, die Anfang der Achtziger auf den Markt gekommen sind.«

»Wann wissen wir mehr?«, hakte Fricke nach.

»Nicht vor Montag.«

»Seid ihr schon mit der Rasensache weiter?«

»Wir sind dran«, erwiderte Glaser kurz.

Malin fiel ein, was ihr der Postbote am Vortag hinterhergerufen hatte. »Stefan Biedermann hat da so eine Bemerkung gemacht. Er meinte, wir sollen den Rasen mähen.«

Andresen gluckste. »Der hat ja wohl einen Schuss.«

Malin wollte gerade zustimmen, als sie eine Wandlung im Gesicht des Kriminaltechnikers bemerkte. Frank Glasers Miene erhellte sich. Er murmelte einen Abschiedsgruß, erhob sich und verschwand ohne ein erklärendes Wort aus dem Besprechungszimmer.

»Was war das jetzt?« Malin starrte erstaunt auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

Wolfgang Herzog wohnte in einem der aufwendig restaurierten Jugendstilhäuser am Hofweg in unmittelbarer Nähe zum Uhlenhorster Kanal. Am Eingang des Mehrfamilienaltbaus wies ein goldfarbenes Schild auf seine Anwaltskanzlei im Erdgeschoss hin.

»Praktisch.« Malin drückte die Klingel zu Herzogs Privatwohnung im fünften Stock. »Wohnen und arbeiten im gleichen Haus.«

»Wer’s sich leisten kann«, brummte Fricke und folgte seiner Mitarbeiterin in ein repräsentatives Treppenhaus mit Stuckverzierungen und marmorierten Wänden zu einem Jugendstilaufzug. Skeptisch beäugte er die schmiedeeisernen Gitter. »Der sieht so alt aus wie das Gebäude. Vielleicht sollten wir lieber die Treppe nehmen.«

Malin stieg in den Lift. »Mensch, Chef, du bist jetzt wie lange bei der Polizei? Seit dreißig Jahren?«

»Zweiunddreißig«, knurrte Fricke.

»Und da lässt du dich von einem alten Fahrstuhl aus der Ruhe bringen?«

Das saß. Mit grimmigem Blick trat Fricke neben Malin und drückte den Knopf in den fünften Stock.

Herzogs Wohnung erstreckte sich über die gesamte Fläche der obersten Etage. Eine gertenschlanke, hochgewachsene Frau öffnete ihnen die Tür. Sie war eine dieser alterslosen Schönheiten, die als Ende vierzig durchgingen, in Wirklichkeit aber bereits über sechzig waren.

Fricke zückte seinen Dienstausweis. »Fricke, LKA.« Er wies auf Malin. »Meine Kollegin Brodersen.«

»Verena Herzog. Was kann ich für Sie tun?« Ihre Stimme klang kraftvoll und selbstbewusst. Malin spürte sofort, dass sie es mit einer Frau zu tun hatten, die es gewohnt war, herumzukommandieren.

»Wir möchten mit Wolfgang Herzog sprechen«, erwiderte Fricke. »Ist er da?«

Für einen Moment erschien ein spöttischer Ausdruck in Verena Herzogs Augen. Dann trat sie beiseite, um die beiden Kriminalbeamten eintreten zu lassen. »Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer.«

Die lichtdurchflutete Wohnung besaß alle Elemente eines klassischen Jugendstil-Altbaus: hohe Decken mit prächtigem Stuck, alte, aufgearbeitete Kassettentüren und glänzendes Fischgrätparkett.

»Hier entlang.« Verena Herzog führte sie durch ein großzügig geschnittenes Wohnzimmer, mit hellen Möbeln und einem offenen Kamin, zu einer geöffneten Flügeltür. »Wolfgang, du hast Besuch. Polizei.«

Malin bemerkte überrascht die Kälte, die sich in Verena Herzogs Stimme geschlichen hatte.

Der Anwalt war um die siebzig, hatte silbergraues Haar und trug eine klassisch elegante Kombination aus weißem Hemd und dunkelblauer Anzughose. Er wirkte äußerst gepflegt, doch im Gegensatz zu seiner Frau war ihm das Alter deutlich anzusehen. Der Ansatz eines Doppelkinns, Tränensäcke und tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Beim Anblick der beiden Kriminalbeamten erhob er sich hinter seinem Schreibtisch. »Polizei?«

Fricke nickte und stellte sich und Malin kurz vor.

Wolfgang Herzog wies auf eine kleine Sitzgruppe neben der Flügeltür und wartete, bis die Beamten Platz genommen hatten, ehe er sich dazusetzte. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Ich nehme an, Sie kommen wegen Kurt Wenninger.«

»Ach«, sagte Fricke überrascht. »Man hat Sie bereits informiert? Seit wann wissen Sie Bescheid?«

»Ein Bekannter aus dem Pfeifenclub hat mich angerufen.« Herzog schlug die Beine übereinander. »Eine schreckliche Sache. Weiß man schon, wer es war?«

»Ich kann Ihnen leider keine Auskunft zu einer laufenden Ermittlung geben«, entgegnete Fricke. »Aber als Anwalt wissen Sie das vermutlich. Seit wann kannten Sie Herrn Wenninger?«

Herzog dachte nach. »Das kann ich Ihnen gar nicht so genau sagen, bestimmt schon über zwanzig Jahre. Wir frönen der gleichen Leidenschaft.« Er wies auf eine hölzerne Pfeifenkassette auf seinem Schreibtisch.

Fricke nahm den Faden auf. »Seit wann gibt es die Schmauchfreunde?«

»Der Club wurde in den Achtzigern gegründet. Von Ernst Westphal, doch der ist bereits seit etlichen Jahren tot. Wenninger war schon Mitglied, bevor ich dazugestoßen bin.«

Malin ließ ihren Blick durch das exklusiv ausgestattete Arbeitszimmer des Anwalts schweifen, bevor sie aussprach, was ihr seit Betreten der Wohnung auf der Zunge lag. »Sagen Sie, Herr Herzog, wie kommt es, dass sich die Schmauchfreunde ausgerechnet in einer Gaststätte wie dem Admiral treffen?«

Wolfgang Herzog lachte amüsiert auf. »Das haben Sie aber höflich formuliert, Frau Brodersen. Im Grunde interessiert es Sie doch eher, warum ein offenbar wohlhabender Mann wie ich es nötig hat, sich in einer solchen Kaschemme aufzuhalten?«

Malin spürte, wie sie errötete. »Genau das würde ich gerne von Ihnen wissen.«

Herzog lehnte sich zurück. »Ich lege keinen Wert auf eine exklusive Umgebung oder irgendwelche Statussymbole. Ich bin kein Snob, Frau Brodersen, auch wenn Ihnen das vermutlich schwerfällt zu glauben. Was Sie hier sehen …« Er machte eine weit ausholende Handbewegung durch den Raum. »Das alles gehört meiner Frau. Nicht nur diese Wohnung und die Kanzleiräume, sondern das gesamte Haus, auch der Stuhl, auf dem Sie gerade sitzen.« Er hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach. »Bei den Schmauchfreunden spielen Herkunft und gesellschaftliches Ansehen keinerlei Rolle, und genau das gefällt mir. Wir reden, diskutieren, spielen Karten, trinken unser Bier oder unseren Wein und hin und wieder rauchen wir gemeinsam eine Pfeife.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Und was das Admiral als Treffpunkt betrifft, so hat das rein praktische Gründe. Einige unsere Mitglieder wohnen im Hamburger Umland, und Langenhorn hat eine gute Anbindung zur Autobahn. So einfach ist das.«

Fricke beugte sich vor. »Und bei einem dieser Treffen, die Sie uns hier gerade als gemütliches Pfeifenkränzchen verkaufen, kracht es dann so gewaltig, dass eines Ihrer Mitglieder sturzbetrunken nach Hause fährt und anschließend dort ermordet wird.«

Herzog wurde stocksteif. »Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, Herr Fricke.«

»Bei einem Ihrer Treffen, um genau zu sein am Dienstag, dem fünften August, ist es zu einem Streit gekommen. Dabei soll es mehr als laut zugegangen sein. Dafür gibt es Zeugen.« Frickes Stimme war eine Spur schärfer geworden. »Also?«

»Das muss ein Missverständnis sein.« Herzog hob abwehrend beide Hände. »Ich war an dem Abend selbst dabei. Möglicherweise haben wir etwas lauter diskutiert und Kurt hat ein Glas zu viel getrunken. Aber mehr war da nicht. Wenn Kurt zu einem späteren Zeitpunkt aufgebracht war, muss es dafür andere Gründe geben.«

»Und worüber haben Sie diskutiert?«, hakte Fricke nach.

»Das kann ich Ihnen gar nicht mehr so genau sagen. Vermutlich ging es um Politik. Kurt konnte sich furchtbar über die Regierung und deren Änderungspläne in Bezug auf die Rentenbeiträge aufregen.«

»Wer könnte Ihrer Meinung nach einen Grund gehabt haben, Kurt Wenninger zu ermorden?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Herzog entfernte von seinem linken Hosenbein einen imaginären Fussel. »Das Ganze ist für mich absolut unbegreiflich.«

Fricke lehnte sich mit ausdrucksloser Miene wieder zurück. Malin ergriff das Wort. »Was können Sie uns sonst noch über Herrn Wenninger erzählen?«

»Er war ein anständiger Kerl.« Herzog legte bedächtig seine Fingerspitzen aneinander. »Mit einer besonderen Vorliebe fürs Botanische.«

»Waren Sie mal bei ihm zu Hause?«

»Nein. Die Schmauchfreunde treffen sich ausschließlich an den Clubabenden. Darüber hinaus gibt es keinen privaten Kontakt. Deshalb kann ich Ihnen leider auch gar nicht allzu viel über Kurt erzählen. Bis auf die politischen Diskussionen, die ihn manches Mal in Rage brachten, war er eher der verhaltene Typ.«

Fricke räusperte sich. »Wussten Sie, dass Kurt Wenninger lange Zeit in Ost-Berlin gelebt hat?«

»Nein, das wusste ich nicht.« Herzog lächelte. »Aber wie gesagt, Herkunft spielt bei uns keine große Rolle.«

»Wie finden eigentlich neue Mitglieder zu Ihnen?«, fragte Malin. »Ich habe im Internet keine Homepage oder einen anderen Hinweis auf die Schmauchfreunde gefunden.«

»Wir sind eine geschlossene Gruppe.«

»Und die Miete für den Clubraum?«, hakte Malin nach. »Wer bezahlt die?«

»Jedes Mitglied zahlt einen Jahresbeitrag, von diesem Geld wird die Raummiete beglichen.«

Malin dachte an die Aussage des Wirts. »Und die bezahlen Sie in bar, ohne Belege?«

Wolfgang Herzog wirkte irritiert. »Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrer Frage bezwecken, doch wenn das ein Versuch werden soll, mir irgendwelche steuerlichen Mauscheleien zu unterstellen, muss ich Sie leider enttäuschen. Die Schmauchfreunde sind kein eingetragener Verein. Wir sind weder auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet, noch streben wir sonstige steuerbegünstigte Zwecke an. Somit ist eine geordnete Aufzeichnung nicht nötig. Der Pfeifenclub dient unserem reinen Privatvergnügen.« Er ging zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade, aus der er einen Ordner in DIN-A5-Format herauszog, den er Malin reichte. »Herr Lenz hat auf Barzahlung bestanden. Und natürlich habe ich eine Quittung verlangt. Nicht nur als Anwalt bin ich lieber auf der sicheren Seite, sondern ich möchte gegenüber den anderen Mitglieder auch Rechenschaft ablegen können, für den Fall, dass es notwendig sein sollte.«

Malin öffnete den Ordner und stellte beim Durchblättern fest, dass die Belege über mehrere Jahre zurückreichten. Sie gab ihn an ihren Chef weiter.

Fricke warf einen Blick hinein und legte ihn auf den Tisch. »Wir brauchen eine Liste mit den Namen und Adressen sämtlicher Mitglieder der Schmauchfreunde.«

»Dafür benötigen Sie einen Beschluss.« Wolfgang Herzog verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kann ich aus Ihrer Reaktion schließen, dass Sie etwas zu verbergen haben?« Frickes Blick ruhte auf dem Anwalt.

Herzogs Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich stelle Ihnen die Liste zusammen und lasse Sie Ihnen zukommen.«

»Vielen Dank.«

Verena Herzog erschien in der Tür. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee oder ein Wasser?«

Ihr Mann erhob sich aus seinem Sessel. »Die Herrschaften wollten gerade gehen.«

Malin und Fricke tauschten einen Blick und standen auf.

»Ich bringe Sie zur Tür.« Verena Herzog drehte sich um. Im letzten Augenblick sah Malin das selbstgefällige Lächeln, das die Lippen der Anwaltsgattin umspielte.

Das Sandmann-Projekt

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